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Entwicklungsdynamischer Ansatz zur Kontinuität und Diskontinuität

Im Dokument Wann scheitern Hilfen? (Seite 29-33)

2.2 Entwicklungsverläufe aggressiv-delinquenten Verhaltens

2.2.3 Entwicklungsdynamischer Ansatz zur Kontinuität und Diskontinuität

Im Folgenden wird daher der entwicklungsdynamische Ansatz von Sampson und Laub (1992; 2003) zur Kontinuität und Diskontinuität delinquenter Entwicklungspfade dargelegt. Dieser stellt die lebenslange Stabilität von Kontinuitäten sozialer Auffällig-keiten infrage und erscheint geeignet, die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe der

‚life-course-persistent’ (insbesondere bei männlichen Delinquenten) zu klären. Dies betrifft im Besonderen Kontinuität, Reduktion oder Anstieg von delinquentem Verhal-ten im Erwachsenenalter. Auch bei der darauffolgenden Darstellung von Schutz- und Risikofaktoren steht dieser Entwicklungspfad (LCP) im Fokus.

Ausgangspunkt dieser Theorie ist das Anerkennen des Lebenslaufes als Entwick-lungspfad (‚trajectory‘) mit all seinen Kontinuitäten (insbesondere Delinquenz) und Diskontinuitäten, wie z. B. sporadisch auftretendem delinquenten Verhalten oder Selbstwertempfinden in Kombination mit speziellen ‚life events‘ (‚transitions‘), welche in den Entwicklungspfad der gesamten Lebensspanne eingebettet sind, den Lebens-lauf verändern und Entwicklungspfade umlenken können (Sampson & Laub, 1992).

Dieses Konzept ist als Theorie der altersabhängigen informellen Kontrolle bekannt

(ebd.). Eine der zentralen Fragen dieses Ansatzes lautet: Warum beenden einige Kriminelle ihr delinquentes Verhalten und verüben keine Verbrechen mehr, während andere ihr kriminelles Verhalten über lange Phasen ihres Lebens beibehalten (Laub

& Sampson, 2003)?

Dass die Bedingungen und Entwicklungsverläufe delinquenten Verhaltens sehr kom-plex sein können, bewiesen 1993 Sampson und Laub (2003) sehr eindrucksvoll an-hand einer Follow-up-Analyse der Stichprobe (N=1000) der Glueck-Studie von 1950.

Glueck und Glueck (1950) untersuchten in ihrer Längsschnittstudie, welche signi-fikanten Prädiktoren für Delinquenz, und welche dynamischen Muster für delinquen-tes Verhalten vorliegen. Hierfür wurden jeweils 500 kriminelle und 500 nicht-kriminelle Jungen in einem durchschnittlichen Alter von 12,5 Jahren mit diversen Testverfahren, Befragungen und Interviews über Jahre hinweg beobachtet und un-tersucht. Insbesondere das soziale Umfeld, das Familiensetting, die Qualität des Familienlebens, Dynamik und Temperament der Betroffenen, Aspekte der Intelligenz sowie ihre Charakter- und Persönlichkeitsstruktur wurden beforscht (ebd.). In ihrer Analyse stellten sie fest, dass Delinquente u. a. häufiger in unterprivilegierten Fami-lien und Nachbarschaften leben oder diese FamiFami-lien oft mit finanziellen Nöten, emo-tionaler Kälte, Scheidung und Alkoholismus in Verbindung gebracht werden. Die Be-troffenen selbst wiesen im Vergleich zu der Kontrollgruppe signifikant geringere Schulleistungen auf, gingen früher aus, konsumierten früher Alkohol, bewältigten un-systematischer mentale Probleme, waren aggressiver, wiesen Autoritätsprobleme auf und neigten zu einer geringeren emotionalen Stabilität. Auf diese Ergebnisse gestützt forderten Glueck und Glueck (1950) weitere Analysen zu möglichen kausalen Zu-sammenhängen und zu den Einflüssen persönlicher und kontextueller Faktoren. Stel-ly, Thomas und Kerner (2003) fassen die wichtigsten Erkenntnisse der Re-Analyse von Sampson und Laub in drei Punkten zusammen:

1. Inwieweit sich ein Individuum in seiner Kindheit und Adoleszenz sozial unauf-fällig oder aufunauf-fällig verhält, wird von der Qualität der informellen sozialen Kon-trolle durch Familie und Schule beeinflusst;

2. soziokulturelle Faktoren und der Familienkontext haben keine oder nur eine geringe Vorhersagekraft für das Auftreten delinquenten Verhaltens, da sie e-her indirekt wirken, indem sie Bedingungen strukturieren, die wiederum die in-formelle soziale Kontrolle der Familie beeinflussen;

3. Kontinuitäten sozialer Auffälligkeiten über die Lebensspanne sind möglich und nachvollziehbar, wobei die sozialen Bindungen die jeweiligen Lebensabschnit-te verknüpfen und somit fortlaufend prägen. So kann antisoziales VerhalLebensabschnit-ten in der Jugend zu schwachen sozialen Bindungen im Erwachsenenalter führen, welche wiederum das Sozialverhalten beeinflussen.

Kontinuitäten sozialer Auffälligkeiten, die aufgrund vorausgegangener lebensge-schichtlicher Entwicklungen bestehen, können allerdings durch zusätzlich auftreten-de Lebensereignisse und Erfahrungen auf auftreten-den weiteren Lebenslauf einwirken und diesen ändern, da sich die Qualität der sozialen Bindungen verändern kann (ebd.).

