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Forschungsgegenstand: Auflagen zur Schadenminderung

2.1.1 Gegenstand

Das schweizerische Sozialversicherungsrecht verpflichtet die versicherte Person, alles ihr Zumut-bare zu unternehmen, um die Dauer und das Ausmass einer Arbeitsunfähigkeit zu verringern und so den Eintritt der Invalidität zu verhindern (Art. 21 Abs. 4 ATSG; Art. 7 Abs. 1 IVG). Dieser Grundsatz der Schadenminderungspflicht konkretisiert sich unter anderem darin, dass die IV-Stelle im Zusammenhang mit einer Leistung der versicherten Person zusätzliche Auflagen machen kann.

Damit fordert sie die versicherte Person zu einer bestimmten Verhaltensweise auf, welche nach Beurteilung der IV-Stelle geeignet ist, den Schaden zu mindern. Typische Inhalte von Auflagen zur Schadenminderung sind folgende:

Rente: Ist z.B. bei einer IV-Rentnerin zu erwarten, dass eine bestimmte medizinische Be-handlung zu einer gesteigerten Erwerbsfähigkeit führt, so kann ihr die IV-Stelle das Befol-gen einer solchen medizinischen Behandlung auferleBefol-gen.

Eingliederung: Bei einer Eingliederungsmassnahme wie z.B. einer Umschulung, wird die IV-Stelle voraussetzen, dass die versicherte Person an dieser vollständig und engagiert teil-nimmt. Wenn sie Hinweise hat, dass diese engagierte Teilnahme nicht erfolgt, kann sie dies mittels einer Auflage explizit einfordern.

2.1.2 Materiellrechtliche Schranken

Materiellrechtlich beschränkt wird der Rahmen der zulässigen Auflagen in erster Linie durch das Verhältnismässigkeitsprinzip, insbesondere in seinem Teilgehalt der Zumutbarkeit. Gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG ist lediglich eine Gefahr für Leib und Leben nicht zumutbar, jedoch sind gemäss Lehre und Rechtsprechung für die Beurteilung der Zumutbarkeit grundsätzlich die gesamten Um-stände des jeweiligen Einzelfalls zu würdigen (Wehrli 2015: 46; Landolt 2007: 220 ff.).

2.1.3 Mahnung und Sanktion

Ist die versicherte Person mit der von der IV eingeforderten schadenmindernden Verhaltensweise einverstanden, wird sie sich entsprechend verhalten. Möglicherweise wird in diesem Fall die ver-langte Verhaltensweise protokollarisch festgehalten oder gar nichts vereinbart. So dürfte z.B. die aktive Teilnahme an einer beruflichen Massnahme für viele Versicherte eine Selbstverständlichkeit sein.

Die IV-Stelle kann das schadenmindernde Verhalten aber auch schriftlich explizit einfordern, wenn sich die versicherte Person widersetzt (oder die IV-Stelle dies für wahrscheinlich hält). In diesem Fall kommt es zum sog. Mahn- und Bedenkzeitverfahren. Die so genannten Auflagen zur Scha-denminderung erfolgen in Form einer schriftlichen Aufforderung (Mahnschreiben), in welcher der Inhalt der Auflage beschrieben ist, eine angemessene Frist gesetzt wird und auf die Rechtsfolgen bei Nichteinhaltung hingewiesen wird. Die ausgesprochene Auflage ist damit für die versicherte Person bindend: hält sie sich nicht daran, vereitelt sie eine mögliche Minderung des Schadens. Dies wirkt sich negativ auf den Leistungsanspruch der versicherten Person aus. Die IV-Stelle wird als Sanktion eine Leistungskürzung verfügen, so wie wenn die versicherte Person die auferlegte Ver-haltensweise eingehalten hätte und der Schaden dadurch wie hypothetisch angenommen vermin-dert worden wäre. Hat die versicherte Person eine Rente, kann diese gekürzt oder eingestellt wer-den. Bei einer Eingliederungsmassnahme kann die Missachtung der Auflage zum Abbruch der Massnahme führen; denkbar sind in der Folge je nach Grund des Abbruchs die Prüfung einer alternativen Eingliederungsmassnahme, eine Rentenprüfung oder eine Leistungsablehnung.

Die per Mahnschreiben mitgeteilte Auflage selbst kann von der versicherten Person nicht ange-fochten werden, da es sich nicht um eine Verfügung handelt. Die versicherte Person kann rechtlich erst gegen die leistungsmindernde Verfügung Beschwerde erheben. Dabei kann sie z.B. argumen-tieren, die Auflage sei nicht zumutbar gewesen, weshalb sie diese nicht befolgt habe (Wehrli 2015:

113). Zuvor kann sie nach dem Vorbescheid der IV-Stelle eine Anhörung verlangen, um ihre Wei-gerung, die Auflage zu befolgen, zu begründen. Möglicherweise beschwert sie sich auch informell unmittelbar nach Erhalt des Mahnschreibens.

