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III. Governance-Debatte und Neoinstitutionalismus: Alternative Erklärungsansätze?

1. Die governance-Diskussion 1 Allgemeine Definition

1.7 Fazit

Der governance-Ansatz bietet hinsichtlich des argentinischen Falles zwar gegenüber traditio-nellen Erklärungsrichtungen aus Strukturalismus und Neoklassik einige Vorteile.

Zu diesen zählen insbesondere, dass er weniger einzelne (wirtschafts-)politische Maßnahmen in Form von Modifikationen einiger volkswirtschaftlicher Stellgrößen in den Mittelpunkt sei-ner Überlegungen stellt, sondern größere Ablaufkomplexe beachtet. Bei Kriterien wie Trans-parenz, Zurechenbarkeit, Rechtsstaatlichkeit oder dem guten Management des öffentlichen Sektors handelt es sich nicht mehr eigentlich um Entwicklungsstrategien, sondern um die Auseinandersetzung mit Voraussetzungen für Entwicklung. Auch wenn Weltbank und OECD in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor mit einem eher markliberalen und damit neo-klassischen Wirtschafts- und Staatsbegriff verbunden werden, so treten sie auf diese Weise doch gleichsam einen Schritt zurück und beschäftigen sich mit den Voraussetzungen für eine erfolgreiche und nachhaltige Implementierung von Reformpolitik.

Dieser Schritt fällt aber nicht groß genug aus; der Kreis aus Reformvorschlägen und Reform-misserfolgen wird sich so kaum durchbrechen lassen. Denn dieses governance-Konzept bleibt

442 Louise Fréchette auf der Weltkonferenz zum Thema governance am 31.5.1999, zitiert nach Hermann Hill/Helmut Klages:

Good Governance und Qualitätsmanagement. Europäische und internationale Entwicklungen, a.a.O., S. 5.

- wie bereits Strukturalismus und Neoklassik - weitgehend dem technokratisch-administrativen Bereich verhaftet. Zur erfolgreichen Durchführung von Reformen, so geht der hier zu Grunde gelegte Argumentationsstrang, müssen wiederum Reformen durchgeführt werden, die dann ihrerseits zu einer Verbesserung der governance und darüber zu einer im weiteren Verlauf positiven Wirtschaftsentwicklung führen. Auch wenn auf diese Weise tat-sächlich eine Erörterung der Grundlagen zufriedenstellend umgesetzter Wirtschaftsreformen erfolgt, so kommt es damit aber noch nicht zu einer Beantwortung der Frage nach den Vor-aussetzungen für erfolgreiche Reformen insgesamt. Der Erfolg wirtschaftlicher Reformen wird lediglich abhängig gemacht vom Erfolg anderer, vorzulagernder Reformschritte.

Da der governance-Ansatz aber aufgrund seiner Prozessbezogenheit dennoch als sehr poten-zialreich erscheint, soll in den folgenden Abschnitten seine Erweiterung und Ergänzung ver-sucht werden. Hierzu erfolgt nun eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Neoinstituti-onalismus als dem wesentlichen theoretischen Bezugsrahmen des governance-Konzepts. In diesem Zusammenhang werden auch verschiedene Neoinstitutionalismus basierte governan-ce-Modelle erörtert werden.

2. Neoinstitutionalismus und Transaktionskostenanalyse

Im Mittepunkt des Neoinstitutionalismus steht die Untersuchung der Institutionen einer Ge-sellschaft. Seine Wurzeln reichen weit in die Vergangenheit zurück und gehen u.a. auf Charles de Montesquieu, Hans Kelsen, Max Weber, Joseph Schumpeter und Alexander Ger-schenkron zurück. Während die Wirtschaftswissenschaften Institutionen erst relativ spät in ih-re Überlegungen aufnahmen,443 waren sie in der Politikwissenschaft schon immer wichtige Untersuchungsgegenstände.

Dem vor diesem Hintergrund vereinzelt erhobenen Vorwurf, beim Neoinstitutionalismus solle angesichts einer langen institutionalistischen Tradition „das Rad neu erfunden“444 werden, halten Thelen und Steinmo jedoch entgegen, dass durchaus die Bezeichnung „neo“ rechtferti-gende Unterschiede zu früheren institutionalistischen Strömungen feststellbar seien. Diese hätten häufig stark normative Züge aufgewiesen und sich dabei vielfach auf die Beschreibung von Institutionen und ihren Abgleich mit hypothetischen Idealzuständen beschränkt, was

443 Borner, Brunetti und Weder äußern ihr Erstaunen darüber, dass die - ihrer Meinung nach offensichtliche - herausragende wirtschaftliche Bedeutung von Institutionen so lange kaum beachtet wurde und sprechen in diesem Zusammenhang von „the rise and fall of neoclassical growth theory“. Silvio Borner, Aymo Brunetti, Beatrice Weder: Institutional Obstacles to Latin American Growth, a.a.O., S. 11 und 13.

