• Keine Ergebnisse gefunden

I. Theorieteil: Das Homolokiemodell

I.1 Die Konstitution des zeitgenössischen Subjekts

I.1.1 Arbeit

„Der Glaube an die schöpferischen Potenziale des Individuums ist die Zivilreligion des unternehmerischen Selbst.“95

Mit seiner Arbeit Out of Office, 2016 entgrenzt Florian Meisenberg die Sphären von Atelier und Ausstellungsraum. Dabei arbeitet er entgegen der Erwartung nicht in situ, sondern zeichnet sich durch physische Abwesenheit aus. Im Zentrum der mehrteiligen Installation96 befindet sich statt Seiner ein übergroßer Nachbau seines Smartphones, welches Meisen-bergs Aktivitäten in Echtzeit vergegenwärtigt. Dabei werden nicht nur sämtliche Chatnach-richten, E-Mails und Google-Suchen in den Ausstellungsraum der Kunsthalle Schirn übertra-gen. Darüber hinaus wird der Künstler über GPS-Tracking in seiner realen Lebenswelt für den_die Besucher_in „nachvollziehbar“. Bequem im Museum auf einer werkzugehörigen grünen Indoor-Liegewiese lagernd, kann der_die Rezipient_in jede Aktivität Meisenbergs mitverfolgen und ist damit unmittelbar am künstlerischen Schaffensprozess respektive der Ideenfindung beteiligt. Doch neben der Entgrenzung des Arbeitsraumes findet auch die der Bereiche von Privatheit und Öffentlichkeit statt. Demnach mischen sich unter die Dokumen-tation potenzieller künstlerischer Geistesblitze auch Fotos und Gesprächsverläufe höchst intimer Natur. Der_die Betrachter_in gerät so in den Verdacht des Voyeurismus, wollte er_sie doch eigentlich nur künstlerische Schaffensprozesse nachverfolgen. In Out of Office wird deutlich, wie sehr die Arbeitswelt das Private Meisenbergs durchdringt. Doch anstelle dieser Tendenz einen Riegel vorzuschieben, reißt er sämtliche Wände ein und macht das Office zur Ubiquität, denn nicht nur im Museum, sondern auch über dessen Webseite kann Meisenbergs (Arbeits-)Leben vom eigenen internetfähigen Endgerät aus, live gestreamt werden.

95 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.

Main 2007, S. 152.

96 Eine Beschreibung der weiteren Raumelemente und den damit verbundenen Intentionen, siehe die Aussagen des Künstlers im Gespräch mit Anna-Lena Werner:

https://www.schirn.de/magazin/kontext/interview_florian_meisenberg_ich_ausstellung_out_of_offi ce/ [letzter Zugriff: 03.08.2020].

29

Als erstes subjektprägendes Praxisfeld wird im Folgenden kursorisch der – wie von Meisen-berg vergegenwärtigt – zunehmend entgrenzte Komplex der Arbeit betrachtet. Hierbei wird besonders auf die gegenwärtig gestiegene Bedeutung von Kreativität sowie auf die Rolle des_der Künstlers_Künstlerin respektive des_der Kurators_Kuratorin im aktuellen Arbeits-diskurs eingegangen.

Im Zuge des Postfordismus und der damit einhergehenden Diversifizierung von Ar-beitsformen beziehungsweise der „Inwertsetzung subjektiver Potenziale“97 lässt sich als kleinster gemeinsamer Nenner zur Definition von Arbeit die Vergütung anführen. Darunter ist nicht ausschließlich der pekuniäre Wert zu verstehen. Etwas breiter gespannt lassen sich diese Tätigkeiten als „sozial anerkannte `Leistungen für andere´ [sic!]“98 beschreiben. Dar-über hinaus finden diese Beschäftigungen innerhalb einer Zeit statt, die nicht als „frei“ be-ziehungsweise „privat“ erachtet wird. Allerdings kann im Zuge der expandierenden Wahl-freiheit des Arbeitsortes aufgrund der Digitalisierung, welche in manchen Branchen das Firmenbüro zugunsten des home office obsolet macht, der private mit dem nicht-privaten Arbeitsraum identisch sein. Ferner bildet die Arbeit im dezidiert öffentlichen Raum eine zweite Ergänzung zum klassischen Arbeitsplatz in der Fabrik, dem Büro oder einer spezifi-schen Institution. Einen gegenwärtigen Höhepunkt der Entgrenzung des Arbeitsplatzes er-lebt die Lohnarbeit in Form des_der spätmodernen, digital arbeitenden Noma-den_Nomadin99. Ähnlich der Figur des Wandergesellens der Romantik verdingt sich diese_r frei von Wohnort und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Jedoch dient ihm_ihr die langfris-tige bis gar permanente Reise nicht zur Komplettierung seiner_ihrer Ausbildung. Vielmehr verknüpft der_die Digitalnomade_Digitalnomadin Arbeit und Freizeit zu einem spezifischen Lebensstil.100

