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Bewährte Vorgehensweisen der Umsetzung

Die oben beschriebenen Befunde zeigen, dass Auflagen zur Schadenminderungspflicht nicht nur relativ selten eingesetzt werden, sondern auch ein anspruchsvoll zu handhabendes Instrumente der IV sind. Diese Einschätzung teilten auch die IV-Stellen in der durchgeführten Online-Befragung.

Es bestehen zwei Hürden: Sowohl, dass eine Auflage befolgt wird, als auch, dass die Befolgung wie angestrebt zu einer Verminderung des Invaliditätsgrads, resp. zum erfolgreichen Durchlaufen einer Eingliederungsmassnahme beiträgt, ist nicht gesichert. Nachfolgend werden Hinweise aus der Stu-die darüber zusammengetragen, welche Vorgehensweisen bei der Umsetzung sich besonders be-währt haben und damit potenziell zur Realisierung der erwünschten Wirkung beitragen. Die Hin-weise stützen sich auf die Einschätzungen und Erfahrungen der näher untersuchten IV-Stellen und Plausibilitätsüberlegungen der Forschenden. Zuvor werden Auflagen zur Schadenminderung vor einer Leistungszusprache thematisiert.

Unterschiede bezüglich Auflagen vor Leistungszusprachen

Ein Teil der IV-Stellen macht medizinische Auflagen zur Schadenminderung nur in Zusammen-hang mit einer gesprochenen Leistung. Eine Minderheit gab demgegenüber an, Auflagen bisweilen auch zu machen, ohne dass bereits eine Leistungszusprache erfolgt. Gemäss Aussagen von Mitar-beitenden der betreffenden IV-Stellen werden Auflagen vor einer Rentenzusprache aus psycholo-gischen Gründen tendenziell besser befolgt, und sind wirksamer. Zwei näher untersuchte IV-Stel-len haben diesbezüglich (unterschiedliche) Richtwerte darüber festgelegt, wie lange eine Behand-lung maximal dauern darf, damit während der BehandBehand-lung mit der Rentenzusprache zugewartet werden kann. Diese Praxisunterschiede zwischen den IV-Stellen bergen ein Potenzial zu Ungleich-behandlungen zwischen den IV-Stellen.

Abwägen der Zumutbarkeit und Verhältnismässigkeit medizinischer Auflagen, Qualitätssicherung

Ob eine medizinische Auflage verhältnismässig und zumutbar ist, ist von den IV-Stellen sorgfältig zu prüfen. Diese Prüfung ist oft nicht einfach, sind doch ex ante die erwartete Wirkung (und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens) sowie die möglichen Risiken für die versicherte Person gegen-einander abzuwägen. In den vier untersuchten IV-Stellen haben sich insbesondere folgende Vor-gehensweisen bewährt, um diese Anforderung erfüllen zu können. Die meisten erwähnten Vorge-hensweisen dienen auch auf allgemeinerer Ebene zur Qualitätssicherung und einem einheitlichen Vorgehen der Mitarbeitenden bei der Umsetzung:

Entscheidungshilfen für die Mitarbeitenden: Arbeitsanleitungen für die Mitarbeitenden kön-nen allgemeine Regeln und Entscheidungshilfen für die vorzunehmende Abwägung ent-halten, z.B. für bestimmte Kategorien von Auflagen (z.B. ambulante oder stationäre psy-chiatrisch-psychologische Behandlung, Operationen). Die konsultierten Materialien enthal-ten oft auch Definitionen und Abgrenzungskriterien der Auflagen zur Schadenminderung von Auflagen im Rahmen der Mitwirkungspflicht.

Schulung der Mitarbeitenden zum Thema Schadenminderung:In Schulungen können Arbeits-anleitungen und Regeln vermittelt und an konkreten Beispielen geübt werden.

Expertise und Vieraugenprinzip berücksichtigen: Aufgrund der Seltenheit von Auflagen er-schwert fehlende Routine bei den Mitarbeitenden trotz Schulungen und Arbeitsanleitungen den Abwägungsprozess. Die IV-Stellen begegnen diesem Risikofaktor, indem sie die not-wendige medizinische und versicherungsrechtliche Expertise und das Vieraugenprinzip in den Entscheidungsprozess über Auflagen einbauen. Beispiele hierfür sind die zwingende Konsultation des Rechtsdiensts oder beim RAD den zwingenden Einbezug der Abteilungs-leitung sowie die Orientierung der Auflagen an Leitlinien der medizinischen Fachgesell-schaften.

