• Keine Ergebnisse gefunden

Fazit: Posthume Homolokie und Autonomie durch das Operndorf Afrika, seit 2009

Im Dokument "Verschiedene Arten zu sein." (Seite 183-191)

II. Künstler_innenteil: Maria Lassnig – Christoph Schlingensief – Anahita Razmi: Die

II.2 Christoph Schlingensief: Ubiquitärer Nomadismus

II.2.5 Fazit: Posthume Homolokie und Autonomie durch das Operndorf Afrika, seit 2009

Wie bereits mehrfach angedeutet, soll abschließend noch genauer auf die eurozentristische Konstruktion und die mythologische Aufladung des Topos „Afrika“ als Ort eines „natürli-chen“ Sterbens eingegangen werden. Diese Perspektive steht in engem Konnex mit Schlin-gensiefs Telos der Autonomie sowie seinen damit verbundenen paradoxen persönlichen Anliegen. Anhand der von Schlingensief noch zu Lebzeiten initiierten Errichtung des Opern-dorfes Afrika (seit 2009) in Burkina Faso soll diese auf den ersten Blick verengende und ein-dimensionale Sichtweise aufgeschlüsselt und in seiner Gänze zugänglich gemacht werden.

Im Zuge dessen wird hierbei nochmals auf Schlingensiefs Losung der Entgrenzung von Le-ben und Kunst sowie insbesondere auf die daraus resultierende „profane Kreativität“710 eingegangen.

Demnach bietet das Operndorf, so die These, die Option der äquivalenten Existenz der Seinsfacetten Schlingensiefs sowie das Erreichen einer finalen Autonomie. An diesem Ort kann sich seine Homolokie entfalten, ohne an den Widersprüchen, die angesichts seiner diametralen Anliegen unweigerlich entstehen, zu zerbrechen. Diese gegensätzlichen Be-strebungen sind hierbei auf die beiden Ebenen der werkbezogenen und auto(r)zentrischen sowie der personenbezogenen und selbst-dezentrischen beziehungsweise über-selbstlichen Homolokie zurückzuführen. So wird im Folgenden besonders auf die Doppelcodes von Prä-senz und Festhalten sowie auf die von Verschwinden und Loslassen eingegangen. Ebenso wird anhand des Operndorfes Afrika auch Schlingensiefs Eintreten für die Autonomie seiner Selbst sowie die sämtlicher Individuen – trotz beziehungsweise wegen eurozentristisch-stereotypisierender Tendenzen – besonders signifikant.

Zu Gunsten dieser Ausführungen müssen hierbei die bauhistorische Genese und die schlingensieftypische polarisierende Rezeptionsgeschichte des Operndorfes Afrika in Burki-na Faso ausgeklammert und stattdessen auf die rezenten Publikationen von Jan Endrik Niermann711 und Fabian Lehmann712 verwiesen werden.

710 Reckwitz 2012: S. 358.

711 Niermann, Jan Endrik: Schlingensief und das Operndorf Afrika. Analysen der Alterität, Wiesbaden 2013.

712 Lehmann, Fabian: Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso. Eine innovative Form inter-kultureller Zusammenarbeit?, Lüneburg 2013 (Masterarbeit).

182

a) Das Operndorf Afrika als Knotenpunkt der werkbezogenen und der personenbezo-genen Homolokie

Nach der vorausgegangenen Analyse Schlingensiefs lebenskünstlerischer Aktivitäten zur Sichtbarmachung von Kranken und Sterbenden lässt sich als minimalste Quintessenz seiner multimedialen Rezipient_innenansprachen die (Wieder-)Erlangung von Autonomie fassen.

Diese Mündigkeit ist in Bezug auf Schlingensief eng an die Deutungshoheit seines Werkes und die „Kontrolle der eigenen Bilder“713 gebunden.714 Die beschriebenen „Technologien des sterbenden Selbst“715, im Falle Schlingensiefs716 die letzten Bühnenwerke, das Tagebuch und die Internetweblogs, entspringen vor diesem Hintergrund dem „Motiv des `im eigenen Bild´ [sic!] -Sterbens […] als eine besondere Form der Autonomie“717. Allerdings zeigt sich – womöglich unterstützt durch eine zunehmende „Zustimmung“718 in die Erkrankung – im Modus der personenbezogenen Homolokie auch ein übergeordnetes Selbstverständnis Schlingensiefs. Genauer gesagt verschärfen sich gegen Ende seines Lebens die genannten binären Ausrichtungen von Auto(r)zentrierung und Selbstdezentrierung. Den wortwörtli-chen Ausweg bildet hierbei das Operndorf als Ort der äquivalenten und friktionsfreien Pa-rallelexistenz seiner Homolokie.

