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Die qualitativ-rekonstruktive Biografieanalyse

6. Biografische Fallrekonstruktion der Lebenserzählung von

6.2. Familiäres Umfeld und Herkunft als zentrale Bezugspunkte

Während der Flucht von Jessicas Eltern aus dem Irak, zur Zeit des Iran-Irak Golfkrieges, wird diese 1983 in einem bis dato unbekannten Ort im Nordirak geboren. Neben Mutter und Vater begleiten sie auch der knapp achtzehn Monate ältere Bruder, sowie Tante und Onkel auf der Flucht. Auffällig in Bezug auf die Fluchterzählung stellt sich die detaillierte Beschreibung des Aufenthalts im Iran dar, die, aufgrund von Jessicas damaligem Alter, als sekundär erlebt angesehen werden muss und welche deshalb keine inhaltlich relevanten Beiträge bezüglich des narrativen Auswertungsverfahrens liefern kann.

Während der Flucht sehen sich Jessica und ihre Familie mit schwierigen bis lebensbedrohlichen Bedingungen konfrontiert. Die Biografin geht nicht ins Detail;

lediglich das Überqueren gefährlicher Bergwege auf Eseln wird erwähnt. Es folgt ein zeitlicher Bruch nach dem Aufenthalt der Familie in einem dunklen Bunker im Iran, wartend auf Anweisungen der Schlepper, gefolgt von der Ankunft in einem Österreichischen Flüchtlingsheim. Die Dauer der Flucht geht aus dem Interview nicht

50 hervor, jedoch kann aufgrund von Jessicas Erzählungen davon ausgegangen werden, dass sie sich mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten erstreckt.

Als Wendepunkt und entscheidende Situation für ihr weiteres Leben kann das Ende der Flucht angesehen werden. Die Biografieträgerin geht nicht näher auf die weiteren Stationen des Fluchtweges ein und springt stattdessen zu Erzählungen aus dem Flüchtlingsheim in Österreich, in dem sie und ihre Familie zwei Jahre verbringen.

Laut ihrer Lebensdarstellung erkennen die Österreichischen Behörden erst nach einer Periode des jahrelangen Wartes, dass ihre Familie die Definition von Kriegsflüchtlingen erfüllt. Jessica bewertet diese bürokratischen Gegebenheiten als Missverständnis seitens des Staates und sieht die danach rasch erfolgte Anerkennung der Staatsbürgerschaft als Wiedergutmachung. Da sich der Umstand einer Zuerkennung der Staatsbürgerschaft noch vor dem Kindergarteneintritt als unüblich darstellt, bleibt offen, ob es sich dabei um eine Ausnahme handelt, oder ob die Reproduktion dieser Lebensphase fehlerhaft ist.

Die Zeit im Flüchtlingsheim wird von Jessica insgesamt als sehr negativ erlebt „[…] sie uns so lang hab'n leiden lassen in diesem Flüchtlingslager […]“. (S. 2: Z 51)

Die Auswertung der traumatischen Erlebnisse während des ersten Lebensjahres lassen sowohl den Schluss zu, dass die Biografin angenehme, ereignislose Situationen bewusst genießen will und diese auch schätzen kann, als auch die Vermutung, dass aufgrund der Fluchtgeschichte nach Abenteuern gesucht werden soll.

„Ich kann mich erinnern, in den 90er Jahren, wenn ich da zum Beispiel Schulferien hatte zwei Monate, dann war ma einfach im Irak. Gut wir durften natürlich nicht äh, in alle Städte reisen, wegen dem Saddam Hussein, da war er noch am Regime. Äh, zum Beispiel da hab ich noch meine Heimatstadt, wo ich geboren bin, noch nicht, also ich durfte die wiedersehn, noch hab ich die gesehꞌn, ich hab da immer nur eine Stadt gesehen, natürlich die auch in meinem Bereich ist, aber mit der ich keinen Zusammenhang hatte, ich hatte keine Erinnerungen. Für mich war das jetzt quasi wirklich die Hölle ja, weil wo bin ich da, was ist das, also für mich war eigentlich Österreich viel mehr meine Heimat, einfach als dort ja. Und das ist zwischen zwei Welten aufzuwachsen ist auch wirklich schwer. Und es prägt einen auch und es prägt einen auch in der Jugend, ja.“ (S. 7: Z 185-194)

Jessica definiert sich selbst als Kriegsflüchtling. Ihr junges Alter vor, während und direkt nach der Flucht lässt vermuten, dass die damalige primäre Bezugsgruppe aus ihrer Familie und, ihren Erzählungen zufolge, anderen Menschen aus dem Flüchtlingsheim besteht. Jessica legt Bewertungsmaßstäbe fest, indem sie zwischen legitimen und nicht

51 legitimen Migrationsgründen unterscheidet - wobei die Flucht vor Krieg und kriegsähnlichen Zuständen als legitimer Migrationsgrund angesehen wird - und reproduziert so gesetzlich und gesellschaftlich verankerte Bewertungsmaßstäbe für Migrationsbeweggründe.

