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Öffentliche Meinung und Presse

4.6.2 Görres’ „Athanasius“

4.6.2.1 Die diskursprägende Organologiemetaphorik

4.6.2.1.1 Der organische Aufbau und die kraftgesteuerte Entwicklung der politischen und sozialen Gebilde

Görres bietet in seinem Athanasius eine triebgesteuerte Entwicklungstheorie, deren wesentliche Komponenten er explizit ausführt. Das von ihm postulierte Entwicklungsgesetz bezieht sich diskurstypisch auf die moderne Vorstellung des Organismus, der bei ihm aus sich gegenseitig durchdringenden, jedoch eigenwertigen

Gegensätzen besteht und der die Struktur der Welt mit all ihren Erscheinungen prägt: „[...] im ganzen Umkreise des Daseins, im Himmel wie auf Erden, stehen nirgendwo nackte, schroffe, ganz und gar von einander gelöste und unvermittelte Gegensätze einander sich entgegen [...]. Es ist vielmehr durch alle Gebiete der Wirklichkeit also beschaffen, daß die Entgegenstetzungen gegenseitig sich durchdringen, sich in mancherlei Verhältnissen binden, mildern und mäßigen; wo denn statt des einen schreienden und toten Widerspruchs, die ganze Fülle gebundener Wirksamkeiten und Gegenwirksamkeiten sich entwickelt, in deren Spiele alles Leben sich in seinem gedeihlichen Ablauf äußert.“1203 Dieses Verhältnis der Gegensätze unterliegt nach Görres verschiedenen Phasen, in denen die Gegensätze zu bestimmten Zeiten schroff auseinander treten, sich aber anschließend wieder neu und noch intensiverer durchdringen würden: „Den Zeiten der Zersetzung folgen also nach ewigen Weltgesetzen andere Zeiten der Wiederbildung und neuer Gestaltung; und jene sind nur eingetreten, um diese möglich zu machen.“1204 Dieses „Natur“-Gesetz gelte nicht nur für die physische, sondern auch für die moralische Welt1205. Wie die Autoren der historisch-politischen Blätter beruft sich Görres als Gewähr für die Gültigkeit dieser Naturgesetze auf Gott1206.

Görres entwirft mit der Hilfe der Organologiemetapher eine ähnliche Erzählung wie die Autoren der historisch-politischen Blätter. Auch er beschreibt die Entwicklung bis zum Mittelalter als gesund und weitgehend

vollkommen. Ab der Reformation schlage sie jedoch in einen Krankheitsprozess um, der aufgrund des zu Grunde liegenden Entwicklungsgesetzes - und hier unterscheidet Görres sich von den Autoren der historisch-politischen Blätter - sicher in der Heilung der Zustände enden werde. Bis zum Mittelalter entsprächen dabei Kirche und Staat in ihrer gegenseitigen Durchdringung dem „organischen“ Lebensideal Görres. „[...] denn die ganz

1202„Über die vorherrschenden Tendenzen der Gegenwart“, (Jarcke), HPBl 12 (1843/2) Art. 39, S. 396.

1203Görres, Athanasius, S. 593f.

1204Görres, Athanasius, S. 705.

1205Görres, Athanasius, S. 702.

1206Görres, Athanasius, S. 706: „Gott aber hat die Ordnung allein als das wahrhaft Bleibende bejaht, und so bleibt sie in alle Ewigkeit selbst in Mitte der Unordnung als das einzig wahrhaft Bestehende bejaht und festgestellt.“

christliche soziale Ordnung ist vom Anfang an auf dies gänzliche Durchdringen und Durchwachsen der beiden Sozietäten gebaut gewesen [...]. Alles Bestreben früherer, besonnener Zeiten ist darauf hingegangen: dies lebendige Durcheinanderspielen zu fördern, nach allen Richtungen durchzuführen, das wechselseitige Nehmen und Geben zu ordnen, und das Durchgeführte und Geordnete in der rechten Schwebe festzuhalten. In den Institutionen durchdrangen sich daher möglichst beide Elemente; die Kirche war in ihren Prälaten bei allen bedeutenderen Vorkommnissen gegenwärtig, wie auch die kirchlichen Transaktionen, in so fern sie den Staat berührten, diesem sich nicht verbergen mochten; an Konflikten hat es zwar nicht gefehlt, aber überall waren die Mittel gegeben, sie in einer dem Ganzen gedeihlichen Weise zu beseitigen.“1207