Mit tieferem Blick in die Duplizität der werkbezogenen und der personenbezogenen Homo-lokie innerhalb der Person Schlingensiefs kann festgestellt werden, dass sich je zwei alter-nierend auftretende Intentionen des Regisseurs herauskristallisieren. So liegen einerseits die Doppelcodes von Präsenz und Festhalten sowie die von Verschwinden und Loslassen vor. Die Koexistenz dieser per se gegenläufigen Bestrebungen führen zu unauflösbaren Verschränkungen, ähnlich irreführender double-bind-Situationen719. So stehen sich bei Schlingensief zwei jeweils sich gegenseitig ausschließende Lesarten mit ihren demzufolge diametralen Intentionen gegenüber, welche sich in kein „harmonisches“ Selbst überführen

713 Bächle 2014: S. 348.

714Zum „Archiv- und Ordnungssinn“ Schlingensiefs, siehe: Schaper2014: S. 313.

715 Bächle 2014

716Siehe ergänzend die allgemeine Definition dieser Technologien nach Bächle (2014: S. 374): „Diese symbolischen Technologien eines sterbenden Selbst [sic!] bringen spezifische kulturelle Identitäten hervor, in denen Krankheit und Tod bedeutungsvoll erzählt werden können. Das Tagebuch-Schreiben, das Gespräch Betroffener mit Angehörigen und Freunden oder ein mächtiges medizini-sches Diskurswissen gehören zu gängigen Techniken biografischer Selbstnarration, mit deren Hilfe die Identität einer oder eines Sterbenden erzählt wird.“

717 Bächle 2014: S. 396.

718 Kübler-Ross 1999

719 Siehe dazu: Authaler, Irmgard: Die Sprache des Schizophrenen. Schizophrenie aus psychologischer Sicht, Essen 2015, insbes.: S. 103-110.

183

lassen. Erst in seinem letzten Werk respektive work in progress, dem Operndorf Afrika, können Schlingensiefs Streben nach Gegenwärtigkeit sowie seine Einwilligung in ein Ent-schwinden gleichermaßen verwirklicht werden. Hierbei werden die Kategorien des auto-zentrischen Regisseurs und des selbstautorisierten Propheten respektive sterblichen Gottes nicht zugunsten einer Kernaussage gegeneinander abgewogen, sondern bleiben als gleich-wertige Les- und Seinsarten im Sinne einer gelebten inhärenten Homolokie bestehen.

Hinsichtlich des Projekts des Operndorfes Afrika sei konstatiert, dass es Schlingensief darin möglich ist, im Modus der personenbezogenen Homolokie, selbst-dezentrisch Wissen und Visionen abzugeben. Seine Ideen gehen in Form von Inspirationen – sei es in ihrer Über-nahme oder in ihrer Abgrenzung dazu – auf die vor Ort Mitwirkenden über, welche als Kol-lektiv den Grundgedanken des Operndorfes nach Schlingensiefs Tod weiterspinnen. Schlin-gensiefs „Erfindung“ wird somit in der Praxis weitergedacht und -interpretiert – und ande-rerseits bleibt das „Patent“ in seiner Hand. Somit wird sein geistiges Eigentum zur freien Verfügung aller gestellt, welche allerdings im Geiste Schlingensiefs am Bau des Operndorfes weiterarbeiten. Dies bedeutet einerseits, dass die lebenszeitliche Autorität des Künstlers damit zwar faktisch und in situ aufgeboben ist. Andererseits bleibt sie ideell fortbestehend.