Im Verlauf des Interviews zeigt sich, dass Jessicas Familie, Erziehung und kultureller Hintergrund - insbesondere in Bezug auf genderspezifische Sozialisationsprozesse - einen wichtigen Stellenwert in ihrem Leben einnehmen. Während der Interviewpause widmet sich die Biografin emanzipatorischen Prozessen, die in ihrem nahen Umfeld stattfinden. Sie erzählt von Freundinnen, die klassische „Männerberufe“ ausüben und erwähnt im Besonderen eine befreundete Technikerin und ihre beste Freundin, die als Feuerwehrfrau tätig ist. Im Rahmen dieser Ausführungen betont sie die aktive und selbstständige Rolle jener Frauen. Sie schätzt die emanzipierte Gesellschaft, in der sie lebt, und offenbart dadurch einen wichtigen Aspekt ihrer Persönlichkeit und Werte.

In Bezug auf ihren ethnischen Hintergrund kritisiert Jessica die autoritäre und strenge Erziehung von Mädchen. Geschlechtsspezifischer Druck, Zwangsverheiratung und die damit einhergehende Einschränkung der Möglichkeiten von Mädchen und jungen Frauen, sind Werte, mit denen sie sich nicht identifizieren kann und will. Gleichzeitig führt sie die positiven Aspekte ihres Lebens auf die emanzipatorische und westliche Sozialisation, welche ihre Lebensumwelt prägt, zurück.

Jessica empfindet die Auswirkungen der strengen Erziehung von Mädchen als negativ und bezieht sich dabei auf Vergleiche ihres Elternhauses mit den konträren und autoritären Erziehungsprinzipien der Eltern ihrer damaligen Freundinnen. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob es sich bei diesen Freundinnen ebenfalls um Mädchen aus muslimischen Elternhäusern handelt - und sie somit Parallelen zwischen unterschiedlichen Varianten religiös-muslimischer Erziehungsprinzipien zieht - oder ob sie eine Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Kulturen anstellt. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen, welche, hinsichtlich ihrer Kleidungswahl und Ausgehzeiten, eingeschränkt werden, betont die Biografieträgerin, dass sie eine freie und liberale Erziehung genießen durfte. Jessica betont, dass eine strengere Erziehung eine Form der Rebellion zur Folge gehabt hätte, da die Jugendzeit, ihrer Meinung nach, eine Lebensphase des "Rebellierens und Ausprobierens" darstellt.

Die Eltern werden von Jessica als unterstützende Ressource wahrgenommen, der sie viel verdankt. Aus ihrer Lebensdarstellung lässt sich ein starker, familieninterner Zusammenhalt ableiten. Dieser manifestiert sich bereits zu Beginn ihrer Erzählung und

52 beansprucht einen wichtigen Teil ihrer Identität. Ihren Migrationshintergrund erlebt die Biografin als positive Ressource, welche ihr ein vertiefendes Verständnis von Dankbarkeit und Toleranz ermöglicht. Als weitere Ressource kann jene Freundin aus Hauptschulzeiten benannt werden, die ihr das Jugendzentrum näher gebracht hat und mit welcher sie bis heute in Kontakt steht.

Die gelegentliche Erwähnung des familiären Kontexts hat einen Anstieg des Narrativitätsgrades zur Folge. Obwohl die Entscheidung für Österreich als Zielland der Flucht den Eltern obliegt, bezieht sich Jessica mit der Titulierung „wir“ in die Entscheidung der Landeswahl mit ein, und widerspricht damit vorhergehenden Äußerungen, denenzufolge die Landeswahl reiner Zufall war. Insgesamt lässt sich eine große Identifizierung mit der Familie und den Eltern vermuten. Die Verwendung des Personalpronoms „wir“ unterstreicht die Gefühle von Einheit und Zusammenhalt, welche ihr gesamtes Leben durchwirken.

Jessica zeigt ein starkes Bedürfnis zur Weitergabe und Vermittlung von liberalen Wertvorstellungen, welches durch Verweise auf ihre eigene liberale Erziehung und ihr Elternhaus an unterschiedlichen Stellen - teilweise durch inhaltliche Sprünge - betont wird. Der Besuch einer katholischen Klosterschule als muslimisches Mädchen lässt vermuten, dass diversitäre Werte in ihrer Familie nicht nur vermittelt, sondern auch gelebt werden. Ihr Selbstbild als liberal erzogene/s Mädchen/Frau, das/die in ihrer Kindheit und Jugend viele Freiheiten genießen darf, wird von der Erzählenden mehrmals hervorgehoben, und zwar auch bezugnehmend auf ihren Migrationshintergrund und die damit verbundenen Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten von Mädchen und Frauen. Konkrete Beispiele für ihre Überzeugungen werden an keiner Stelle des Interviews genauer ausgeführt. Aufgrund des (nicht aufgenommenen) Pausengesprächs kann jedoch angenommen werden, dass Jessica sich hierbei auf geschlechtsspezifische, berufliche Chancen bezieht.