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Ergänzende Empfehlungen zum schulinternen Diskriminierungsschutz

A. Empfehlungen zum schulinternen Diskriminierungsschutz

2. Ergänzende Empfehlungen zum schulinternen Diskriminierungsschutz

Schulrechtlicher Diskriminierungsschutz hat auch auf Diskriminierungsgefahren an schulischen Übergängen zu reagieren, die auf dem Zusammenwirken des sozioökono-mischen Hintergrundes der Kinder, der Leistungsbewertung, dem Empfehlungsver-halten der Lehrkräfte sowie den Übergangsentscheidungen der Familien beruhen. Für eine staatliche Regelungspflicht aus Art. 3 GG lässt sich eine strukturelle Mitverant-wortung der Länder für ein Schulsystem anführen, das bisher soziale Ungleichheiten über die Bildungsinstitutionen fortschreibt, verfestigt und verstärkt.487 Zentral ist hier die Schaffung spezifisch zugeschnittener Beratungsstrukturen für Eltern und Kinder sowie die Sensibilisierung von Lehrkräften für diskriminierende Praxen und Orientie-rungshilfen bezüglich Bewertung und Empfehlung.

Partiell könnte zunächst eine klare Beschreibung der Entscheidungskriterien mindestens im Verordnungswege die Empfehlungsqualität verbessern.488 Die Vagheit der Kriterien in manchen Schulgesetzen kann schon unter Berufung auf den Gesetzesvorbehalt problematisiert werden. Klare Ausdifferenzierungen ermöglichen den empfehlenden Lehrkräften eine Orientierung und dienen zudem der Überprüfbarkeit seitens der Eltern. Neben eindeutigen Kriterien können derartige Regelungen explizite Gleichstel-lungsgebote oder Diskriminierungsverbote enthalten, deren Orientierungswirkung noch durch ergänzende Auslegungsmaterialien verstärkt werden könnte. Darüber hinaus sollte über weitere Kompensationsregelungen bezüglich der Leistungstests nachgedacht werden: Neben der Kompensation von behinderungsbedingten Ein-schränkungen könnten hier auch Sprachbarrieren o. ä. Berücksichtigung finden und etwa Prüfungsmodifikationen auslösen.

Flankierend erscheint die verstärkte Aufnahme von Antidiskriminierungsthemen in der Lehrer_innenaus- und –fortbildung elementar. Generell kann zudem das Kriterium der Homogenität zugunsten einer Heterogenität der Lerngruppe i. S. einer Pädagogik der Vielfalt zu hinterfragen sein.489

Wesentliche Bedeutung kommt zudem qualifizierten Beratungsangeboten sowie dem Einbezug unbeteiligter Fachkräfte zu. Mit ihnen können z. B. Distanzen und Vorbehalte der Eltern gegenüber weiterführenden Schularten überwunden werden. Eltern werden über Beratung befähigt, auf gleicher Augenhöhe mit den Empfehlenden zu diskutieren und das Empfehlungsverhalten zu prüfen.490

Ebenso können (verpflichtende) Beratungsangebote an die Eltern genutzt werden, um eventuelle Unterforderungen der Kinder bei zu niedriger Schulwahl zu thematisie-ren.491 Angebote sollten Kindesinteressen einbeziehen und Kindern die Möglichkeit bie-ten, ihre eigene Position – auch unabhängig von den Eltern – zu entwickeln. Sofern

487 Grundlegend zur Diskussion mittelbarer Diskriminierung: Barczak, 2011.

488 Vgl. etwa Huster/Kirsch, RdJB 2010, 212 (216).

489 Vgl. etwa Prengel, 2006.

490 Vgl. etwa Giesinger, ZfE 2009, 170 (179).

491 Vgl. Füssel in: Avenarius, 2010, 381.

das Kind die Tragweite der Laufbahnentscheidung überschaut, besitzt sein Wille erhebliches Gewicht. In der Konsequenz kann hieraus auch ein Vetorecht des Kindes folgen. 492

b) Empfehlungen bezüglich der Gestaltung von Unterrichtsmaterialien und – inhalten (Kapitel III C 1)

Jenseits des eher abstrakt formulierten Erziehungs- und Bildungsauftrags oder des Religionsunterrichts enthalten die Schulgesetze selbst wenig konkrete Vorgaben für die Ausgestaltung der Unterrichtsinhalte. Eine Ausnahme ist der Sexualkundeunter-richt bzw. die Sexualerziehung. Bei der Ausgestaltung des UnterSexualkundeunter-richts sind nicht nur Erziehungs- und Persönlichkeitsrechte, sondern ebenso andere verfassungsrechtliche Wertungen zu beachten.

Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG impliziert zwar, dass Sexualerziehung dieser Institution gerecht werden muss. Nach der Rechtsprechung verbietet jedoch Art.

3 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung. Es wird daher empfohlen, sich an den von Berlin und Hamburg gewählten offenen Formulierungen zu orientieren, die nicht nur gleichgeschlechtlichen, sondern ebenso inter- und transsexuellen Lebensweisen Rechnung tragen. 493

Darüber hinaus schärft ein ausdrückliches schulrechtliches Gebot nicht nur den Blick für diskriminierende Unterrichtsmaterialien (bezüglich aller AGG-Kategorien), sondern ebenso für Lehrinhalte, und vermeidet Rechtsunsicherheiten; zudem vermittelt es Prüf-kriterien, an denen sich die Zulassungsstellen bzw. Gremien und vor allem die Gutach-tenden, die über die Eignung von Lernmitteln entscheiden müssen, orientieren kön-nen.