Dies zeigt sich auch an dem Internetauftritt des Operndorfes.720 Auf der Webseite erfährt Schlingensief gegenüber anderen Projektmitarbeiter_innen ungeteilte Aufmerk-samkeit. So werden bereits auf der Startseite dem_der User_in verschiedene Zitate Schlin-gensiefs in einer Slideshow vor Augen geführt. Das Operndorf als Architektur scheint damit nur durch Schlingensiefs Worte erklär- und begreifbar zu sein. Statements des eigentlichen Architekten und gegenwärtigen baulichen Realisators, des renommierten Diébédo Francis Kéré, können nur durch kleinteilige Navigation im Strukturbaum des Menüs abgerufen wer-den. Ähnlich verhält es sich mit Aino Laberenz, welche als geschäftsführende Gesellschafte-rin und Stiftungsvorstand der Stiftung Operndorf Afrika721 ebenfalls hinterrangige Wichtig-keit zugunsten Schlingensiefs ubiquitärer Präsenz erfährt. Dessen digitales Selbst überdau-ert somit deutlich das biophysische Selbst und avanciüberdau-ert zum allgegenwärtigen spiritus rec-tor.

Somit lässt sich resümieren, dass trotz des Todes Schlingensiefs beziehungsweise dessen Verschwindens keine Verselbstständigung des Projekts stattfindet. Vielmehr wird das

720 Homepage des Operndorf Afrika-Projektes: http://www.operndorf-afrika.com/ [letzter Zugriff:

03.08.2020].

721 Operndorf Afrika 2020: http://www.operndorf-afrika.com/ueber-uns/die-initiatoren/ [letzter Zugriff: 03.08.2020].

184

Operndorf Afrika vor – seinem geografischen sowie seinem digitalen – Ort zu einem Schau-platz der überzeitlichen Präsenz Schlingensiefs. Damit ist das Operndorf gleichzeitig selbst-gewählter Selbst-Distributionsort im Sinne des Doppelcodes von Auflösung und Loslassen, genauso wie selbstgeschaffenes Denkmal in Form eines weiterlebenden Organismus und Signifikant des Doppelcodes von Präsenz und Festhalten. Mit Blick auf das Projekt in seiner Gesamtheit kann konstatiert werden, dass das Operndorf Afrika sowohl einen Beweis der Sterblichkeit sowie des Weiterlebens von Schlingensief darstellt. Demzufolge besteht nicht nur Schlingensiefs Kunst fort, ebenso ist auch seine Homolokie für die (zumindest mediale) Ewigkeit konserviert.

b) Das Operndorf Afrika als Realisationsort profaner Kreativität

Mit dem Operndorf Afrika initiiert Schlingensief einen Wohnort, der, konzeptuell betrach-tet, konstitutiv zum Ausbruch „aus den Sackgassen der dualistischen Transfersysteme“722 beiträgt und der in der Praxis konkret die künstlerisch-kreative Lebensführung als affektives Telos der Spätmoderne unterstützt. Damit gießt Schlingensief die Strategie seines nomadi-schen Kunstzuges in Werkform und macht diese anschlussfähig für eine Vielzahl von le-benskünstlerischen Interessierten und Aktiven. Er bietet durch das Operndorf insbesondere eine Plattform für eine sogenannte „profane Kreativität“723.

Entgegen der Vorstellung einer unauflöslichen Verzahnung und Bedingtheit von Kreativität und (Künstler_innen-)Genie, basiert eine nach Reckwitz profane Kreativität vielmehr auf ihrer als solchen unbewussten, alltäglichen Verrichtung durch Einzelne respektive durch unspezifische Gruppen. Für diese Form der Schöpfungskraft definiert Reckwitz als signifi-kant, „dass sie eine lokale, eine situative Praxis ist, die im jeweiligen Moment etwas für den oder die Teilnehmer Erfinderisches hervorbringt und ihnen Lust bereitet. Die profane Krea-tivität kennt somit keine Rezipienten, aber sie geht auch nicht eigentlich von einem Produ-zenten aus: Sie ereignet sich in der Sequenz der Praxis und der Subjekt-Objekt-Netzwerke.“724 Zudem entspricht die Ausübung der profanen Kreativität weder einer gesell-schaftliche Erwartungshaltung noch folgt sie auf einen dem Subjekt inhärenten Wunsch, weshalb „soziale Anerkennung und Selbstwertgefühl von ihnen unabhängig“725 sind. Diese Art der Kreativität liegt also im Auge des_der Betrachtenden und kann weniger als ein

be-722 Niermann 2012: S. 66.