444 Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Institutionalism in comparative politics, in: Sven Steinmo, Kathleen Thelen, Frank Longstreth (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, Cambridge 2002, S. 3.

nig zum Verständnis politischer Prozesse beigetragen habe.445 Der Neoinstitutionalismus hin-gegen konzentriere sich sehr viel konkreter auf politische Abläufe und Interaktionen, und so-mit auf die institutionelle Realität und die tatsächliche Anwendung bestimmter institutioneller Parameter.446 Arbeiten, die in diesem Sinne dem Neoinstitutionalismus zugerechnet werden können, tauchen verstärkt seit Ende der 70er Jahre auf.447

Zusammen mit der governance-Debatte erlebte der Neoinstitutionalismus etwa seit Beginn der 90er Jahre eine starke Bedeutungszunahme.448 Dies bezieht sich insbesondere auf die Wirtschaftswissenschaften, wo das lange weitgehend unangefochten wissenschaftliche und öffentliche Debatten dominierende neoklassische Wachstumsmodell durch die Berücksichti-gung institutioneller Faktoren herausgefordert wurde. Von besonderem Interesse im Rahmen dieser Arbeit ist dabei das Erstarken der wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Neuen In-stitutionenökonomie (NIÖ), die die Aufzeigung von Wechselwirkungen zwischen Institutio-nen und einer Fülle sozioökonomischer Variablen zum Gegenstand hat. Diese Möglichkeit zur Beschäftigung mit Zusammenhängen zwischen Institutionen und sozioökonomischer Entwicklung machen die NIÖ für das governance-Konzept besonders fruchtbar, weshalb Weltbank und DAC auch immer wieder auf sie als wichtigen theoretischen Bezugspunkt ver-weisen.

Was aber ist eine Institution? Wie erklärt der Neoinstitutionalismus Beziehungen zwischen institutionellen Rahmen und Wirtschaftsentwicklung? Und wie bietet der Neoinstitutionalis-mus einen theoretischen Unterbau für das governance-Konzept?

2.1 „Rational choice“ oder soziologischer Institutionalismus?

Eine eindeutige Definition des Begriffs der Institution liegt nicht vor. Auch aufgrund der lan-gen institutionalistischen Tradition gibt es hierzu mittlerweile eine Vielzahl von Überlegun-gen, die sich in ihren Reichweiten und Herangehensweisen teilweise stark voneinander

445 Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Institutionalism in comparative politics, in: Sven Steinmo, Kathleen Thelen, Frank Longstreth (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, a.a.O. Dies merkte schon Ro-nald Coase, „spiritus rector der Neuen Institutionenökonomik“, 1984 an: Nach ihm seien „Amerikanischer Institutionalismus und Deutsche Historische Schule rein deskriptiv geblieben, haben sich nur auf die grundsätzliche Ablehnung der Neoklassik beschränkt und sind zu keiner positiven Theorie gelangt.“ Horst Löchel: Institutionen, Transaktionskosten du wirtschaftliche Entwicklung, a.a.O., S. 21.

446 Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Institutionalism in comparative politics, in: Sven Steinmo, Kathleen Thelen, Frank Longstreth (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, a.a.O., S. 6 f.

447 In diesem Zusammenhang können etwa die Arbeiten Katzensteins, Skocpols, Evans, Rueschemeyer, Halls und Norths ge-nannt werden.

448 „The new institutionalism has been hailed as a most promising approach in the social sciences in the 1990s.“ Jan-Erik La-ne, Svante Ersson: The New Institutional Politics, a.a.O., S. 36.

scheiden.449 Dies spiegelt sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch wider, wo der Begriff In-stitution oft zur Bezeichnung ganz unterschiedlicher Objekte verwendet wird. So sind Parla-ment, Armee und Kirche hier ebenso „Institutionen“ wie wichtige, allgemein anerkannte Per-sonen oder Gesetze und Rechtskonglomerate.450

