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Wie Reinhart Koselleck gezeigt hat,96 ist der Fortschrittsbegriff mindestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein problematischer Indikator für die Stimmungslage einer bestimmten Zeit, nicht nur weil er von fast jeder gesellschaftlichen Gruppe für ihre Handlungen besetzt wurde, sondern auch da er von den jeweils unterschiedlichen politischen Richtungen ideologisiert und gegen den Gegner verwendet wurde, der dann dementsprechend ‚rückschrittlich’ war. Der am wenigsten umstrittene Bereich des Fortschrittsbegriffs im Kaiserreich war wohl der der technischen Entwicklung. So stellt der Technikhistoriker Wolfgang König „[a]uf kaum einem anderen Feld der Politik […] ein solch hohes Maß an Übereinstimmung fest wie auf dem der Technik.“97

Alle wichtigen Schichten der damaligen Gesellschaft trugen den technischen Fortschritt zum Teil begeistert vorwärts.98 Weder Arbeiterschaft noch Bürgertum im Verein mit den Junkern stellte sich nach der Euphorie der Gründerjahre noch gegen die zunehmende Technisierung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Steigender materieller Wohlstand verbesserte die Stellung des Proletariats in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erheblich und ließ die anderen Schichten auf eine friedliche Lösung der sozialen Frage hoffen.

Ein Kritiker wie Wilhelm Heinrich Riehl mußte sich in dieser positiv-erwartungsvollen Grundstimmung „als erratischer Block“,99 sozusagen aus der ‚Eiszeit’ der Vormoderne, ausnehmen.

95 Vgl. LEHMANN, Der deutsche Wald, S. 188.

96 Vgl. Reinhart KOSELLECK, und Christian MEIER, Fortschritt, in: Otto BRUNNER u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 407-23.

97Wolfgang KÖNIG, Massenproduktion und Technikkonsum. Entwicklungslinien und Triebkräfte der Technik zwischen 1880 und 1914, in: Ders./Wolfhard WEBER (Hrsg), Netzwerke. Strom und Stahl. 1840 bis 1914 (Propyläen Technikgeschichte, Bd. 4) Berlin/Frankfurt a. M. 1990, S. 538. Vgl. zustimmend ROHKRÄMER, Zivilisationskritik, S. 39 f.

98 Vgl. ROHKRÄMER, Zivilisationskritik, S. 51-52.

99 SIEFERLE, Fortschrittsfeinde, S. 149.

Neben empirisch belegbaren Verbesserungen des Lebensstandards speiste sich die Euphorie gegenüber technischen Erfindungen vor allem aus einer interessengeleiteten Mythologisierung der Technik. Zum einen entwickelte diese sich, mittelbar als Wirtschaftsfaktor und unmittelbar, was die Militärtechnologie betraf, zu einer wichtigen Voraussetzung politischer Macht.100 Zum zweiten waren technische Neuerungen, wollten sie bei ihrer Markteinführung erfolgreich sein, auf breite kulturelle Akzeptanz angewiesen; sie mußten also beworben werden.

Zum dritten lag es im Interesse der neuen Berufsgruppe der Ingenieure, deren „berufständische Aufstiegsstrategie […] auf die Brechung des Juristenmonopols“101 und den Eingang ins freie Unternehmertum abzielte, das Hohelied auf die Technik zu singen. In der Auseinandersetzung mit den etablierten Gruppen des Kaiserreichs, wie beispielsweise den Akademikern, rekurrierten die Ingenieure zunehmend auf die „Selbststilisierung […] als umfassender Gestalter und Schöpfer der Technik, des Fortschritts und damit der Kultur, der gegenwärtig zwar unterbewertet sei, aber einer glorreichen Zukunft entgegengehe.“102 Ein gutes Beispiel dieses idealisierten Technikerbilds gibt Max Haushofers Eröffnungsrede zum Wintersemester 1897/98 der Königlichen Technischen Hochschule München, die auch kritischer Untertöne nicht entbehrte.