723 Zur Vertiefung siehe: Reckwitz 2012: S. 358-362.

724 Reckwitz 2012: S. 359.

725 Reckwitz 2012: S. 362.

185

wusst performter Akt, sondern vielmehr als eine natürliche und insbesondere unbewusste

„Lebensäußerung“ verstanden werden. Als weitere Charakteristika profaner Kreativität können noch die Kategorien von Zufall und Spontaneität miteinbezogen werden, welche für zwei726 ihrer Konstellationen, die Improvisation und das Experiment, konstitutiv sind. Pro-fane Kreativität, im Gegensatz zum sakralen Künstler_innengenie, als banal, zufällig und ubiquitär verstanden, steht somit stellvertretend für eine gelungene Überführung von Kunst in Lebenspraxis.

Schlingensiefs Anliegen einer Veralltäglichung von Kunst beziehungsweise einer kreativen Lebensführung soll im Operndorf Afrika, entgegen seinen früheren ephemeren Aktionen und Inszenierungen, erstmals zur dauerhaften Instanz werden.727 Dabei muss betont wer-den, dass diese gelebte Entgrenzung von Kunst und Leben per se weder an gesellschaftliche noch nationale Zuschreibungen gebunden ist. Kreativität als eine profane verstanden ist vielmehr „kein `knappes Gut´ [sic!] um das ein Aufmerksamkeitswettbewerb stattfindet, sondern ein schon immer im Überfluss vorhandenes öffentliches Gut, das sich etwa in jeder musikalischen, kulinarischen, handwerklichen oder kommunikativen Tätigkeit einstellt.“728 Vor diesem Hintergrund weiter gedacht kann auch der Künstler_innen- beziehungsweise der Laienbegriff neu überlegt werden. In Bezug auf das hier im Fokus stehende Operndorf Afrika skizziert Marcel Bleuler ein Künstler_innenverständnis der Burkinabe, welches in seinen Grundzügen dem Konzept der profanen Kreativität entspricht.729 Bleuler, der mit den beiden dortigen artist-in-residency730 des Jahres 2016, Pio Rahner und Nomwindé Vi-vien Sawadogo, in engem Austausch steht, berichtet, dass Kunstschaffende in Burkina Faso

„grundsätzlich als Verrückte wahrgenommen [würden], wobei dies nicht unbedingt despek-tierlich gemeint sei. Denn die Passion, mit der sie an die Sache gehen und die von einem Plan zeugt, werde durchaus wahrgenommen. Diese Leidenschaft, die sich auf eine Tätigkeit richtet, die sich keinen eingebürgerten Kategorien kultureller Produktion zuordnen lasse, mache Menschen zu Verrückten, also zu Künstler_innen [sic!].“731 Das von Sawadogo als

726 Komplettierend sei angefügt, dass nach Reckwitz die Idiosynkrasie und das hermeneutische Netz die Übrigen der insgesamt vier Konstellationen profaner Kreativität darstellen. Ausführlich dazu:

Reckwitz 2012: S. 360f.

727Sehr interessant hierzu ist die „Rede von Christoph Schlingensief anlässlich der Grundsteinlegung des Operndorfes am 8. Februar 2010“, in: Kat. Ausst. Venedig 2011, S. 102-105.

728 Reckwitz 2012: S. 360.

729 Bleuler 2018

730 Operndorf Afrika 2020: http://www.operndorf-afrika.com/artist-in-residence/das-programm/

[letzter Zugriff: 03.08.2020].

731 Bleuler 2018: S. 185.

186

„`artiste comme fou´ [sic!]“732beschriebene Konzept, unterscheidet Bleuler von „der Genie-figur aus der westlichen Kunstgeschichte“733. Bleuler weiter: „Die burkinische Figur hinge-gen bezieht sich darauf, dass der_die verrückte Künstler_in [sic!] etwas macht, was nichts Bestehendem zugeordnet werden kann. Das Verrückte besteht darin, sich etwas `Nutzlo-sem´ [sic!] hinzugeben. Eine Tätigkeit, die nicht aufgrund ihrer Beziehung zu Bestehendem, sondern einzig aufgrund der Leidenschaft, mit der sie betrieben wird, eine Relevanz er-hält.“734 Dieses Kunstverständnis korrespondiert mit Schlingensiefs Praxis, welche auf eine Nivellierung der Figur des_der Künstler_in und zugleich auf eine Integration ins Lebenswelt-liche abzielt. Entgegen dem Sonderstatus, den ihm die Öffentlichkeit vor allem im deutsch-sprachigen Raum zugesteht, ist Schlingensief als Künstler in Burkina Faso zwar nicht kon-form, jedoch in eine gewisse Alltäglichkeit integriert. Und just diese im Operndorf Afrika erfahrbare Alltäglichkeit und die Distanz zum eigenen Diskursbildungsimperativ führen, so die These, zu einer basalen Autonomieerfahrung Schlingensiefs.