Bei allen Unterschieden ist den Definitionen jedoch gemein, dass Institutionen einen wichti-gen Einfluss auf menschliches Verhalten haben. Ob nun Vorbilder und Meinungsführer, Großorganisationen oder Gesetze: stets handelt es sich dabei um Formen von Verhaltenslen-kung. So können Institutionen allgemein definiert werden als

„(...) the humanly devised constraints that shape human interaction.“451

Jenseits dieser Definition bestehen jedoch erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, was alles von dieser Definition umfasst ist. Grundsätzlich können dabei mit dem soziologi-schen und dem „rational choice“ Institutionalismus zwei große neoinstitutionelle Strömungen unterschieden werden.452 Obschon sich sowohl „rational choice“ als auch soziologischer bzw.

historischer Institutionalismus mit Institutionen beschäftigen, so bezeichnen Lane und Ersson die Unterschiede zwischen beiden Richtungen jedoch als

„so large that adherents of the two approaches hardly speak to each other. (...) The disagreement becomes large enough to create another gulf between the two approa-ches.“453

Auch wenn eine erschöpfende Darstellung dieser beiden Richtungen in dieser Arbeit nicht er-folgen kann, so ist doch eine kurze Diskussion der Unterschiede zwischen beiden Ansätzen erforderlich, um auf ihrer Grundlage eine Entscheidung darüber treffen zu können, welchem in ihrem Rahmen gefolgt bzw. welche Institutionendefinition ihr zu Grunde gelegt werden soll.

Wesentliche Trennungslinien zwischen den beiden Strömungen verlaufen hinsichtlich der Annahmen zu Handlungsmotivationen und ihrer Untersuchungsfokusse. Der „rational choice“

Institutionalismus konzentriert sich eher auf das Individuum und geht dabei vom Bild des ra-tional handelnden und nach individueller Profitmaximierung strebenden „homo oeconomicus“

449 Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Definitionen findet sich z.B. bei Jan-Erik Lane, Svante Ersson: The New Institutional Politics, a.a.O., S. 24 ff.

450 So wird beispielsweise in der Berichterstattung der Medien immer wieder etwa von der „Institution Ehe“ oder der „Institu-tion Familie“ gesprochen.

451 Douglass North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990, S. 3.

452 Beim „rational choice“ Institutionalismus handelt es sich um die NIÖ, während beim soziologischen Institutionalismus auch vom „holistischen“ oder „historischen“ Institutionalismus gesprochen wird.

453 Jan-Erik Lane, Svante Ersson: The New Institutional Politics, a.a.O., S. 8.

der neoklassischen Wirtschaftstheorie aus. Institutionen stellen in diesem Szenario Restriktio-nen dar, welche die Entscheidungen hinsichtlich der zur Erreichung dieser Profitmaximierung zu wählenden Strategien bedingen, und sind aus Sicht von Handlungsziel und Handlungsstra-tegie exogene Variablen.

Der soziologische Institutionalismus postuliert hingegen, dass nicht allein rationale Profitma-ximierungserwägungen Motivation für Verhalten sei, sondern daneben auch noch andere Zie-le verfolgt würden. Menschen handelten dabei oft nicht nach bewussten Abwägungen, son-dern meist in eher unbewusster Befolgung vorgegebener Normen; dies könne selbst dann der Fall sein, wenn die so initiierten Handlungen objektiv den persönlichen Interessen widersprä-chen. Handlungsmotivationen und -ziele würden dabei vielfach von Organisationen oder an-deren dauerhaften komplexen Strukturen hervorgebracht und geprägt, die vor diesem Hinter-grund auch wesentlicher Gegenstand der Untersuchungen sind. Beispiele hierfür seien etwa Gesellschaftsklassen, die das Verhalten ihrer Mitglieder in tief greifender Weise prägten und bedingten.454 Für den soziologischen Institutionalismus sind daher auch Organisationen bzw.

andere dauerhafte komplexe Strukturen als Institutionen begreifbar, da sie menschliches Ver-halten definieren und lenken: Institutionen sind in diesem Sinne endogene Entwicklungsvari-ablen, die nicht nur Handlungsstrategien, sondern auch Handlungsziele determinieren.455 Ent-sprechend definieren Steinmo und Thelen als Institution im Sinne des soziologischen Institutionalismus:

„[B]oth formal organizations and informal rules and procedures that structure conduct.

