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«Eine Folge der Individualisierung ist auch, dass wir die Schuld

dass es vor allem in jenen Quartieren zu sol-chen Aktionen kam, in denen man auch sonst einen guten Zusammenhalt pflegt. Ob diese Bereitschaft zur Hilfe aber höher war als vor der Pandemie, dazu haben wir keine Daten.

Und ja, dass sich Menschen in der Pande-mie auch mal egoistisch verhalten, ist normal.

Aber am Anfang bestand eben die Hoffnung, dass wir durch die Pandemie eine Lernchance erhalten und uns solidarischer verhalten als üblich. Im Moment ist es allerdings noch zu früh, um ein Fazit zu ziehen, inwieweit dies geklappt hat oder eben nicht.

Der Solidaritätsgedanke wird vom Bun-desrat immer wieder betont und hat anfangs wohl auch vielen Eindruck ge-macht. Erreichen solche Aufrufe die Be-völkerung inzwischen nicht mehr?

Das würde ich so nicht sagen. Grundsätzlich gibt es in der Bevölkerung eine hohe Bereit-schaft, die Massnahmen zur Bekämpfung des Virus einzuhalten. Und weil dies eben mit per-sönlichen Kosten im Sinne von Verzicht ein-hergeht, lässt sich dies durchaus als Akt der Solidarität bezeichnen. Ich nehme auch wahr, dass nicht wenige Menschen in der Schweiz sich wundern, warum nicht noch härtere

Massnahmen beschlossen werden. Diese Menschen wären folglich bereit, auf noch mehr zu verzichten.

Und was ist mit jenen, die sich laut-stark gegen die Massnahmen wehren?

Diese Stimmen haben in den vergangenen Monaten zugenommen. Viele drücken einen gewissen Unmut aus, weil sie müde und der Situation überdrüssig sind. Man möchte die Normalität zurück, weil man sich in der soge-nannten «neuen Normalität» nicht einrichten kann. Das ist ein Stück weit verständlich. Da-neben gibt es jene, die ganz offen aus einer egoistischen Einstellung heraus die Massnah-men kritisieren oder sogar ignorieren – nach dem Motto: «Gestorben wird immer», «Mein Laden muss laufen» oder «Ich will meine Be-dürfnisse wieder an die erste Stelle setzen».

Eine erste sichtbare Reaktion auf die Krise waren die Hamsterkäufe in den Läden. Was treibt Menschen zu einer solchen Handlung, die doch purem Egoismus entspringt?

Grundsätzlich kann das Hamstern durchaus rationale Gründe haben. Wenn man weiss, wie die heutigen Lieferketten

funktionie-ren, ist der Gedanke naheliegend, dass be-stimmte Produkte in einer weltweiten Krise nicht mehr zur Verfügung stehen könnten. Es ist also nicht ganz verkehrt, sich einen Vorrat anzulegen. Bei vielen war es aber wohl ein-fach der Versuch, etwas zu tun. Wenn wir in eine Situation geraten, die wir als bedrohlich wahrnehmen, versuchen wir, die Bedrohung zu verstehen und unsere Handlungsmöglich-keiten einzuschätzen. Und es ist nicht unge-wöhnlich, dass Menschen dann in ein Han-deln verfallen, das keinen Sinn ergibt, weil die Bedrohung dadurch nicht ausgeschaltet wird – Aktionismus, um der eigenen Ratlosig-keit etwas entgegenzusetzen.

Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten immer individualistischer geworden. Wie verträgt sich Individua-lismus mit dem Solidaritätsgedanken?