Für die qualitative Analyse (Interviews) reaktivierten Laub und Sampson auf der Ba-sis der Re-Analyse von 1993 im selben Jahr erneut eine Stichprobe (N=52) und teil-ten sie in folgende fünf Kategorien ein: andauernd gewalttätig; nichtgewalttätige ju-gendliche Täter, die im Erwachsenenalter Abstand von delinquentem Verhalten nehmen; sporadisch Delinquente mit einem Onset von Gewaltbereitschaft in der spä-ten Erwachsenenzeit; sporadisch Delinquente, die im Erwachsenenalter Abstand von delinquentem Verhalten nehmen oder punktuell delinquente Muster über die gesam-te Lebensspanne zeigen (Laub & Sampson, 2003). Wie sich im Zuge ihrer Auswer-tung herausgestellt hat, wirken Familie, Heirat, Militärdienst und das Gefängnis viel-fach als ‚turning points‘ und beeinflussen als individuelle Faktoren die Vorhersage des zukünftigen Lebensweges (ebd.).

Eine Kriminalitätsabnahme mit zunehmendem Alter, basierend auf individuellen Diffe-renzen und Kindheitserfahrungen, wurde bei dieser Stichprobe nicht bestätigt.

Sampson und Laub (2003) verweisen aber explizit darauf, dass die Ergebnisse zur Vorhersage delinquenten Verhaltens ausschließlich repräsentativen Charakter für die kriminellen Jungen des Gluecks-Sample von 1950 besäßen, es aber durchaus gene-relle Aussagen zu treffen gäbe: „These 500 men generated some 10.000 criminal and deviant offenses to age 70, and yet we have failed to find convincing evidence that a life-course-persistent group can be prospectively or even retrospectively identi-fied based on theoretical risk factors at the individual level in childhood and adoles-cence” (Sampson & Laub, 2003, p. 588).

Diese Befunde erlauben den Schluss, dass sich Entwicklungspfade (insbesondere delinquente und antisoziale der ‚life-course-persistent‘) verändern können. Eine ent-scheidende Rolle nehmen dabei kritische Entwicklungsübergänge (z. B. der

Schul-eintritt oder der Übergang von der Latenz in die Adoleszenz oder vom Adoleszenten zum Erwachsenen) und indirekt ‚life events‘ (z. B. Militärdienst, Heirat) in positiver und negativer Form ein. „Ursächlich für die Veränderungen im delinquenten Verhal-ten sind aber weniger die Ereignisse an sich, als vielmehr die durch sie entstehenden stärkeren Bindungen, und die damit zusammenhängende Zunahme der informellen sozialen Kontrolle“ (Stelly, Thomas & Kerner, 2003, S. 12).

Auch Werner (2001) konnte in ihrer bekannten Längsschnittstudie „Die Kinder von Kauai“ Wendepunkte im Leben von belasteten Menschen (N=700) ausmachen, die als Jugendliche (geboren 1955) durch vielfältiges Problemverhalten gekennzeichnet gewesen waren. Als positive ‚turning points‘ in dieser multi-ethnischen Kohorte von Kindern auf Hawaii galten auch die Inanspruchnahme therapeutischer Angebote (Psychotherapie), die Unterstützung eines nahen Freundes, die Mitgliedschaft in ei-ner religiösen Vereinigung sowie die Genesung von lebensbedrohlichen Zuständen.

Ein Großteil der weiblichen Jugendlichen (häufig sogenannte Teenager-Mütter) hatte sich im Erwachsenenalter als gut angepasst gezeigt. Die besonders gut Angepass-ten verfügAngepass-ten u. a. über eine zusätzliche spätere berufliche Ausbildung, Beschäfti-gung, persönliche Ressourcen (individuelle soziale Netzwerke), informelle Unterstüt-zung in der Gemeinde und über bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (ebd.).

Während Sampson und Laub (2003) selbst bei Schwerkriminellen von einer Ände-rung des Entwicklungspfades durch ‚turning points‘ ausgehen, stimmen Moffitt und Kollegen (2002) dieser Theorie nur bedingt zu. Die größten Chancen auf eine positi-ve Entwicklungsänderung haben demnach Jugendliche mit einem auf die Adoles-zenz beschränkten auffälligen Verhalten. Diejenigen, deren Verhalten schon früh ver-festigt ist, deren sozial-kognitive Kompetenzen, wie Beziehungsaufbau und Impuls-kontrolle, ungenügend ausgeprägt und die beeinflusst von einer negativen Umwelt sind, werden schlichtweg wenig Gelegenheit haben, ihre dissozialen Karrieren abzu-brechen (Moffitt et al., 2002).

Hinsichtlich des Beziehungsverhaltens in aktuellen zwischenmenschlichen Situatio-nen sind aufgrund dieser vorhandeSituatio-nen und z. T. verfestigten ‚Verhaltensdefizite‘

möglicherweise massive Probleme die Folge. Diese Kinder und Jugendlichen er-scheinen dem Gegenüber als wenig zugänglich, impulsiv, egozentriert, in ihrem Ver-halten unverständlich und schlimmstenfalls ‚schwer aushaltbar‘, was eine alltägliche und auch professionelle Beziehung (bzw. deren Initiierung) erschwert. Möglicher-weise werden Jugendliche, die Interventionsmaßnahmen abbrechen, von den

Pro-fessionellen verstärkt als ‚schwer aushaltbar‘ und wenig zugänglich wahrgenommen.

Dies soll in der vorliegenden Arbeit mit einem eigens entwickelten Bewertungsbogen der Trainingssitzungen überprüft werden.

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