(...) Thus, clearly included in the definition are such features of the institutional con-text as the rules of electoral competition, the structure of party systems, the relation among various branches of government, the structure and organization of economic actors like trade unions.“456

Die Trennung zwischen Normen, Organisationen und anderen komplexen Strukturen ist hier verwischt. So sprechen etwa March und Olsen von

„traditional political institutions, such as the legislature, the legal system, and the sta-te“,457

und an anderer Stelle von „institutions, such as law and bureacracy.“458 Es wird deutlich, dass Institutionen ein weites Sammelbecken unterschiedlichster sozialer Erscheinungsformen sind,

454 So treffen etwa die Mitglieder gesellschaftlicher Klassen ihre Entscheidungen unter dem Eindruck eines Klassenbewusst-seins und unter Einbeziehung der diversen Vermittlungs- und Konfliktlösungswege, die durch die Institution „Klasse“ tra-diert und vorgegeben werden.

455 Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Institutionalism in comparative politics, in: Sven Steinmo, Kathleen Thelen, Frank Longstreth (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, a.a.O., S. 9.

456 Ebd., S. 2.

457 James March, Johan Olsen: Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York 1989, S. 1.

von denen einige eher abstrakter Natur sind: etwa Gesetze, während andere wiederum eine Rolle als komplexe und sehr aktive Akteure wahrnehmen: wie die Legislative oder der Staat.

Obschon sich beide Strömungen also grundsätzlich mit Institutionen beschäftigen, so wird deutlich, dass sie recht unterschiedliche Untersuchungswinkel einnehmen. So kann sich der soziologische Institutionalismus sehr viel stärker mit sozialen Gruppierungen und ihren Gefü-gen beschäftiGefü-gen. Zudem reklamiert der soziologische Institutionalismus für sich, menschli-ches Verhalten in einer größeren Bandbreite erfassen zu können, wenn seine Vertreter davon ausgehen, die „rational choice“-Annahme, alles menschliche Verhalten sei grundsätzlich Ausdruck von Kosten-Nutzen-Kalkulationen, sei oft „empty“,459 in seinen Annahmen „nar-row“460 und daher wenig geeignet, etwa historische Wandlungsprozesse zu analysieren. Auch Lane und Ersson stellen in diesem Zusammenhang fest, Institutionen würden beim soziologi-schen Institutionalismus aufgrund der besonderen Beachtung der Rolle von Organisationen zu

„actors“461 und könnten in der Gesamtheit ihrer geschichtlichen Entwicklung abgebildet wer-den. Aspekte wie jener des Selbstverständnisses komplexer Organisationen und die Wechsel-wirkungen zwischen diesen und dem kollektiven Handeln ihrer Mitglieder könnte der „ratio-nal choice“ Institutio„ratio-nalismus im Gegensatz zum soziologischen bzw. historischen Institutionalismus nicht greifen.462

Auf der anderen Seite sind die Untersuchungsgegenstände des soziologischen Institutionalis-mus nicht nur sehr weit gefasst, sondern dabei auch noch sehr vielfältig und unterschiedlich.

Bei Untersuchungen stehen nicht nur die normativen Rahmen im Mittelpunkt der Betrachtun-gen, sondern auch die durch sie begründeten Organisationen und die vielfältigen Wechselbe-ziehungen zwischen ihren Mitgliedern und deren Umfeldern. Die Menge der zu berücksichti-genden Variablen - Strukturen, Einbettung der Organisation in die Gesellschaft, interne Gruppen, etc. - steigt hierdurch deutlich an. Weiter erschwert wird das Analyseunterfangen durch die Einbeziehung der komplizierten und schwer qualifizierbaren Wechselwirkungen zwischen Selbstverständnis der Organisation und dem Handeln ihrer Mitglieder: Wo beginnt, wo endet die Eigenständigkeit der Entscheidungen des Einzelnen? Sind seiner Selbständigkeit beim Treffen von Entscheidungen nicht durch die Annahme einer umfassenden, überwölben-den und nachgerade autonomen Einflussnahme der Organisationen, in überwölben-denen er Mitglied ist,

458 James March, Johan Olsen: Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, a.a.O., S. 5.

459 Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Institutionalism in comparative politics, in: Sven Steinmo, Kathleen Thelen, Frank Longstreth (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, a.a.O., S. 9.