Spezialisierung: Eine grosse IV-Stelle hat zum Aufbau der nötigen Expertise und Routine im Zusammenhang mit Auflagen zur Schadenminderung eigens Spezialistinnen und Spe-zialisten eingeführt. Sie übernehmen die Fallführung und die Entscheidung, wenn eine Auf-lage zur Schadenminderung näher zu prüfen ist. Anders als in anderen IV-Stellen üblich, übernehmen sie z.B. die Vorschläge des RAD zur Formulierung des Auflageninhalts nicht direkt, sondern bringen in der Diskussion mit dem RAD die versicherungsrechtliche Sicht und die Kenntnis des Einzelfalls ein. Gemäss der betreffenden IV-Stelle hat diese Spezia-lisierung stark zu einer besseren Befolgung und einem Rückgang an Beschwerden nach Sanktionen beigetragen. Von Vorteil seien insbesondere das aufgebaute spezifische Wissen und die breite Erfahrung mit unterschiedlichsten Einzelfallkonstellationen, die sich bei die-sen Personen konzentriere.

„Gewinnen“ der versicherten Person in der Eingliederung

Im Eingliederungsbereich, der allgemein von einer engeren Zusammenarbeit zwischen der IV-Stelle, der versicherten Person und den weiteren involvierten Akteuren geprägt ist, sind auch bei

der Schadenminderung Vorgehensweisen verbreitet, mit denen die versicherte Person für eine schadenmindernde Massnahme „gewonnen“ werden soll. Folgende partizipativen Strategien haben sich diesbezüglich bewährt:

Einsatz milderer Mittel: Bevor das Mahn- und Bedenkzeitverfahren als ultima ratio ange-wendet wird, versucht die IV-Stelle die Person mit anderen Mitteln für die schadenmin-dernde Massnahme (etwa eine aktive Teilnahme) zu gewinnen: Persönliches Gespräch, evtl.

unter Einbezug des Durchführungspartners und weiterer Personen, Festhalten der Mass-nahme im Eingliederungsplan oder in der Zielvereinbarung, „hausinterne Sanktionierun-gen“ des Durchführungspartners.

Die versicherte Person gut kennen: Die im Eingliederungsverfahren prinzipiell gegebene Nähe zur versicherten Person ist ein Vorteil, um abschätzen zu können, welches Mittel in welcher Konstellation geeignet ist. Eine gute Kenntnis des Dossiers gibt Hinweise zur Zu-verlässigkeit (Vorgeschichte und medizinische Diagnose, Mitwirkung im bisherigen Ver-fahren) der versicherten Person. Eine verbindliche Beziehung zwischen IV-Fachperson und versicherter Person dürfte die Befolgung von schadenmindernden Massnahmen för-dern, und im besten Fall erlauben, auf ein formelles Mahn- und Bedenkzeitverfahren zu verzichten.

Durchführungspartner einbeziehen: Der Durchführungspartner ist bei einer Eingliederungs-massnahme in engerem Kontakt mit der versicherten Person als die IV-Stelle. Er verfügt somit über Informationen aus erster Hand über den Verlauf der Eingliederungsmassnahme und oft auch zur Einhaltung einer Schadenminderungsmassnahme. Die Pflege eines regel-mässigen Austauschs bewährt sich und gewährleistet einen guten Informationsfluss. Eine vertragliche Regelung der Informationspflicht bei mit institutionellen Anbietern z.B. von erstmaligen beruflichen Ausbildungen oder Integrationsmassnahmen oder Job Coaches kann dies absichern. Hilfreich dürfte auch eine gute Absprache der Kommunikation mit der versicherten Person sein.

Behandelnden Arzt/behandelnde Ärztin „im Boot haben“: Für die Befolgung einer medizini-schen schadenmindernden Massnahme ist es hilfreich, wenn die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt diese mitträgt und diese der versicherten Person erklären und plausibel machen kann. Hierfür kann eine Kontaktaufnahme seitens der Eingliederungsfachperson oder des RAD hilfreich sein, v.a. wenn aus den Unterlagen nicht ersichtlich ist, ob die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt auch auf diese Behandlung tendiert.