Diskursive Schlagworte wie der Arbeitskraftunternehmer101, die Marke-Ich102, die Ich-AG103, das unternehmerische Selbst104 oder der Intrapreneur105 beschreiben allesamt die

97 Petersen, Niklas: Paradoxien der Selbstbestimmung. Überlegungen zur Analyse zeitgenössischer Subjektivität, in: Bohmann, Ulf u.a. (Hg.): Praktiken der Selbstbestimmung. Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis, Wiesbaden 2018, S. 25-56, S. 36.

98 Reckwitz 2006: S. 55.

99 Davon abzugrenzen sind sämtliche globalen Formen von Arbeitsmigration, die aufgrund prekärer Verhältnisse am Heimatort stattfinden.

100 Siehe dazu in jüngerer Zeit: Ceballos Betancur, Karin: Sie nennen es Arbeit, in: Die ZEIT, Nr. 27 (23.06.2016), S. 57. - Wadhawan, Julia: Vier Stunden, mehr nicht!, in: Die ZEIT, Nr. 6 (04.02.2016), S.

20. Tönnesmann, Jens: Tauchen, sonnen, pitchen, in: Die ZEIT, Nr. 39 (24.09.2015), S. 38.

101 Voß, Gerd-Günter/Pongratz, Hans J.: Der Arbeitskraftunternehmer, in: Kölner Zeitschrift für Sozio-logie und SozialpsychoSozio-logie, 50 (1998), S. 131-158.

102 Seidl, Conrad/Beutelmeyer, Werner: Die Marke Ich. So entwickeln Sie Ihre persönliche Erfolgsstra-tegie, Wien 1999.

103 Siehe das Lemma Ich-AG, in: Kleyboldt, Matthias: Ich-AG, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Histo-risch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6.1, Hamburg 2004, Sp. 588592.

30

geforderte Ausrichtung des ehemals „`verberuflichten Arbeitnehmers´ [sic!]“106 nach Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Hinsichtlich des zunehmend deregulierten beziehungsweise liberalisierten Arbeitsmarktes, betont Marie Schmidt zwei flächendeckend gültige Regeln für die gegenwärtigen Arbeitnehmer_innen: „Du verkaufst nicht deine Ar-beitskraft, sondern deine Persönlichkeit.“ sowie „Nur du bist deines Glückes Schmied.“107 Während die zweite Regel den Aspekt des Selbstmanagements betrifft, beschreibt die erste die Anforderung die Ausbildung eines einzigartigen und gleichzeitig marktkompatiblen Per-sönlichkeitsprofils. Das Telos lautet nun: Der_die Arbeitnehmer_in „muss ein einzigartiges Kompetenzbündel [sic!] sein, das diverse wertvolle Fähigkeiten auf eine besondere Weise miteinander kombiniert“108 und sich somit dem Unternehmen gegenüber als nichtaus-tauschbar inszeniert. Wurden einst prekäre Subjekte, wie Geisteskranke oder Verbrecher mittels dieses Formats klassifiziert,109 so dient gegenwärtig das Persönlichkeitsprofil als Gradmesser individueller Selbstentfaltung. Dabei bilden Autor_in und Gegenstand der Eva-luation für gewöhnlich eine Entsprechung. Bestenfalls generiert dieses Subjekt-Objekt ein Profil, welches als singulär und zugleich anschlussfähig auf dem ökonomischen Attraktivi-tätsmarkt wie auch innerhalb sozialer Onlinenetzwerke prämiert wird. Nach Andreas Ber-nard soll das ideale Profil „konturenreich und abgeschliffen zugleich sein, ein einzigartiges Individuum repräsentieren und restlose Anpassung gewähren.“110 Diese per se wider-sprüchlichen Erwartungen können sich oftmals auch als den eigenen Neigungen gegenläufig erweisen. Insbesondere dem anhaltenden „Kreativitätsdispositiv“111 kann nicht von jedem aus den eigenen Ressourcen heraus nachgekommen werden: Entgegen der Vorstellung eines Schöpfergenius verlangt der „kreative Imperativ“112 „serielle Einzigartigkeit – Diffe-renz von der Stange. Kreativitätstrainings standardisieren den Bruch mit Standardlösungen.