460 Ebd., S. 7.

461 Jan-Erik Lane, Svante Ersson: The New Institutional Politics, a.a.O., S. 8.

462 Ebd.

zu enge Grenzen gesetzt? Nach welchen Kriterien erfolgt überhaupt der Austausch zwischen Organisationswerten und den Ansichten und Handlungen des Einzelnen? Denn jeder Mensch ist in aller Regel doch gleichzeitig Mitglied in einer Fülle von Organisationen: Schon das klei-ne Kind ist Mitglied eiklei-ner Familie, eiklei-nes Kindergartens, vielleicht auch eiklei-nes Sportvereins und anderer Kinder- und Jugendorganisationen. Dabei können sich nicht nur innerhalb dieser Organisationen selber wieder informelle und sehr unterschiedliche Untergruppierungen aus-bilden: die Geschwister, die Freunde, „Cliquen“, sondern gesellen sich zu deren Einflüssen auch noch weitere wichtige Bezugsgrößen wie die Peer Group, das Fernsehen, Bücher, Idole, etc.

Somit bewegt sich das Individuum innerhalb eines hoch komplexen Feldes aus unterschiedli-chen Organisationen, deren Zielsetzungen, Zielerreichungsstrategien und damit auch Werte und Vorgaben durchaus nicht immer im Gleichklang zueinander stehen müssen. Ihre Gren-zen, und entsprechend auch ihre Relevanz für den Einzelnen, werden so bis zu einem Punkt fließend, an dem sie ineinander verlaufen können. Wie kann sich das Individuum als letztend-lich grundlegender Träger jeder menschletztend-lichen Gemeinschaft hier zurecht finden, und wie können inmitten dieses Mit-, Neben- und Gegeneinanders Aussagen getroffen werden, die für gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt, und nicht nur für ihre Nischen Gültigkeit haben?

Einen Ausweg aus diesem unübersichtlichen Dickicht verschiedener und vielfach eben auch divergierender Interessen und Einflüsse bietet eine Verbindung von Elementen des „rational choice“ mit solchen des soziologischen Institutionalismus.

Was ist der Vorteil einer Verschränkung von soziologischem mit „rational choice“ Institutio-nalismus? Weshalb nicht etwa eine einfachere Entscheidung für die eine oder die andere Richtung? Vor dem Hintergrund des Gegenstandes dieser Arbeit wäre dann eher dem „ratio-nal choice“ Institutio„ratio-nalismus zuzusprechen; dies allein schon deshalb, weil er aufgrund sei-ner deutlich stärkeren Fokussierung auf Fragen der wirtschaftlichen Entwicklungen das zu ih-rer Beleuchtung und Untersuchung besser geeignete Vokabular anbietet. Auch aus diesem Grund ist vor allem er Fundament sowohl des governance-Konzepts der Weltbank, aber auch noch anderer governance-Ansätze.

Im Falle einer solchen einseitigen Entscheidung aber müsste auf die Erkenntniszugänge, die jede der Richtungen anzubieten hat, zu Gunsten der Schwächen der jeweils erwählten Strö-mung verzichtet werden. Denn aus Sicht dieser Arbeit ist es eine Schwäche des

soziologi-schen Institutionalismus, dass er letztlich keine definitorisch klare Trennungslinie zwisoziologi-schen Form und Struktur, zwischen Organisationen und den diesen zu Grunde liegenden formellen und informellen Regelwerken vornimmt; zumal darüber auch der Blick auf das Individuum in seiner Vielheit wenigstens eingeschränkt würde. Ebenso aber ist es eine unbestreitbare Schwäche der Schule des „rational choice“, dass sie dem Menschen ein stets bewusstes, stets kühl kalkulierendes und stets nach materiellem Vorteil strebendes Verhalten unterstellt, das sich mit vielen Beobachtungen des Alltags nicht vereinbaren lässt. Denn der Mensch ist Teil von Gruppen, die sein Erleben und damit seine Handlungspräferenzen beeinflussen.

So soll in diesem Rahmen von der Überlegung ausgegangen werden, dass die letzte Entschei-dungsgewalt über ein Tun oder Unterlassen stets beim Menschen als bewusstseinsbefähigtem Wesen verbleibt. Diese Feststellung ist bei beiden hier dargestellten institutionalistischen Strömungen auch unstrittig. Während der „rational choice“ Institutionalismus sie zum Kern seiner Aussagen macht, hinterfragt der soziologische Institutionalismus ja nicht die menschli-chen Wahlmöglichkeiten als solche, sondern lediglich deren stets bewusst profitmaximieren-den und in diesem Sinne rationalen Charakter. Ihm stellt er die Feststellung gegenüber, dass vor Entscheidungen vielfach kein bewusstes Abwägen erfolge und so viele Handlungsbe-schlüsse unwillkürlich gefasst würden, dabei unterbewusst angeleitet von den Werten und Normen komplexer sozialer Strukturen, innerhalb derer sich das Individuum bewegt.