c) Autonomie durch Diskurskappung

Mit Blick auf Schlingensiefs Streben nach Selbstbestimmung – sowohl als Künstler wie auch als Mensch und insbesondere als Sterbender – vollzieht sich dieses insbesondere in seinem Modus der werkbezogenen Homolokie nicht durch das Ausleben einer profanen Kreativität geschweige denn eines basalen In-der-Welt-Seins. Vielmehr „konstruiert und dekonstruiert [er] sich, den `künftig Verstorbenen´ [sic!], als eine Figur, die durch die Überlagerung auto-biografischer und fingierter Elemente sowie die Aufspaltung in unterschiedliche Rollen das Ergebnis selbstinszenatorischer Verfahrensweisen ist – und erzeugt so eine Überfülle an Klängen und Bildern, an Szenen und Szenerien, die alle das Thema des Todes und des Ster-benmüssens umkreisen.“735 Ferner konzentriert er sein Streben nach Autonomie über den Erhalt der Deutungshoheit über seine (Künstler-)Existenz. Angesichts des von Bächle formu-lierten grundlegenden menschlichen Anliegens, „im eigenen Bild sterben zu dürfen“736, ist Schlingensief mit der über-menschlichen Kontrolle der produzierten beziehungsweise der selbst provozierten Medienbilder konfrontiert. Mit zunehmender Beobachtung der Fremdwahrnehmung, wie es Schlingensief beispielsweise in seinen Blogs vollzieht, wird letztlich genau diese Kontrolle zum Zwang und zum selbstgeschaffenen Korsett.

732 Bleuler 2018: S. 186.

733 Bleuler 2018: S. 190, Anm. 14.

734 Bleuler 2018: S. 190, Anm. 14.

735 Umathum 2012: S. 260.

736 Bächle 2014

187

In dieser Enge erscheint, mit Bächle gesprochen,737 Schlingensiefs Rekurs auf den Topos Afrika als „Zufluchtsort“, gar als „Arche“ im Hinblick auf das Vorhandensein einer vermeintlich wahren Autonomie, als Ausweg: „In Afrika findet Schlingensief die Selbstver-ständlichkeit des Sterbens, die dem Zwang zur Selbstinszenierung gegenübersteht. Diese Selbstverständlichkeit benötigt kein Wissen über den Tod, sie fordert keine Bilder ein, son-dern bietet eine eigene, andere Form der Autonomie, die keine Kontrolle mehr einfordert.

Hier ist die Ruhe.“738739 Allerdings ist diese Feststellung Bächles nur mit großem Vorbehalt zu übernehmen. Denn dieser verklärende Blick begünstigt eine Fortschreibung der Zemen-tierung der tradierten europäischen Stilisierung Afrikas als das diametral „Andere“, „Ur-sprüngliche“ und „Echte“. Die vermeintliche Nicht-„Imitation des Lebens“740 scheint Schlin-gensief dort vergegenwärtigt zu bekommen: „Genau dieses Gefühl kam mir immer, wenn ich in Afrika war. Denn in diesen Ländern war alles wesentlich konkreter. Es war direkter, härter, teilweise so hart, dass ich auch gerne wieder abgereist bin. Aber das konkrete Leben und auch sehr oft das sehr harte Überleben in einigen afrikanischen Ländern erzeugt in mir das Gefühl, dass ich mich verloren hatte.“741 Paradoxerweise schätzt Schlingensief demnach einerseits die Unmittelbarkeit und Alltagshärte in Afrika, andererseits spricht er sich an selbiger Stelle bewundernd für die Spiritualität, insbesondere der Burkinabe,742 und der transphänomenalen Rezeption der Welt aus: „Der Reichtum Burkina Fasos besteht für mich in der spirituellen Reinheit seiner Bewohner. Hier scheint die Welt wirklich noch anders zu ticken.“743

Diese eurozentristische Perspektive744 kann ebenfalls als Strategie, die in zweierlei Hinsicht das Telos der Autonomie verfolgt, verstanden werden. Zum einen dient sie in ihrer einfa-chen Lesart tatsächlich als heilsbringende Heterotopie. Die – bewusst – illusionistische Für-wahr-Nehmung Afrikas als Ort der Selbstfindung, des Loslassens und damit der höchsten

737 Bächle 2014: S. 383.

738 Bächle 2014: S. 398.

739Zur Schlingensiefs Verklärung eines „familiären Sterbens“ in Afrika siehe auch: Schlingen-sief/Fischer 2009, 21:46 min.