„Gewinnen“ der versicherten Person im Rentenbereich

Im Rentenbereich, wo medizinische Auflagen im Vordergrund stehen, beschrieben die IV-Stellen weniger Strategien, um die versicherte Person für die Befolgung einer Auflage zur Schadenminde-rung zu gewinnen. Inwieweit weitergehenden Strategien der Gewinnung aus dem EingliedeSchadenminde-rungs- auf den Rentenbereich übertragbar sind, wurde nicht näher untersucht. Mitarbeitende der IV-Stel-len verneinten dies aufgrund von sehr unterschiedlichen Ausgangslagen in den beiden Bereichen.

Insbesondere besteht schon in Verfahren ohne Auflage ein weniger persönlicher Kontakt zwischen der IV-Fachperson und der versicherten Person, die Wartezeiten zwischen relevanten Ereignissen

im Verfahren sind oft länger und Fragen der Motivation stellen sich üblicherweise nicht, wenn eine Rente geprüft werden muss. Im Falle einer Schadenminderungsauflage plötzlich diese Kultur zu ändern, sei schwer vorstellbar. Gleichwohl kommt auch bei Auflagen im Rentenbereich der per-sönliche Einbezug der versicherten Person bisweilen vor. Es wurden folgende bewährte „Gewin-nungsstrategien“ beschrieben:

Einbezug der versicherten Person: Eine persönliche Information erfolgt bisweilen, wenn die IV-Fachperson dies aufgrund der Persönlichkeitsstruktur der versicherten Person für an-gezeigt hält (Verständnis, Akzeptanz), oder um eine besondere Verbindlichkeit zu schaffen.

Behandelnden Arzt/behandelnde Ärztin „im Boot haben“: Analog zur Eingliederung kann es bei medizinischen Auflagen zur Schadenminderung hilfreich sein, den Kontakt mit der be-handelnden Ärztin/der den bebe-handelnden Arzt zu suchen. Im Normalfall dürfte dies eine Aufgabe des RAD sein. Die näher untersuchten IV-Stellen unterscheiden sich diesbezüg-lich stark. Jene IV-Stelle, welche die Konsultation des Behandlers/der Behandlerin vor ei-ner Auflage fest institutionalisiert hat, beschreibt als Folge eine spürbar bessere Befolgung der Auflagen durch die versicherten Personen.

Kontrolle der Befolgung

Die Kontrolle der Befolgung bezeichnen die IV-Stellen als wichtigen Faktor, um die Wirksamkeit von Auflagen zu fördern. Im Renten- und im Eingliederungsbereich bestehen diesbezüglich teil-weise unterschiedliche Kontrollregime, auch zeigen sich Unterschiede je nach Art der Auflage.

Folgende Vorgehensweisen können als bewährt bezeichnet werden:

Generell – einzelfallgerechte Kontrollregime: Wie eng die Befolgung einer Auflage kontrol-liert wird, kann dem Einzelfall angepasst werden. Insbesondere in der Eingliederung kön-nen Informatiokön-nen aus dem bisherigen Verhalten, aufgrund der Art der Beeinträchtigung darüber abgeleitet werden. Die richtige Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle zu fin-den, dürfte für den Erfolg einer Eingliederungsmassnahme ein wichtiger Faktor sein. Je besser die IV-Fachperson die versicherte Person kennt, desto besser kann sie diesem An-spruch gerecht werden.

Abstinenzauflagen: Mindestens anhand folgender Parameter kann das Kontrollregime ein-zelfallgerecht ausgestaltet werden: Häufigkeit der Kontrolle; Zeitraum zwischen Aufgebot und Kontrolle; regelmässige Kontrolle oder zufällige Stichprobenkontrolle; Kontrolle durch den RAD oder delegiert an den behandelnden Arzt/die behandelnde Ärztin.

Auflagen zur aktiven Teilnahme: Hier liegt die Kontrolle primär in der Hand des Durchfüh-rungspartners (z.B. Institution, Arbeitgeber, Job Coach). Sicherzustellen ist seitens der IV-Stelle der Informationsfluss zur zuständigen Eingliederungsfachperson. Insbesondere bei mehrjährigen Ausbildungsgängen lohnt es sich aus Versicherungssicht, darauf zu achten, sich rechtzeitig vor einem allfälligen Schul- oder Lehrjahreswechsel mit den nötigen Infor-mationen zu versorgen.

Psychiatrisch-psychologische Behandlungen: Hier sind der Kontrolle gewisse Grenzen ge-setzt. Durchgängig werden Verlaufsberichte eingeholt. In der Eingliederung wird bei Zwei-feln an der Teilnahme auch während der Therapie beim behandelnden Arzt/der behan-delnden Ärztin nachgefragt. Im Rentenbereich wurde dies eher selten berichtet.

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