Dies wiederum kann jedoch durchaus auch mit den Annahmen des „rational choice“ Instituti-onalismus vereinbart werden; nämlich dann, wenn man „profitmaximierend“ nicht nur in ei-nem rein materiellen und ökonomischen Sinne auffasst. Was vom Individuum als Nutzen bzw. Profit erachtet wird, bewegt sich vor diesem Hintergrund vielfach in Abhängigkeit von dem, was es im Verlauf seines Daseins und seiner damit einhergehenden Mitgliedschaft in verschiedenen Organisationen erlernt hat.463 Nutzen bzw. Profit kann dann auch die Genug-tuung über die Zugehörigkeit zu einer Organisation sein, das Behagen aufgrund der Überein-stimmung mit deren Normen und Zielen, die soziale Anerkennung, die ihm von anderen Or-ganisationsmitgliedern oder Organisationsfremden gezollt wird, sowie auch die Befriedigung angesichts der Bewahrung von persönlichen Überzeugungen auch unter dem Eindruck exter-nen Drucks. Kirchenmitglieder versprechen sich von ihrer Frömmigkeit ihre Aufnahme in den Himmel, Parteigänger unterstreichen durch ihre Mitgliedschaft ihre eigene Identität, wollen einen Beitrag leisten zur Umsetzung der von ihnen als wünschenswert erachteten Ziele oder

463 Douglass North: Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988, S. 50.

mögen auf Parteiämter, Einfluss oder Protektion hoffen, Vereinsmitglieder schätzen das Zu-sammengehörigkeitsgefühl und die gemeinsam unternommenen Aktivitäten, usw.

So unterschiedlich die Inhalte auch sind, das Endziel ist stets das gleiche: nämlich Erhalt oder Steigerung des persönlichen Nutzens.464 Welche Strategien bei der Erreichung dieses Ziels zur Anwendung kommen: also etwa Almosengeben und Beten, Parteispenden und Teilnahme an politischen Aktionen, Befolgung der Vereinsstatuten und Mitwirkung an Vereinstreffen, etc., wird jedoch in weiten Teilen von der jeweiligen Organisation bestimmt. Auch wenn die-se einzelnen Handlungen wohl in der Regel keinen speziellen Kosten-Nutzen-Abwägungen unterworfen werden, so sind sie auf einer übergeordneten Ebene doch immer Teil eines sol-chen Kalküls.

So kann zusammenfassend gesagt werden, dass Organisationen auf diese Weise durchaus eine verhaltensprägende Relevanz haben, und darin dem soziologischen Institutionalismus zu fol-gen ist. Über den Umweg der institutionenbasierten Organisationen präfol-gen Institutionen das Erleben des Einzelnen und werden über Lernprozesse internalisiert; institutionelle Rahmen werden über diesen Transmissionsmechanismus von Generation zu Generation weitergege-ben.465 Organisationen tragen so maßgeblich zur dauerhaften Strukturierung von Lebenswel-ten bei. Andrerseits aber bleibt letzLebenswel-tendlich dennoch immer das Individuum mit seinen Präfe-renzen und seinen ganz persönlichen Kosten-Nutzen-Empfindungen im Mittelpunkt der Handlungen. Auch wenn Organisationen so zwar mitunter als eigenständige „actors“ im Sinne des soziologischen Institutionalismus auftreten können, so ist ihre Eigenständigkeit dabei je-doch begrenzt und kann die Entscheidungshoheit des Einzelnen nur in Extremfällen vollstän-dig überlagern. Daher erscheint es als sinnvoll, das Individuum und sein Erleben in den Be-trachtungsmittelpunkt zu stellen. Auch wenn Organisationen zweifellos eine sehr wichtige verhaltensbeeinflussende Rolle spielen, so bleiben sie dabei doch in ihrer Selbständigkeit den Einzelpersonen nachgeordnet.

Somit soll in dieser Arbeit einem Institutionalismus gefolgt werden, der zwar dem „rational choice“ insgesamt näher steht als dem soziologischen Institutionalismus. Die „rational choi-ce“-Richtung wird dabei jedoch dahingehend modifiziert und erweitert, als dass sie erstens die maßgeblich zielbeeinflussenden und verhaltensprägenden Eigenschaften von

464 Vgl. hierzu etwa Gary Becker: Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1993.

465 Stephen Elkin: Constitutionalism´s Successor, in: Stephen Elkin, Karol Sołtan (Hrsg.): A New Constitutionalism, Chicago 1993, S. 124 f.