Solidarität beruht klassischerweise auf dem Gedanken, dass wir im selben Boot sitzen und einander brauchen. Man verbündet sich für ein Ziel oder auch gegen etwas, etwa gegen eine Bedrohung. Dieser Gedanke ist tatsäch-lich nicht mehr so tief in den Menschen ver-ankert. Heute betrachten wir Wohlstand oder körperliche Gesundheit als individuelle Leis-Zur Person:

Johannes Ullrich, 43, ist Leiter der Fachrichtung Sozial- psychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Er hat an der Universität Marburg (D) Psychologie studiert und im DFG-Graduiertenkolleg «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit» der Universitäten Marburg und Bielefeld promoviert. Seit 2013 ist er Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen soziale Kognition, Konflikt und Kooperation.

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tung. Entsprechend sichern wir uns auch in-dividuell gegen Risiken ab. Das heutige Ver-sicherungsmodell zeigt dies deutlich: Wenn wir bereit sind, im Krankheitsfall mehr selbst zu bezahlen, fallen dafür die Franchisen tie-fer aus. Wir können bei jeder Versicherung gewisse Risiken ein- oder ausschliessen, was eine höhere oder tiefere Prämie zur Folge hat.

Genauso wägen wir auch in vielen anderen Bereichen unsere Kosten und den persönli-chen Nutzen gegeneinander ab, wodurch der Gedanke der Solidarität auf der Strecke bleibt.

Der Bundesrat appelliert in der Krise immer wieder an die Eigenverantwor-tung. Würden alle eigenverantwort-lich solidarisch handeln, bräuchten wir wohl nicht so viele Regeln?

Die Regeln – vor allem jene, die auf Bundes- ebene beschlossen werden, für alle gelten und auch überprüft werden – sind wich-tig, um den Einzelnen zu entlasten und vor Konflikten zu bewahren. Gilt keine Masken-pflicht in den Läden und ich möchte mit ei-ner Maske einkaufen gehen, riskiere ich, als Spinner angesehen zu werden. Ich gerate also in einen Konflikt mit mir selbst und mit den anderen. Die Regeln entlasten die Menschen auch von ihrer Tendenz, sich selbst zu betrü-gen. Ohne die Massnahmen würden wir alle in einen Wettbewerb miteinander treten: Wer

kann am meisten für sich herausholen, in-dem er am wenigsten umsetzt? Diesen Wett-bewerb sieht man teilweise auch auf Ebene der Kantone. Man tut in dieser Krise deshalb niemandem einen Gefallen, wenn man sich auf höchster Ebene zurückhält, auch wenn das mit der Eigenverantwortung natürlich ein schöner Gedanke ist.

Dass es mit der Eigenverantwortung nicht funktioniert, haben wir im Fall der Empfehlung zum Maskentragen im öV erlebt.

Dieses Beispiel zeigt sehr gut, worum es geht:

Solange Masken im öV nur empfohlen wur-den, haben sie nur wenige aufgesetzt. Man hat Hemmungen und befürchtet, schief an-geschaut zu werden. Und man möchte den anderen auch nicht dazu auffordern, doch bitte eine Maske aufzusetzen. Eine solche Aufforderung wirkt nach unserem Verständ-nis wie ein Übergriff, solange das Maskentra-gen eben keine Vorschrift ist. Die Vorschriften helfen den Menschen, weil sie dadurch sol-che Dinge nicht individuell miteinander aus-handeln müssen. Damit will ich sicher nicht sagen, dass es in allen Lebensbereichen einer Regulierung durch den Staat bedarf. Aber in der Pandemiebekämpfung zeigt sich, dass es klare Regeln braucht, weil der Einzelne sonst überfordert ist.

Schürt dieses Virus auch das gegensei-tige Misstrauen, der andere könnte sich nicht diszipliniert verhalten und des-halb ein Risiko darstellen?

Zumindest treten ganz neue zwischen-menschliche Verhaltensweisen zutage. Uns selbst zu fragen: «Wen schliesse ich ein in den Kreis jener, die ich noch treffen darf oder möchte, von wem halte ich mich eher fern?», sind wir uns nicht gewöhnt. Wir sind uns nicht gewöhnt, unsere Kontakte derart limitieren zu müssen. Normalerweise treffen wir Men-schen, ohne dies gross zu reflektieren. Nun müssen wir unsere persönlichen Begegnun-gen aktiv steuern, und da spielen natürlich solche Überlegungen mit eine Rolle: Wem kann ich vertrauen, dass er sich ebenfalls nur mit bestimmten Leuten trifft, um nicht zu einer Verschlimmerung des Virusgesche-hens beizutragen?