Sie normieren die Normabweichung und lehren, sich nicht auf Gelerntes zu verlassen.“113 Dieses Verständnis von Kreativität als Innovationsmanagement, unter etwaiger

Zuhilfen-104 Bröckling 2007 Bröckling, Ulrich: Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementa-lität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. Main 2000, S. 131-167.

105 Bröckling 2007 Bröckling 2000

106 Voß/Pongratz 1998: S. 131.

107 Schmidt, Marie: Hört die Signale, in: Die ZEIT, Nr. 9 (22.02.2018), S. 46.

108 Reckwitz 2017: S. 204.

109 Siehe dazu ausführlich: Bernard, Andreas: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt a. Main 2017, insbes. Kapitel 1: `Profil´: Karriere eines Formats, S. 7-46.

110 Bernard 2017: S. 30. Siehe auch: Bernard, Andreas: Zasterfahndung, in: Die ZEIT, Nr. 4 (18.01.2018), S. 64.

111 Reckwitz, Andreas: die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 15.

112 Bröckling 2004

113 Bröckling 2004: S. 242-243.

31

ahme von Ratgeberliteratur und Persönlichkeitscoaching, korrespondiert mit den Anforde-rungen an das zeitgenössische Subjekt, individuell und zugleich marktkompatibel zu sein und impliziert die Eigenaktivität und -verantwortung für das Gelingen der Selbstökonomi-sierung.

Gezähmte Kreativität, welche lösungsorientiert auf wirtschaftliche Probleme angewendet werden kann und welche zugleich maßvolle Singularisierung garantiert, ist neben kulturel-lem Kapital die zweite wichtige Ressource in der spätmodernen Gesellschaft. Dieser sind neben der Prämierung des Singulären und Affektiven auch die Orientierung am Ästheti-schen und Kreativen eingeschrieben. Dabei bezieht sich Kreativität „hier weniger auf das Herstellen von Dingen, sondern auf die Formung des Individuums selbst.“114 Die Figur des_der Arbeitskraftunternehmers_Arbeitskraftunternehmerin versinnbildlicht die Anfor-derung, vom_von der passiven Arbeiter_in zum_zur aktiven Gestalter_in zu werden: Kreati-vität kann von daher als must-have des_der erfolgreichen spätmodernen Arbeitneh-mers_Arbeitnehmerin beschrieben werden.

Mit selektivem Blick auf die Geschichte der gegenwärtigen Arbeitsgestaltung,115 sei auf den Strukturwandel der Industrieökonomie hin zu einer Wissens- und Kulturökonomie, der in den 1970er Jahren starke Dynamik erfährt, verwiesen. Zentral hierfür sind der Rise of the Creative Class116 sowie die zeitparallelen Innovationen im Bereich der Digitalisierung. So findet eine sukzessive Abkehr von der Herstellung massenindustrieller (Funktions-)Güter und eine Hinwendung zu symbolproduzierenden Tätigkeiten statt. Diese neue Kulturindust-rie117 verlangt eine_n idealtypisch kreative_n und unternehmerische_n sowie teamfähige_n und eigenverantwortliche_n Arbeitnehmer_in. Das primäre Arbeitsformat ist dabei das Projekt. Auf der Basis von flachen Hierarchien sollen die Mitarbeiter_innen dort zielorien-tiert ihre spezifischen Profile einbringen und in Form von selbsterfüllender Kooperation doppelte Befriedigung (hinsichtlich des Unternehmens und des individuellen Self-growth118) schaffen. Ungeachtet der branchenspezifischen Ausrichtung des Projekts lässt sich dieses

114 Reckwitz 2012: S. 12.

115 Zur Vertiefung der spätmodernen Ökonomie: Reckwitz 2006 (S. 500-527) und 2017 (S. 111-179 sowie 181-223)

116 Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. And How it´s Transforming Work, Leisure, Com-munity and Everyday Life, New York 2000.