740 Schlingensief 2011: S. 102.

741 Schlingensief 2011: S. 102.

742 Schlingensief 2011: S. 103.

743 Schlingensief 2011: S. 103.

744 Siehe dazu ebenfalls: Altenhof, Eliza: zeige deine Wunde. Krankheit und Sterben im Spätwerk von Christoph Schlingensief, in: Berbig, Roland/Faber, Richard/Müller-Busch, H. Christof: Krankheit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller, Band 2: Das 20. und 21. Jahr-hundert, Würzburg 2017, S. 259-272, S. 272.

188

Stufe der Autonomie, ist der Strohhalm im Sinne eines letzten Ganges Schlingensiefs.745 Das

„Auffanggefäß“746 Afrika wird somit in der finalen Lebensphase Schlingensiefs letztlich zum Symbol eines, wenn nicht abgeschlossenen Werkes, zumindest jedoch abgeschlossenen, weil erreichten, Lebensziels: Autonomie.

Jenseits dieser Aufrechterhaltung des illusorischen Heilsortes Afrika, tragen Schlin-gensiefs „exotisierende[] Idealisierung[en]“747sowie „seine Aussagen [, die] von einer dua-listischen Konstruktion eines `Wir´ [sic!] und die `Anderen´ [sic!] durchsetzt“748 sind, zu ei-ner letztendlichen Aei-nerkennung und Autonomie der Bukinabe bei. Verkürzt formuliert ist es gerade diese Akzeptanz der Differenz, die nicht auf einen „`Verbrüderungsdiskurs´ [sic!]“749 mit etwaigen Assimilationsanregungen abzielt. Bleuler konstatiert in Bezug auf Schlingen-sief: „Eine zu einfache Vorstellung der gemeinschaftlichen Verbindung, der Transformation von Subjektivität oder von intersubjektiven Beziehungen lehnt er dezidiert ab.“750 Somit ergibt sich eine „Perspektive auf das Operndorf als ein Raum der Differenz – anstatt der Partizipation“751 und der Angleichung. Entgegen einer egalisierenden beziehungsweise ni-vellierenden Transkulturalitätsbeschwörung führt „der Fokus auf die Differenz zu einer ge-naueren Wahrnehmung und einer Anerkennung `der Anderen´ [sic!].“752

An dieser Stelle lässt sich resümieren, dass das Operndorf Afrika eine Vollendung Schlingen-siefs lebenskünstlerischer Ansprüche, dem Ausleben seiner Homolokie sowie der Erlangung von Autonomie beschreibt. Somit fließen dort die Sphären von Kunst und Leben zusammen und werden idealtypischerweise Schlingensiefs an sich widersprüchlichen Bezeichnung als

„Operndorf“ gerecht. Ferner findet auch die Koexistenz von Schlingensiefs werkbezogener und personenbezogener Homolokie statt. Demzufolge können beide Anliegen, sowohl das nach Auto(r)zentrierung als auch jenes nach Selbstdezentrierung realisiert werden. Und schließlich gelangt auch Schlingensiefs über den gesamten Werkverlauf konsequentes Stre-ben nach Unabhängigkeit an sein Ziel: eigene Autonomie sowie die Marginalisierter bezie-hungsweise letztendlich aller Menschen, welche durch ihre conditio humana zu solchen gemacht werden.

745„Die meisten Leute wollen nach Hause, ich will eben weggehen. Und zwar möglichst an einen Ort in Afrika. Und ich erhoffe mir, mich dort als Person in ihrer ganzen Absurdität irgendwie zusammen-führen zu können.“ Schlingensief 2010: S. 63.

746 Schlingensief 2010: S. 63.

747 Bleuler 2018: S. 179.

748 Bleuler 2018: S. 179.

749 Bleuler 2018: S. 181.

750 Bleuler 2018: S. 191.

751 Bleuler 2018: S. 191.

752 Bleuler 2018: S. 191.

189

Im Dokument "Verschiedene Arten zu sein." (Seite 183-191)