2.1.4 Abgrenzung von der Mitwirkungspflicht

Die Schadenminderungspflicht ist von der Mitwirkungspflicht abzugrenzen. Während die Scha-denminderung darauf abzielt, dass die versicherte Person den Invaliditätsgrad reduziert, zielt die Mitwirkungspflicht auf die korrekte Abklärung des Leistungsanspruchs (Wehrli 2015: 73-75). Die versicherte Person ist im Rahmen der Mitwirkungspflicht dazu angehalten, der Versicherung un-entgeltlich alle notwendigen Auskünfte zu erteilen (Art. 28 Abs. 2 ATSG) und sich soweit notwen-dig und zumutbar auch ärztlichen oder fachlichen Untersuchungen zu unterziehen (Art. 28 Abs. 2 ATSG). Auch die Mitwirkungspflicht kann die IV-Stelle wenn nötig mittels Mahn- und Bedenk-zeitverfahren (Art. 43 Abs. 3 ATSG) einfordern.

Je nach dem kann eine inhaltlich gleiche Auflage entweder der Mitwirkung oder der Schadenmin-derung dienen, so z.B. wenn die IV-Stelle der versicherten Person eine Alkoholabstinenz auferlegt:

Dabei handelt es sich um eine Mitwirkungspflicht, „wenn es darum geht, einen invaliditätsfremden Alkoholkonsum bei der Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auszublenden“. Wenn jedoch der Al-koholkonsum mit einer invalidisierenden Krankheit derart zusammenhängt, „dass eine Abstinenz unabdingbar ist, um die Progression der zusätzlichen Krankheit zu verhindern, kann ein Entzug als Eingliederungsmassnahme unter dem Titel der Schadenminderungspflicht in Frage kommen (beispielsweise bei einer invalidisierenden Leberschädigung)“ (BGer 9C_370/2013; vgl. auch Wehrli 2015: 74).

Die Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung der beiden Pflichten sind nicht identisch: Bei verletzter Scha-denminderungspflicht folgt wie beschrieben die Leistungskürzung oder -einstellung. Wenn die ver-sicherte Person ihre Mitwirkungspflicht verletzt, kann die IV-Stelle je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund der vorhandenen Akten über den Leistungsanspruch entscheiden oder einen Nichteintretensentscheid fällen (Art. 43 Abs. 3 ATSG, Rz. 7013ff. KSIH1). Bei letzterem ist die Wiederaufnahme des Verfahrens relativ einfach, sobald die Person wieder mitwirkt. Bei einer Ab-lehnung wird materiell-rechtlich über den Leistungsanspruch entschieden, was eine Neuanmeldung der versicherten Person erforderlich macht.

Aufgrund der unterschiedlichen möglichen Rechtsfolgen ist es somit relevant, ob eine Auflage un-ter dem Titel der Schadenminderung oder der Mitwirkung gemacht wird. Aus rechtlicher Sicht scheint die Unterscheidung zwischen Mitwirkungspflicht und Schadenminderungspflicht zwar klar.

Im Verlauf des Forschungsprojekts ergaben sich jedoch Hinweise, dass IV-Stellen in der Praxis teils Konstellationen antreffen, in denen die Zuordnung anspruchsvoll ist, und in denen diesbe-züglich Spielräume bestehen, die zugunsten oder zuungunsten der versicherten Person interpretiert werden können. Dieses Thema konnte jedoch nicht vertieft untersucht werden.

2.1.5 Auflagen zur Schadenminderung vor einer Leistungszusprache?

Die versicherte Person ist zur Schadenminderungspflicht nicht erst dann verpflichtet, wenn die IV einer versicherten Person eine Leistung zugesprochen hat, sondern schon vorher. Wehrli (2015:

12-16) spricht dabei von unmittelbarer Selbsteingliederung (im Gegensatz zur angeordneten Selbst-eingliederung) und nennt als Beispiele den Berufswechsel, eine Gewichtsreduktion, einen Drogen-entzug, die Überwindung von Schmerzen oder die Inanspruchnahme der Hilfe von Familienmit-gliedern. Grundsätzlich zählen auch medizinische Heilbehandlungen dazu.

Aus rechtlicher Sicht ist eine formell per Mahn- und Bedenkzeitverfahren auferlegte Schadenmin-derung in diesen Situationen, also vor einer Leistungszusprache nicht vorgesehen. Die IV-Stelle kann hier je nach Situation mit der Prüfung des Leistungsanspruchs warten, bis die Person die Schadenminderung vorgenommen hat, oder das Gesuch ablehnen, wenn sie keine leistungsbegrün-dende Invalidität sieht. Voraussetzung für die Feststellung des Invaliditätsgrads ist ein zumindest mittelfristig stabiler Zustand. Eine mögliche Entlastung der versicherten Person durch Familien-mitglieder kann die IV-Stelle gestützt auf die Haushaltabklärung bei der Berechnung des Invalidi-tätsgrads berücksichtigen, analog gilt dies auch, wenn Hilfsmittel die Einschränkung vermindern können.

Aufgrund von Hinweisen aus den Vorabklärungen für die Feldphase (Sondierungsgespräche, Au-dit-Berichte des Bundesamts für Sozialversicherungen), war davon auszugehen, dass ein Teil der IV-Stellen auch vor einer Leistungszusprache Mahn- und Bedenkzeitverfahren unter dem Titel der Schadenminderungspflicht durchführen. Die Frage, wie dies konkret gehandhabt wird, wurde des-halb in der Studie mitberücksichtigt.

1 Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH).