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Empathie und dissoziales Verhalten

Im Dokument Wann scheitern Hilfen? (Seite 55-59)

2.5 Risikofaktoren auf psychischer Ebene

2.5.5 Mentalisierung und empathische Reaktionen

2.5.5.2 Empathie und dissoziales Verhalten

Empathie ist als multidimensionales Konstrukt anzusehen und meint die Fähigkeit, sich in die Gefühle und Perspektiven anderer Menschen hineinzuversetzen und an-gemessen darauf zu reagieren (Wettig, 2009). Köhler (2004) führt weiter aus, dass eine empathische Reaktion bedeutet, „in die Haut eines anderen zu schlüpfen, ihn aus dieser Position zu verstehen und gleichzeitig trotzdem bei sich selbst zu bleiben“

(ebd., S. 171). Um diese Fähigkeit zu nutzen, bedarf es, neben den hier nicht näher erörterten hirnphysiologischen Funktionsweisen, eines regen und angemessenen Inputs von außen. Wettig (2009) schreibt hierzu: „Sieht also ein Kind immer wieder die gleichen freundlichen Gesichter und erfährt Zuwendung, so wird sich sein Spie-gelsystem in Richtung zwischenmenschlicher Verbundenheit, Sensibilität und Ver-trauen entwickeln. Auf dieser Basis kann sich dann durch fortgesetzte Erfahrung beim Heranwachsenden die Fähigkeit zu Intuition und Empathie herausbilden (ebd., S. 68).“

Wie zu dem Erwerb der Mentalisierungsfähigkeit ausgeführt, sind empathische Reak-tionen bzw. Vorstellungen über gefühlshafte SituaReak-tionen über sich und Andere eng mit der frühkindlichen Ausbildung von Selbst- und Objektrepräsentanzen verbunden (Körner, 1998). Empathie erwächst quasi aus einer intakten Selbstwahrnehmung, der Kenntnis der eigenen Gefühle und der damit verbundenen Abhängigkeit von (früh-kindlichen) Erfahrungen und Interaktionen mit Anderen. Die Verfügbarkeit elterlicher Modelle, „die Sensitivität und Einfühlung gegenüber dem Kind oder anderen Anwe-senden zeigen, sind wichtige Einflussgrößen für die Empathieentwicklung“ (Fried-lmeier & Trommsdorff, 1992, S. 147).

Trotz einer umfangreichen Forschungslage liegt eine einheitliche Definition des Kon-strukts ‚Empathie’ nicht vor18, wobei bei einem Großteil der Forscher Einigkeit dar-über herrscht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine empathische Reaktion zu zeigen (Milch, 2008). Ungeklärt scheint indes der Umstand, dass sich Menschen zwar aufgrund dieser kognitiv hoch differenzierten Fähigkeit einfühlen können; aber sie es per se nicht tun müssen (Körner, 1998).

Unstrittig ist der Einfluss affektiver Komponenten wie der der ‚Gefühlsansteckung’, die als eine Vorläuferbedingung für Empathie angesehen wird (vgl. z. B. Körner, 1998; Hosser & Beckurts, 2005). Bei der ‚Gefühlsansteckung’, wie man sie z. B. in Form von reaktivem Weinen schon bei drei bis vier Tage alten Säuglingen beobach-ten kann, wird das eigene Unbehagen zwar durch das Unbehagen eines Anderen ausgelöst, der eigene Gefühlszustand bleibt aber ohne Anteilnahme an dessen emo-tionaler Lage (Friedlmeier & Trommsdorff, 1992). Von einer emotionalen Reaktion kann in diesem Stadium also noch nicht gesprochen werden.