117 Reckwitz (2006, S. 500) ordnet diesem Oberbegriff die Bereiche von „Beratung, Informationstech-nologie, Design, Werbung, Tourismus, Finance, Unterhaltungsindustrie, Forschung und Entwicklung“

zu. Ferner seien an dieser Stelle noch die Sektoren Erziehung und Ernährung zu ergänzen.

118 In Anlehnung an Reckwitz (2006: S. 532) wird „Self-growth wird hier nicht im Sinne der Entfaltung eines bereits vorgefundenen Potentials, der konsequenten Durchführung eines Lebensplans ver-standen, sondern bezieht sich auf eine Subjektstruktur, die `immer in Bewegung bleibt´, die sich ihrer

`Authentizität´ über `neue Erfahrungen´ [jew. sic!] versichert.“

32

als zeitbasierte Tätigkeit mit bestenfalls (im-)materiellem Ergebnis beschreiben. Entgegen der industriellen, hierarchischen Arbeitsteilung sind die spätmodernen Projektmitarbei-ter_innen oftmals in den gesamten Schaffensprozess involviert. So lässt sich ein Wandel der Entstehungskette von Produzent_in und Produkt zunehmend in die von Autor_in bezie-hungsweise Künstler_in und Werk beobachten.119

Dennoch steht die Verzahnung von Ökonomie und Kultur gegenwärtig nicht auf der Schwel-le der Realisierung des Beuys´schen Diktums, dass jeder Mensch zum_zur KünstSchwel-ler_in befä-higt sei. Zwar trägt die Kulturökonomie das Kreativitätsdispositiv in zahlreiche Lebensberei-che und mag bisweilen einen einschlägigen Habitus120 befördern, doch verankern sich in der Gesellschaft langfristig andere – verwandte – Identifikationsfiguren im kollektiven Streben nach gelungener Subjektivierung. Das romantische oder gegenkulturell konnotierte Selbst-verständnis als Künstler_in, welches im Zuge des Kreativitätsdiskurses eine gewisse Profani-sierung erfährt, findet lediglich als Nebentätigkeit Eingang in diverse Normalbiografien.121 Auf professioneller Ebene hingegen, auf welcher sich das Schöpferische und das Ökonomi-sche idealerweise durchdringen, erÖkonomi-scheint die Begriffsperson des_der singulären und auto-nomen Künstlers_Künstlerin als zunehmend überholt.122 Angesichts der Normalisierung der Kunst zeigt sich, dass die Figur des_der Künstlers_Künstlerin, welche lange Zeit außerhalb der gesellschaftlichen Normalität situiert war, Inklusion erfahren hat. Der_die ehemalige Kritiker_in der herrschenden Verhältnisse ist nun sogar nicht mehr nur eine eingemeindete Habitusform unter vielen, sondern in seinem_ihrem Dasein als Realperson oftmals eher

119 Reckwitz 2017: S. 117.

120 Zur Vertiefung: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main 1970, Kap. 4, S. 125-158. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.

Main 1987, Buch I., Kap. 3, S. 97-121. Lenger, Alexander/Schneickert, Christian/Schumacher, Florian (Hg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013.

121 Gemeint seien an dieser Stelle neben der Kreativitätsmaxime am Arbeitsplatz, die freizeitliche Belegung von einschlägigen Kursen und Workshops sowie der zunehmend routinisierte Umgang mit bild- und tongebenden Medien, wie exemplarisch das ubiquitäre Fotografien und Filmen via Smart-phone. Diese Praktiken ermöglichen situative Gefühle von mitunter eigener kreativer Schöpfungs-kraft, Subversion, Autonomie oder Innovationsvermögen.

122 Daraufhin allerdings von einer Renaissance des arbeitsteiligen Großateliers zu sprechen mag ge-genwärtig noch zu gewagt sein, selbst wenn sich hierfür einschlägige Beispiele anführen ließen, wie beispielsweise Jeff Koons, Ólafur Elíasson oder Ai Weiwei. Eine deutliche Tendenz zur Auftragskunst, wie sie Rauterberg (2015: S. 16) konstatiert, beschreibt Peter Dittmar auch noch im Jahr 2019 als anhaltend: Dittmar, Peter: Die Fließbandkünstler, in: Die ZEIT, Nr. 19 (02.05.2019), S. 26.

Zur Vertiefung der gegenwärtigen Rollen des_der Künstlers_Künstlerin siehe exemplarisch: Die Bei-träge von von Bismarck, Krieger, Lange, Mader, Fastert und Gelshorn, in:

Fas-tert/Joachimedes/Krieger 2011. Salmon, Naomi Tereza: Als ich Künstler war oder: Von der Zäh-mung und Professionalisierung einer mythischen Freiheit oder: der Künstler als Arbeiter, Onlinepub-likation 2013 (Diss.).

33

ein_e prekär beschäftigte_r Arbeitskraftunternehmer_in im Dienst der Kultur-, Werte- und Wohlfühlökonomie.123

Vor dem Hintergrund der oben erwähnten zunehmenden Transformation des_der Produ-zenten_Produzentin zum_zur Autor_in tritt mit Blick auf die „zweite Reihe“ hinter dem_der Kunstschaffenden eine in der Gegenwart adaptivere Affizierungsfigur in Erscheinung:

der_die Kurator_in. Diese_r bildet den Fluchtpunkt der spätmodernen Anforderungen eines unternehmerischen und zugleich kreativen Subjekts. In der Praxis vereint das Kura-tor_innenwesen das Paradoxon von wirtschaftlichem Management und künstlerischem Arrangement zu einem sinnlichen Konsumgut. Die Arbeit, das (Ausstellungs-)Projekt, über-steigt bestenfalls die Grenzen des Kunstfeldes, wodurch der_die Kurator_in eine gesamtge-sellschaftliche Prämierung durch den erfüllten „`Instrumentalitäts-Deal´ [sic!]“124 erfährt.

Darüber hinaus versteht sich der_die Kurator_in gegenwärtig weniger als selbstlose_r Neu-arrangeur_in von Beständen, sondern schöpft die Möglichkeit, seiner_ihrer „kuratorischen Konzeption einen eigenständigen Rang zu verleihen“125 zunehmend aus. Das von Harald Szeemann zu Beginn der 1970er Jahre geprägte Berufsbild des geistigen Gastarbeiters be-sitzt bis in die oder womöglich insbesondere in der Gegenwart eine hohe Attraktivität. So werden aus Ausstellungen kanonische „Werke“ und aus den Dienstleister_innen „Superku-rator_innen“ – analog zu wenigen ausgewählten „Künstlerstars“126.

Ungeachtet des Status als frei respektive festangestellt, beschreibt das Berufsprofil des Kurators zwei Aufgaben. Die primäre Tätigkeit lässt sich als das „Verfahren des Auswäh-lens, ZusammenstelAuswäh-lens, Ordnens und Präsentierens“127 beschreiben. Sekundär ergibt sich aus der ersten Praxis des Kompilierens die Auflage beziehungsweise das Privileg der Bedeu-tungsstiftung. Dies impliziert auch die Bestimmung „über die jeweilige Position im Feld und im aktuellen Diskurs.“128 Diese Berufsbeschreibung lässt sich vom Spezialfeld der Kunst gut auf die gegenwärtige kulturökonomisierte Gesellschaft hin öffnen. Hierin erscheint der_die

123 Siehe dazu vertiefend: Rauterberg 2015.

124 Nach Reckwitz (2017: S. 367) besagt der arbeitsweltliche Begriff des „`Instrumentalitäts-Deal[s]´

[sic!]“, dass „Aufwand und Ertrag [] sich in der Balance“ befinden.

In terminologischer Hinsicht sei ergänzend auf das „Leistungsprinzip“ bei Nachtwey (2016: S. 113) verwiesen: „Das Leistungsprinzip stellt eine Verbindung zwischen dem individuellen Aufwand und dem daraus legitim zu erwartenden Ertrag her und gibt Kriterien vor, wie dieser Ertrag bezüglich des Einkommens, der sozialen Position etc. auszusehen hat.“ Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft.

Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.