Diese Durch- und Ausbildung sei „in diesen frühen Zeiten“ durch „natürliche Bildungskräfte und Instinkte“

getragen gewesen1208. Sie habe - eingeschränkt durch die Schwäche der menschlichen Natur1209 - zu einem weitgehend idealen Organismus geführt: „Die Staatsordnung, die auf diesem ihrem Grunde in jenen Zeiten sich erbaut, wenn sie auch nicht ganz ihr Vorbild erreicht, hat doch das schwierigere Problem in einer Weise gelöst, daß bei aller Unvollkommenheit die späteren Versuche zur Zeit noch nichts ihr auch nur von weitem

Beikommendes hervorgerufen. Freiheit und Gebundenheit, Herrschaft und Dienstbarkeit, Vorrechte und Leistungen im politischen; Berechtigungen und Pflichten, selbstständige Unabhängigkeit und gesetzliche Verbindlichkeit, Eigenwille und Unterwerfung im rechtlichen Gebiete; Anspruch der Gesamtheit und des Individuums, öffentliches Eigentumsrecht und besonderes im Besitzstand: das alles konnte vermöge des Prinzipes in so glücklicher Mischung in dieser Ordnung sich verbinden, daß das Ganze in freiester Bewegung, und doch auf gewiesenen Wegen in seinem Kreise sich bewegen mochte, ohne gegenseitig sich zu stören und zu irren; und alles zwischen gemütlicher Anhänglichkeit an die Gewohnheit des Herkömmlichen und vorstrebender, keck ausholender Kraft, innerhalb eines bestimmten rhythmischen Maßes festgehalten, auch nach außen in seinen historischen Bahnen mit gemacher Eile vorschreiten konnte.“1210

Diese lebendige, sich ideal entfaltende Ordnung wurde dann aber von „politischen und kirchlichen Sekten“

zerstört und in eine krankhafte Entwicklung gelenkt: „Erst seit dem das System rationalistischer Abstraktionen durch die politischen und kirchlichen Sekten aufgebracht worden, und nun, was auf immer verbunden sein sollte, nach entgegengesetzten Seiten aus einander gehend sich von einander abgelöst, und in Folge dessen der Staat die Kirche in einer monströsen Weise überflügelt, hat gegenseitiges Anfeinden aus dieser Trennung sich entwickelt;

[...]. Darüber aber ist die ganze soziale Ordnung zu Grund gegangen; die Kirche hat sich aus den erkaltenden Extremitäten in ihren schlagenden Herzpunkt zurückgezogen; der Staat hat scheinbar gewinnend die verlassenen Gebiete in Besitz genommen, was er aber an äußerer Ausbreitung gewonnen, das hat er zehnfach wieder an die Revolution verloren; denn aller intensiven Macht entbehrend, ist er in Aufgeblasenheit hohl und lebensmatt und kraftlos worden; so daß der Windzug irgend einer neuen Lehre ihn wie eine Wolkengestalt mit sich hinnimmt, und Aufstände der kleinsten Minoritäten ihm gefährlich und verderblich werden.“1211 „Diese Tatsache hat wohl früher sich schon begründet; aber sie hat sich in der Reformation ausgebildet, und in der Revolution

1207Görres, Athanasius, S. 594; ähnlich auch ebenda S. 667.

1208Görres, Athanasius, S. 669.

1209Görres, Athanasius, S. 659.

1210Görres, Athanasius, S. 659.

1211Görres, Athanasius, S. 594f.

vollführt[...].“1212 Aus diesem Entzweiungsprozess sind laut Görres auch die politischen Parteien hervorgegangen1213.

Sein Entwicklungsgesetz anwendend, gibt Görres die Welt jedoch nicht verloren: „[...] so stehen die

Konfessionen und die politischen Parteien, die Stände und die Interessen wie die Prinzipien ohne Bindung und Vermittlung einander sich entgegen. Das ist die Lage der Dinge, wie sie in den letzen Zeiten sich gestaltet, in wenig Strichen, aber kenntlich genug dargestellt. Und solcher bestandloser Unbestand, meinen nun jene, werde bleibenden Bestand gewinnen, und auf die Dauer sich befestigen. Da müßte doch das wachende Auge der Vorsehung erblindet sein, und mit den ewigen Gesetzen der physischen Welt müßten auch die der moralischen alle Geltung verloren haben“1214. „So also deuten alle Zeichen, daß das Äußerste der Scheidung und Auflösung schon erreicht, und daß die getrennten Richtungen, die seither aus einander geschwankt, jetzt gegen einander zu gehen angefangen, und die Bewegung, die sie ergriffen, sie nun fortdauernd mehr und mehr zusammenführt.