Gleich zu Anfang betont Haushofer die wirtschaftlichen Erfolge des deutschen Staates, die „in erster Linie dem technischen Beamtenthume mit seiner Pflichtreue, seiner Gewissenhaftigkeit und Uneigentlichkeit, seiner gediegenen wissenschaftlichen Ausbildung“103 zuzuschreiben seien.

Zugleich forderte er von den Technikern, egal ob im Staatdienst oder in der Privatwirtschaft,

„eine gewisse socialpolitische Einsicht“, denn nur so könne der Techniker „auch Antwort geben […] auf die schiefen und einseitigen Urtheile über technische Wissenschaft und technischen Fortschritt, die uns manchmal begegnen.“104 Am Anfang habe die „Fürsorge für die […]

anvertrauten Menschenleben und Vermögenstheile“ zu stehen, dann erst wäre die „Freude an der technischen That“ an der Reihe und erst zum Schluß käme „das Streben nach äusserer Ehrung, nach Erwerb und Gewinn“.105 Symbol des Erfolgs der Ingenieure war die Verleihung des Promotionsrechts für die Ingenieurswissenschaften durch Kaiser Wilhelm II im Januar 1900.106

Die mythische Überhöhung des Kulturfaktors Technik geschah unterdessen im Rückgriff auf die Bilder der griechischen Sagenwelt, durch Anlehnung an das Vokabular des deutschen Idealismus, durch die Einrichtung von Museen der Technikgeschichte wie dem 1903 gegründeten Deutschen Museum in München oder durch die viel besuchten Industrie- und

100 Vgl. KÖNIG, Massenproduktion, S. 539. Vgl. auch HartmutBERGHOFF, „Dem Ziele der Menschheit entgegen.“

Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Ute FREVERT (Hrsg.), Das neue Jahrhundert:

europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 53-58.

101 Ebd., S. 49.

102 Hans-Luidger DIENEL, Zweckoptimismus und –pessimismus der Ingenieure um 1900, in: Ders. (Hrsg.), Der Optimismus der Ingenieure, Stuttgart 1998, S. 12.

103 MaxHAUSHOFER, Die Stellung des Technikers im modernen Staate – Festrede, gehalten zur Eröffnungsfeier des Studienjahres am 4. Dezember 1897, in: Bericht über die Königliche Technische Hochschule zu München, 1897/1898, S. 6.

104 HAUSHOFER, Die Stellung des Technikers, S. 16.

105 Ebd., S. 17.

106 DIENEL, Zweckoptimismus, S. 11.

Technikausstellungen, wie den Pariser Weltausstellungen: Der ‚Weltgeist’ gesellte sich zu Prometheus in den ‚Elektrizitätspalast’, um den ‚Sieg über die Natur’ zu feiern.107

Einen guten Einblick in die hoffnungsfrohe Erwartungshaltung, die auch breitere Bevölkerungsschichten dem technischen Fortschritt entgegenbrachten, bietet eine große Zahl von utopischen Romanen, die um die Jahrhundertwende auf den Büchermarkt drängten und die bereits einige Aufmerksamkeit in der Geschichtsforschung erhalten haben.108 Ein Beispiel dieser Reihe ist Max Haushofers Planetenfeuer (1899). Weniger aufgrund seiner literarischen Qualitäten bleibt der Roman, der im München des Jahres 1999 spielt, beachtenswert. Das Zusammenspiel von Kriminalgeschichte und Fortschrittserwartung wirkt zumeist bemüht und die technologischen Entwicklungen, wie Bildtelephone, Elektrofahrräder, elektrische Hoch- und Flugbahnen und ähnliches können wohl zu den Topoi der utopischen Literatur der Zeit gezählt werden. Der Roman erreicht seinen Höhepunkt, als die Erde von einem Meteoritenhagel getroffen wird, der weltweit schwere Schäden anrichtet, den die Münchner Dank guter Organisation und einer Portion ‚Heldenmut’ wohlbehalten überstehen.109 Interessanter gestalten sich die politische Ordnung der Zukunftsgesellschaft und die Auswirkungen des wirtschaftlichen Fortschritts auf dieselbe. Durch eine ausgewogene Mischung von privatwirtschaftlichen Sektoren und verstaatlichten Schlüsselindustrien, einem System, das Haushofer als