125 Von Bismarck, Beatrice: Kuratorisches Handeln. Immaterielle Arbeit zwischen Kunst und Ma-nagementmodellen, in: Von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung, Zürich 2003, S. 81-98, S. 87.

126Das Prinzip der „Starifizierung“ (siehe Reckwitz 2017: S. 160) gebiert auch die öffentlichkeitswirk-samen „Starliteraten und Stararchitekten, die Stardesigner und Schauspielstars, die Kunststars und Starköche, die Starmoderatoren etc., etc. und damit [] die oberste Etage der creative economy [sic!].“ Reckwitz: 2017, S. 174.

127 Von Bismarck 2003: S. 87.

128 Von Bismarck 2003: S. 87.

34

Kurator_in in seiner_ihrer Funktion als Sozialfigur, zumal seine_ihre professionellen Tätig-keiten zur Alltagsroutine in der breiten Bevölkerung diffundiert sind. So findet die Figur des_der Kurators_Kuratorin in annähernder Reinform seine_ihre Entsprechung in dem_der spätmodernen, digital vernetzten Influencer_in129. Diese bisweilen hauptberuflichen Trend-setter_innen, deren Fokus zumeist auf Gütern des „guten Lebens“ und eines wertegeleite-ten Lebensstils liegt, richwertegeleite-ten sich gegenwärtig vorrangig an jüngere Generationen. Doch im Zuge der Normalisierung der Digitalität ist damit zu rechnen, dass die personalisierte Dis-kursprägung durch Influencer_innen in den sozialen Medien einen gesamtgesellschaftlichen Aktionsradius erreichen wird.

Neben der exklusiven Befähigung der Bedeutungsstiftung findet auf der Ebene der Subjektivierung die primäre Tätigkeit des_der Kurators_Kuratorin – das Arrangieren – Ein-gang in die breite Praxis der Singularisierung. Unter dem Slogan „Pick´n´mix130 steht es nun prinzipiell allen gesellschaftlichen Akteur_innen frei, sich selbst kuratorisch zu betätigen und das eigene Leben als singulär und begehrenswert auszustellen. Zwar bleibt die Selbst-werdung als souveräne_r Kosmopolit_in womöglich ein Charakteristikum der neuen Mittel-klasse131sowie der Oberschicht. Das Prinzip der entgrenzten Kultur, der „globale[n] Hyper-kultur [sic!]“132, ermöglicht es allerdings per se allen Schichten, sich diverse Kulturgüter und Habitusformen anzueignen. So setzt eine gegenseitige Vermischung die Klassifizierungen von vermeintlich high & low in zahlreichen Lebensbereichen (Kleidung, Sprache, Ernährung, Freizeitverhalten) im Idealfall außer Kraft.133

129 Siehe dazu exemplarisch: Buhl, Marius: Sie ändert das Leben, in: Die ZEIT, Nr. 38 (12.09.2019), S.

76-77. Baurmann, Jana Gioia: Bücher mit sieben Siegeln, in: Die ZEIT, Nr. 21 (17.05.2018), S. 25. Nieberding, Mareike/Stephan, Björn: Die Einfluss-Reichen, in: Die ZEIT, Nr. 13 (22.03.2018), S. 15-17.

Baurmann, Jana Gioia: Du bist sooo süß!!!, in: Die ZEIT, Nr. 3 (12.01.2017), S. 30.

130 Nederveen Pieterse, Jan: Hybridität, na und?, in: Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer,

Brit-ta/Manzeschke, Arne (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Trans-differenz, Frankfurt/New York 2005, S. 396-430, S. 399.

131 Vertiefend zur Entwicklung der neuen Mittelklasse, siehe: Reckwitz 2017, insbes. Kap. V.

132 Reckwitz 2017: S. 17.

133 In der Lebensrealität finden sich beispielsweise im Bereich der Sprache oder der Habitusformen durchaus Belege für kulturelle Durchdringungen der Klassen. In ihrer Gesamtheit jedoch zementieren die Einkommens- und Bildungsunterschiede beziehungsweise das finanzielle und kulturelle Kapital die Segregationstendenzen der Gesellschaft. Zur Vertiefung siehe Reckwitz´ „Tableau der spätmo-dernen Klassen und ihrer Relationen“ (2017: S. 363-370).

35

Im Dokument "Verschiedene Arten zu sein." (Seite 30-37)