Denn der Geist von oben, der die Kirche überschwebt, hat bei aller Ausweichung, die er gestattet, die höhere Einheit in ihr festgehalten [...]“1215.

Als markanten Wendepunkt sieht er die Reaktionen auf das Ereignis um den Kölner Erzbischof von 1837, dem er – indem er es in diesen universellen Entwicklungszusammenhang einbettet – weltgeschichtliche Dimension zuweist: „So hat die Vergangenheit also abgeschlossen mit der Gegenwart, und die Zukunft hebt unter einem andern Gestirne an. Das eben ist die Bedeutung der Tatsache, die unsere Aufmerksamkeit jetzt beschäftigt: daß in ihr dieser Abschluß zu Tage getreten, und ihr jenen universalhistorischen Charakter eingeprägt, der sie sogleich bei ihrem Hervortreten zu einer europäischen Angelegenheit gemacht. Wie nämlich die gegen den Erzbischof geübte Gewalt, in der sich der abstrakte Staat und die abstrakte Kirche in gemeinsamem Angriff auf die Kirche des lebendigen Worts begegnet, jetzt am Ablaufe der Zeit die äußerste Spitze gewesen, in die das seither herrschende Wesen ausgegangen; so hat die große geistige Bewegung, die darauf erfolgt, und auf der Höhe derselben die Allokution des Oberhauptes dieser Kirche, die erste Botschaft gebracht, die das Nahen einer anderen Zeit, und eines anderen Geistes, der in ihrem Geleite geht, uns angemeldet.1216

4.6.2.1.2 Das Geschlecht und die politischen und sozialen Gebilde

Zum Geschlechterverhältnis macht Görres mit Hilfe der von ihm verwendeten Organologiemetaphorik keine Aussagen.

4.6.2.2 Der politische Entwurf

Görres beruft sich auf die von ihm formulierten Entwicklungsgesetze, um plausibel zu machen, dass ein Idealstaat in nicht zu ferner Zukunft Wirklichkeit werde. Er betont jedoch, dass die alten Formen für dessen Ausbildung nicht taugen würden, man die neuen aber noch nicht kenne1217. Es sei des ungeachtet sicher, dass der

1212Görres, Athanasius, S. 595.

1213Görres, Athanasius, S. 662.

1214Görres, Athanasius, S. 702

1215Görres, Athanasius, S. 704f.

1216Görres, Athanasius, S. 706f.

1217Görres, Athanasius, S. 706.

Kirche für diese Neubildung zentrale Bedeutung zukomme, da sie sich trotz aller Wandlungen als stabiler Anker erhalten habe und - organologisch metaphorisiert - fruchtbar für Neues geblieben sei: „Während dem ganzen Verlaufe der Periode retrograder Bewegungen hat er diese seine Kirche daher in ihrem Wesen und in ihren Prinzipien unverändert und wandellos bewahrt, damit das Bewegte, Flüchtige zu aller Zeit wieder seinen Halt an ihr finden möge. Zugleich aber hat er ihrer Äußerlichkeit auch die ihr einwohnende Fruchtbarkeit erhalten, damit sie in ihr stets sich entwickelnd, weiter entfaltend, fortbildend, erweiternd allen Zeiten immer gerecht bleiben möge. Indem sie nun mit diesen ihren äußeren stets wechselnden Entfaltungen ihres inneren, sich immer gleichen Wesens, in den gemischten Institutionen den Persönlichkeiten und den sozialen Gliederungen sich eingiebt, erfährt sie allerdings das Los der Sterblichkeit, und wie die irdischen Formen wechseln, welken, dorren und vergehen nun allerdings diese Wurzeln, die sich aus ihr in sie versenkt, und das ihnen einwohnende Leben kehrt zu seiner Quelle zurück. Aber andrerseits versiegt auch ihre Bärkraft nie, und haben die Geister, nachdem sie lange auf dem absteigenden Wege hingegangen, sich wieder dem aufsteigenden zugewendet, dann beginnt so in der Kirche, wie durch sie in ihnen, indem sie ihr wieder nahen, ein reiches Sprossen und Treiben, und indem die getriebenen Fäden in einander wachsen, bildet sich für die neue Geburt auch eine neue Plazenta und die Umhüllung, in der sie bis zur Reife getragen wird.“1218

1218Görres, Athanasius, S. 705.