Welche weiteren neuen Verhaltens- weisen sehen Sie noch?

Die Pandemie lässt manchen überlegen, mit wem es allenfalls zu Konflikten kommen könnte, weil er oder sie eine ganz andere Ein-stellung hat in Bezug auf die Massnahmen, das Virus vielleicht verharmlost oder sogar leugnet und an Verschwörungen glaubt. Da kommt es auch zu Brüchen zwischen Freun-den oder innerhalb von Familien. Ein drittes Thema ist die Stigmatisierung. Ganz am An-fang der Pandemie, als noch vom China-Virus die Rede war, waren es Menschen aus Asien, die bei uns stigmatisiert wurden. Inzwischen richtet sich die Stigmatisierung gegen Perso-nen, die positiv getestet wurden und sich in Isolation begeben müssen. Sie haben nicht selten hohe soziale Kosten zu tragen in Form von Schuldzuweisungen.

Warum kommt es zu solchen Schuld- zuweisungen?

Eine Folge der Individualisierung ist auch, dass wir die Schuld an Krankheiten individua- lisieren: Wer an Covid-19 erkrankt, ist selbst schuld, weil er sich falsch oder fahrlässig ver-halten hat. Das macht es nicht einfach, den Betroffenen gegenüber Solidarität zu zeigen.

Corona-Pandemie

schwerpunkt

Dabei müsste man doch gerade mit den Er-krankten solidarisch sein. Auf die Frage von Schuld oder Nichtschuld wird in der offiziel-len Kommunikation aber kaum eingegangen.

Im öffentlichen Diskurs geht es dafür oft um die Jungen, die zugunsten der Alten auf vieles verzichten müssten.

Tut sich ein Generationengraben auf?

Ich denke, es ist wichtig, zu sehen, dass jede Gruppe in der Gesellschaft in dieser Pande-mie ihre eigenen, spezifischen Probleme hat und man keine dieser Gruppen damit allein-lassen darf. Vielmehr gilt es genau hinzu-schauen, welche Gruppe welche Opfer bringt, und zu überlegen, wie sie dafür entschädigt werden kann. Auf keinen Fall sollte man sie gegeneinander ausspielen. Sonst kann es tat-sächlich zu Gräben kommen, nicht nur zwi-schen den Generationen.

Wenn wir schon von Generationen sprechen – was macht diese Pandemie eigentlich mit den Jüngsten, den Kindern?

Die Kinder stehen vor grossen Herausforderungen. Im Lockdown konnten sie nicht zur Schule, mussten zu Hause lernen – teilweise ohne die Unterstüt-zung, die sie eigentlich benöti-gen. Und teilweise auch in einem

Umfeld, das für Lernerfolge wenig zuträglich ist, nämlich eines, das geprägt ist durch fami-liäre Konflikte und Stress. Kinder nehmen die-sen Stress auf, tragen ihn in die Schule, zu ih-ren Freunden, und so pflanzt sich der Stress fort. Zusätzlich zum Sars-CoV-2-Virus gibt es also noch ein soziales Virus, das zur Folge ha-ben kann, dass Menschen einander frustrie-ren oder sich untereinander aggressiv verhal-ten. Wir alle bewegen uns im Spannungsfeld zwischen dem Gesundheitsmanagement und dem Management des sozialen Zusammen-halts. Dies spüren natürlich auch die Kinder und leiden ausser unter den Einschränkungen ihrer Freiheiten und den erschwerten Lernbe-dingungen zusätzlich unter der angespannten psychischen Verfassung der Erwachsenen.