Eine weitere Dimension bezieht die kognitive Fähigkeit zur Perspektivübernahme mit ein, sich in die Lage einer anderen Person hineinzuversetzen und in der Folge deren Situation nachzuvollziehen. So definiert Sachse (2008) empathisches Verstehen als einen „psychischen Prozess, bei dem eine Person versucht, die Aussagen, Verhal-tensweisen oder Empfindungen einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen, nachzuvollziehen, und zwar aus der Perspektive bzw. aus den Voraussetzungen die-ser Person heraus“ (ebd., S. 24). Hier scheint der Bezug zum Mentalisierungskon-zept und zur ToM besonders deutlich, da diese die kognitiven Voraussetzungen bil-den, die Perspektive Anderer wahrzunehmen und sie gegebenenfalls im eigenen Handeln zu berücksichtigen.

Bintig (2004) formuliert mehrere Elemente (Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und an-gemessenes verpflichtendes Verhalten dem Anderen gegenüber), die immer wieder repliziert werden. Für Kröber (2008) stellt sich Einfühlungsvermögen nicht als Wert an sich dar, sondern steht in Verbindung mit Kooperationsbereitschaft, dem Interesse am Anderen und dem gemeinsamen Erfolg. Auch für Friedlmeier und Trommsdorff (1992) müssen sowohl auf emotionaler als auch auf kognitiver Ebene bestimmte

18 Einen Überblick zu unterschiedlichen Auffassungen des Empathiekonzepts und dessen kontroversem Diskurs liefern u. a.

Zepf und Hartmann (2002).

Entwicklungsbedingungen erfüllt sein, um empathisch reagieren zu können (Tab. 3), wobei, nach Ansicht der Autoren, die emotionale Qualität dominiert.

Bedingungen für die Entwicklung einer empathischen Reaktion

Emotionale Bedingungen Kognitive Bedingungen

Gefühlsansteckung als ein angeborener Zustand und Voraussetzung in der Interaktion mit der Mut-ter, die emotionale Reaktion des Anderen als Hinweis für die eigene Befindlichkeit zu erkennen und zu verwenden.

Die Entwicklung des Selbstkonzepts ermöglicht dem Kind eine Trennung zwischen sich und dem Anderen. In der Fortentwicklung erkennt und kon-trolliert das Kind seine Affekte immer besser und kann somit auch zu einer genaueren und modifi-zierbaren Wahrnehmung des Anderen gelangen.

Das erlebte Unbehagen eines Anderen wird vom Kind als eigenes Unbehagen erlebt.

Die Selbst-Andere-Unterscheidung ermöglicht es dem Kind, die erlebte eigene Emotion als die emotionale Lage des Anderen zu erfahren.

Die Gefühlsansteckung führt zur Identifikation mit dem Anderen. So wird z. B. bei Unbehagen ver-sucht, das nunmehr eigene empfundene Unlust-volle zu beenden.

Anteilnahme führt zum Nachdenken über die Situation des Anderen, unter Bezugnahme von Bewertungen, Erfahrungswissen, Werten, Über-zeugungen und Handlungskompetenzen.

Tab. 3: Bedingungen und Aspekte für die Entwicklung einer empathischen Reaktion nach Friedlmeier und Trommsdorff (1992, S. 143-144)

Durch eine entwicklungsbedingte zunehmende Reifung der kognitiven Fähigkeit (Körner, 1998), bedingt u. a. durch die Selbst-Andere-Unterscheidung, tritt die Affek-tansteckung mehr und mehr in den Hintergrund. Für Friedlmeier und Trommsdorff (1992) wird die Empathieentwicklung maßgeblich von der sozio-emotionalen Ent-wicklung beeinflusst. Keime sozialer Bedürfnisse seien zwar angelegt, bedürften aber einer entsprechenden Pflege und Animierung, um sich ausbilden und entwickeln zu können.

Körner (1998) verweist auf eine weitere Kompetenz, die neben der Gefühlsanste-ckung und der Perspektivenübernahme erlernt sein muss, um den Kontext sozialer Situationen zu verstehen: „Denn die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen hin-einzuversetzen, erfordert, daß wir den Rahmen der Situation kennen, in dem sich der andere bewegt. Dieser Rahmen bestimmt die Regeln des Handelns, die Regeln der Interpretation der wechselseitigen (sprachlichen) Botschaften. Und, darüber hinaus, er legt auch fest, welche Phantasien in einer gegebenen Situation angebracht sind und welche unbewußt gehalten werden sollen“ (ebd., 1998, S. 11).