„Staatssozialismus“ bezeichnet, ist es der Zukunftsregierung in einem mehrere Jahrzehnte dauernden Prozeß gelungen, die ‚soziale Frage’ zu lösen:

„[…] konnte man doch überall diese bessere Lebenshaltung fast mit Händen greifen! Überall sah man die Wohnungen besser und gesünder, die Nahrung reichlicher und zuträglicher werden; überall stiegen die Löhne, wurden die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter günstiger. Von einem Jahrzehnt zum anderen ließ dieser Fortschritt sich nachweisen.“110

Nebenwirkungen dieses Wohlstands waren ein Rückgang der Geburtenrate, die rapide Zunahme des Konsums chemischer Drogen sowie Nervenerkrankungen, die sich in einer Epidemie, der Michigan-Krankheit, in Gedankenleserei oder religiösem Fanatismus äußerten. Historisch wichtig ist hier vor allem, daß Haushofer von seiner Diagnose der Gesellschaft um 1900 ausging und damit Einblick in die Stimmung des fin de siècle gibt, die einen Teil der Gesellschaft erfaßt hatte: „Eine nervöse Gereiztheit, die am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bloß ein Merkmal der gebildeten Klassen gewesen war, hatte sich mit der steigenden Volksbildung auf immer weitere Kreise ausgedehnt.“111 Dieses Motiv der „nervösen Gereiztheit“, heute würde man es

107 Vgl. BERGHOFF, Verheißungen der Technik, S. 58-70; HerrmannGLASER, Das deutsche Bürgertum. Zwischen Technikphobie und Technikeuphorie, in: Michael SALEWSKI (Hrsg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19.

und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 35-41; KÖNIG, Massenproduktion, S. 543-548.

108 Vgl. Michael SALEWSKI, Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: Ebd., S. 79-82 und KÖNIG, Massenproduktion, S. 546-547.

109 Dabei handelt es sich keineswegs um die einer kulturpessimistischen Einstellung entspringende Beschreibung einer „Erneuerung Deutschlands unter völkisch-nationalen Vorzeichen“ (RolandINNERHOFER, Deutsche Science Fiction 1870-1914: Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien u.a. 1996, S. 385) oder einer

„Rückkehr zum Bäuerlichen“ (HERMAND, Grüne Utopien, S. 89.).

110 MaxHAUSHOFER,: Planetenfeuer. Ein Zukunftsroman, Stuttgart 1899, S. 80.

111 Ebd., S. 80.

wohl Streß nennen, tauchte um die Jahrhundertwende immer häufiger auf112 und kann auch im Sinne eines immer stärker werdenden Unbehagens angesichts der schnellen lebensweltlichen Veränderung der industriellen Hochphase gedeutet werden.

Wiewohl die Mehrheit der Historiker feststellt, daß die positive Einstellung zu Technik und Fortschritt bei der großen Mehrheit der Bevölkerung auch über das Jahr 1900 hinaus anhielt und erst mit dem Ersten Weltkrieg Zweifel an diesem Paradigma aufkamen,113 so gilt es doch zu betonen, daß sich unter der einheitlichen Oberfläche der Fortschritts- und Technikbegeisterung schon um 1900 Strömungen bemerkbar machten, welche die Basis für eine kritischere Sicht der gesellschaftlichen Auswirkungen der Technisierung boten. Auf dieser Basis entstanden um 1900 eine Reihe von zivilisationskritischen Bewegungen, zu denen auch der frühe Naturschutz zu zählen ist. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts trafen diese Gruppen jedoch noch weitgehend auf eine Umwelt, die gegenüber Technik und Fortschritt unkritisch positiv eingestellt war.