Ist diese Krise auch ein Brandbeschleu-niger für Frustrationen, die schon vor-her vorhanden waren?

Das kann sein, die Frage scheint mir aber angesichts der jüngsten Zahlen nicht so ent-scheidend. Die SRG macht regelmässig Um-fragen, die zeigen, wie es den Schweizerin-nen und Schweizern in der Pandemie geht.

In der Umfrage von November gaben über 50 Prozent der Befragten an, ihnen gehe es schlecht bis sehr schlecht. Das ist ausser-gewöhnlich. Normalerweise zeigen sich die Menschen in Umfragen grossmehrheitlich zufrieden, selbst wenn sie, objektiv betrach-tet, vielleicht einen Grund dafür hätten, un-zufrieden zu sein. Die aktuelle Situation ist für die Mehrheit der Menschen offensicht-lich unerträgoffensicht-lich.

Vermutlich auch überfordernd?

Ja, diese Krise überfordert viele Menschen.

Wir können recht gut mit Schicksalsschlägen umgehen, die wir einfach annehmen müs-sen, weil wir uns der Situation anpassen kön-nen. In der Pandemie hingegen kommt immer

wieder etwas Neues, mit dem wir uns ausei-nandersetzen und fertigwerden müssen. Es gibt keine stabile Situation, an die wir uns an-passen können. Vielmehr befinden wir uns in einem permanenten Alarmzustand. Die An-passungsleistungen der Menschen in dieser Pandemie sind enorm. Dass dies zu Erschöp-fung und zu Leiden an sekundären Problemen führt, ist nicht verwunderlich.

Zu Beginn der Krise gab es Stimmen, die von nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen infolge der Krise spra-chen. Etwa davon, dass sich das Home- office durchsetzen und man viel weni-ger Büroräume benötigen werde. Den-ken Sie, unser Leben wird nach der

Pandemie wirklich markant anders sein als zuvor?

Das ist wohl ein Wunschdenken gewisser Akteure, die eigene Interessen verfolgen. Ein grosser Digital-Konzern, der Video-Software verkauft, sehnt sich vielleicht einen solchen Wandel herbei, aber arbeitspsychologisch spricht da einiges dagegen. Leute müssen sich mit ihrem Arbeitsplatz identifizieren kön-nen, um gute Arbeit zu leisten. Darum bin ich überzeugt, dass es nach wie vor traditionelle Arbeitsplätze braucht.

Und wie schwer oder leicht wird es uns nach langer Zeit des «Social Distan-cing» fallen, uns wieder unbeschwert zu begegnen und zu alter Nähe zurück-zufinden?

Sicher wird es sich zunächst seltsam anfüh-len, wenn wir wieder die alten Verhaltens-muster aufnehmen können. Viele werden zunächst vermutlich auch noch bewusst vorsichtig bleiben. Nähe ist jedoch ein ur-menschliches Bedürfnis; wir sehen ja jetzt, wie sehr sie uns fehlt und wir uns danach sehnen. Zudem ist «Social Dis-tancing» ein falscher Begriff, es geht zurzeit nur um physische Distanz. Im Idealfall behalten wir die soziale Nähe in anderer Form bei und können sie spä-ter, wenn die Pandemie irgend-wann vorbei ist, wieder so ausleben, wie wir es gewohnt sind.

Es heisst, Krisen machen stark. Werden wir als Gesellschaft gestärkt aus dieser Pandemie hervorgehen?

Das wäre zu wünschen. Was mich hoffen lässt, ist die Tatsache, dass wir angesichts der Pandemie intensiv darüber reden und debattieren, die Schwächeren schützen und stützen zu müssen. Wenn wir diese Diskus-sion und die sich daraus ergebende Haltung in die Zeit nach der Pandemie mitnehmen, wäre dies sicher ein Gewinn.

Interview: Jacqueline Olivier Fotos: Hannes Heinzer

«Die Regeln sind wichtig, um den