Nähere Vorgaben und Leitlinien zu diskriminierungsfreier Unterrichtsgestaltung und zur Vermittlung von Antidiskriminierungswissen können der Antidiskriminierungs-konzeption überlassen bleiben.

c) Empfehlungen zum Umgang mit Religion (Kapitel III D)

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthalten ein Grundrecht der Glaubensfreiheit, das umfassend zu verstehen ist. Es erschöpft sich nicht nur in der inneren Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben (i. S. e. negativen Glaubensfreiheit), sondern erfasst die äußere Frei-heit, den Glauben – etwa durch Gebete oder das Tragen von Symbolen – zu bekunden und zu verbreiten (i. S. e. positiven Ausübungsfreiheit).

Die schulische Verantwortung besteht primär darin, Schüler_innen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Glaubenshaltungen in einer Schule zusammenzuführen.

Sie besteht nicht darin, Schüler_innen und Lehrkräfte vor jeder Begegnung mit Äuße-rungen eines von ihnen nicht geteilten Glaubens zu bewahren. In ein und derselben Institution (Schule) stehen negative und positive Religionsfreiheit vielmehr in einem unvermeidlichen Spannungsverhältnis, welches (gesetzgeberisch) unter Berücksichti-gung des Toleranzgebotes zu lösen ist. 494

492 Weitgehender Barczak, 2011, 205.

493 § 12 Abs. 7 BlnSchulG; § 6 Abs. 1 HmbSG.

494 Vgl. auch zum Folgenden nur die Aufbereitung in BVerfGE 93,1 (22) und nur BVerfGE 108, 282 (297).

Religiöse Bekundungen seitens der Schüler_innen wie das Tragen von religiöser Kleidung oder die Verrichtung von Gebeten sind daher auch auf dem Schulgelände grundsätzlich zulässig. Grenzen ergeben sich allein aus der Verantwortung der Schulen, den Schulfrie-den und die Funktionsfähigkeit zu wahren. Einschränkungen sind nur bei konkreter Gefährdung des Schulfriedens zulässig. Vor der Beschränkung der Religionsaus-übungsfreiheit der betroffenen Schüler_innen sind pädagogische Maßnahmen und schulorganisatorische Maßnahmen mit dem Ziel eines toleranten Miteinanders aus-zuschöpfen. Die Schule darf bei Gegenreaktionen und Unruhe der Mitschüler_innen danach nicht sogleich gegen religiös geprägtes Verhalten vorgehen. Von Fällen bewuss-ter und gewollbewuss-ter Provokation abgesehen, stören nicht die Schüler_innen den Schul-frieden, die von ihrer Religionsfreiheit Gebrauch machen, sondern diejenigen, die daran in einer Weise Anstoß nehmen, die mit den Geboten der Toleranz nicht verein-bar ist. Nur wenn erzieherische Interventionen nicht angezeigt sind oder scheitern, ist die Beschränkung der Religionsausübungsfreiheit bis hin zum Verbot als ultima ratio verhältnismäßig.495 Aus diskriminierungsrechtlicher Perspektive erscheint es hier entscheidend, derartige Konflikte um die Grenzen religiöser Bekundungen nicht vor-schnell zu individualisieren und als Konflikt einzelner Schüler_innen wahrzunehmen, sondern in der Klasse und der Schule auch gruppen- und strukturbezogen zu themati-sieren.

Bezüglich der Befreiung vom koedukativen Unterricht aus religiösen Gründen kommen sowohl der Verweis auf spezielle Kleidung o. ä. der betroffenen Schülerin, die Einrich-tung segregierten Unterrichts sowie die Befreiung der Schülerin in Betracht.496 Hier liegt es in der organisatorischen Verantwortung der Schulen, zwischen den Interessen und Bedarfen der Schüler_innen, dem organisatorisch Möglichen und einer grundsätzlich koedukativen Ausrichtung des Unterrichts abzuwägen und diese zu einem Ausgleich zu bringen.

Zentrale Bedeutung kommt hier Beratungsangeboten für Eltern und insbesondere Schüler_innen (elternunabhängig) zu.

Eine abstrakte Regelung zum Umgang mit Religion im Schulgesetz erscheint nicht angezeigt. Leitlinien zum Umgang mit Religionsbekundungen von Schüler_innen bzw.

Befreiung vom koedukativen Unterricht sollten sich eher in den Antidiskriminie-rungskonzeptionen finden.

495 Vgl. hierzu in unterschiedlichen Ausprägungen Spies, NVwZ 1993, 637 (640); Coumont, ZAR 2009, 9 (10 f.);

Zimmermann, LKV 2010, 394 (398); Avenarius in: Avenarius, 2010, 137.

496 Vgl. zur Rangfolge von Segregation, zu Befreiung und Verweis auf spezifische Kleidung insbesondere Coumont, ZAR 2009, 9 (12 ff.) sowie BVerwGE 94, 82 und OVG Münster, DÖV 2009, 822.