Jugendliche, denen die Erfahrung oder die Fähigkeit (z. B. im Sinne einer fehlerhaf-ten Verarbeitung sozialer Informationen, vgl. Kapitel 2.5.4) fehlt, sicher in

verschie-denen Situations-Rahmen zu interagieren, greifen schneller auf ‚altbewährte19’ Hand-lungsstrategien zurück, ohne das Gegenüber mit seinen eigenen Intentionen und den sozialen Handlungsrahmen mit einzubeziehen.

Bei Personen, die sich gewalttätig und aggressiv verhalten, wird häufig von einem Empathiedefizit ausgegangen (vgl. z. B. Hosser & Beckurts, 2005; Saß et al., 2003).

In ihrer Studie zum Zusammenhang von Empathie und Delinquenz verglichen Hosser und Beckurts (2005) inhaftierte jugendliche Straftäter (N=248) mit einer Gruppe al-tersgleicher Berufsschüler (N=114). Untersucht wurden Empathie, Normorientierung, Delinquenz, kriminelle Einstellungen, elterliches Erziehungsverhalten sowie frühkind-liche Gewalterfahrungen. Die Delinquenzbelastung lag erwartungsgemäß bei den jugendlichen Inhaftierten am höchsten. Die Gewaltstraftäter zeigen sich überdies auch weniger empathisch als nichtgewalttätige Personen. Die empathische Anteil-nahme als Empathiefacette erwies sich als einzig signifikanter Prädiktor für Delin-quenz. Die Autoren konnten tendenziell feststellen, dass die Fähigkeit zur Perspek-tivübernahme mit normkonformer Einstellung einherging. Trotz nur geringer Effekt-stärken für alle Zusammenhänge zwischen Empathie und Delinquenz diskutieren die Autoren die wichtige Rolle der Empathie zur Delinquenzerklärung und schlussfolgern:

„Anhand der Empathie lassen sich die Normorientierung und die Ablehnung bzw. das Befürworten des Begehens von Straftaten vorhersagen“ (Hosser & Beckurts, 2005, S. 16).

Bintig (2004) und auch Kröber (2008) unterscheiden zwischen gewalttätigen Perso-nen, die potenziell nicht in der Lage sind (z. B. aufgrund neurophysiologischer Beein-trächtigungen oder traumatischer Erlebnisse), sich in die Leiden ihrer Opfer einzufüh-len, und Personen, die sich am Leid der Person erregen (Sadist) oder narzisstisch konfigurierte Personen mit ausgesprochen guter psychologischer Wahrnehmungsfä-higkeit – Personen, die also durchaus empathiefähig sein müssen, um eine Befriedi-gung zu erleben. Der automatische Schluss, dass es sich bei Akteuren gewalttätiger Akte um Täter mit mangelnder Empathie handelt, trifft per se nicht zu.

19 Unter ‚altbewährten’ Handlungsstrategien sind früh verankerte Verhaltensweisen zu verstehen, die nicht unbedingt sozial angemessen erscheinen, die aber in einer früheren Entwicklungsphase als hilfreich erlebt und verstärkt worden sind. Auf dieses verfestigte und in seinem Ursprung oft unbewusst verankerte Handeln wird dann in ähnlichen oder unsicheren Situationen zurückgegriffen.

Der größten Gruppe an Gewalttätern bescheinigt Bintig (2004) die Fähigkeit, durch-aus in der Lage zu sein, emotional und kognitiv die Situation des Gegenübers zu er-fassen – wobei sie dies aber:

a) abwehren (z. B. um Schuld- und Schamgefühle zu verdrängen), um die Tat durchzuführen, oder

b) mit dem Leiden der Opfer anderes verfolgen (z. B. Einschüchterung), um ihre Ziele (Geld, Schweigen) zu erreichen.

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