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Keine Einschränkung des Rückwirkungsverbotes bei der Aufarbeitung von Staatsunrecht

Im Dokument DDR-Justiz vor Gericht (Seite 106-112)

G. Die Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht und das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG

I. Keine Einschränkung des Rückwirkungsverbotes bei der Aufarbeitung von Staatsunrecht

Die Frage, inwieweit eine systemimmanente Auslegung des DDR-Rechts geboten ist und ob der Ver-trauensschutz auch die "Auslegung der Normen durch die Staatspraxis" mitumfasst, ist unproblematisch für diejenigen Teile der Literatur zu beantworten, die für eine Suspendierung des Rückwirkungsverbots bei der Aufarbeitung von Staatsunrecht eintreten. Denn folglich wäre man nicht an das Tatzeitrecht und seine Auslegungsmaßstäbe gebunden, sondern könnte nach-träglich bundesrepublikanische rechtsstaatliche Maßstäbe anlegen, indem ein entsprechendes rück-wirkendes Strafgesetz verabschiedet werden würde.

Für die Ahndung staatlich veranlasster Kriminalität unter Durchbrechung des Rückwirkungsverbots finden sich in der Vergangenheit Beispiele. Die Militärgerichte in Nürnberg und Tokio urteilten nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage neuge-schaffener Tatbestände wie dem Verbrechen gegen den Frieden, der Verschwörung, der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation und damit unter Anwendung retroaktivem Strafrechts. Die Verurteilung der Angeklagten war wegen der Einmaligkeit der

Dimension der begangenen Verbrechen unzweifelhaft richtig. Notwendig und wünschenswert wäre allerdings auch hier eine - vor diesem einmaligen historischen Hintergrund begründbare - offene Suspendierung des Rückwirkungsverbots gewesen. 190)

Die Begründung für eine Ausnahme vom Rück-wirkungsverbot bei der Bestrafung der politisch Verantwortlichen wird dabei in der geschichtlichen Wurzel des "nulla poena sine lege"-Grundsatzes gesucht.

Die Ursprünge dieses Grundsatzes reichen zurück bis in die Aufklärung 191). Die philosophische Grund-strömung dieser Zeit verstand die Staatsgewalt als einen Inbegriff "ausgeschiedener und zusammengelegter Individualrechte" 192), wobei die Verbindung der einzelnen Individuen zum Staatsganzen mittels eines Gesellschaftsvertrages geschehen soll. Durch diesen Gesellschaftsvertrag verpflichten sich die Bürger zu Gehorsam gegenüber den vom Herrscher erlassenen Gesetzen, bei gleichzeitigem Verbot von willkürlicher und absoluter Gewalt. Außerhalb des durch den Staat gesetzlich kodifizierten Verhaltens ist der Bürger also frei. Das Gesetz diente demnach als Garant bürgerlicher Freiheit und als Schutz vor richter-licher und behördrichter-licher Willkür. Dieser Gedanke führt konsequent fortgeführt zu dem Rückwirkungsverbot.

Denn der vom Gesetz ausgehende Freiheitsschutz würde konterkariert, wenn der Staat sich durch Änderung der

190) Allgemein zum Thema der Missachtung des Rück-wirkungsverbotes: Naucke, Missachtung des straf-rechtlichen Rückwirkungsverbotes, S. 225 ff.

191) Von denen, die die Idee des Gesetzesstaates vorangetrieben haben, seien hier nur Voltaire (1694-1778), Montesquieu (1689-1755) und Beccaria (1738-1794) genannt. Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen dieses Rechtssatzes vgl. insbesondere Schreiber, Gesetz und Richter, S. 32 ff.; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Rdn. 12 ff.

192) Zitiert nach Schreiber, Gesetz und Richter, S. 35.

Strafgesetze rückwirkend mehr Rechte beilegen könnte, als er bisher hatte 193).

Diese individualrechtsschützende Funktion des Rückwirkungsverbotes wird - wie oben bereits erwähnt - von Teilen der Literatur als Argument für die Suspendierung dieses Grundsatzes bei der Ahndung von Systemunrecht angeführt. Danach bezieht sich der Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbots allein auf den Schutz des einzelnen Bürgers vor staatlicher Willkür, den "ehemals Mächtigen" sei es dagegen verwehrt sich nachträglich auf diesen Grundsatz zu berufen. Die Grundsätze des Rückwirkungsverbots bei der Beantwortung der Frage heranzuziehen, ob die Organe des Staates nachträglich einer straf-rechtlichen Ahndung zugeführt werden können, ist diesem Ansatz gemäß sinnwidrig. 194)

Die grundsätzliche Nichtanwendung des Rück-wirkungsverbots bei der Ahndung von Systemunrecht ist abzulehnen, da dieser Grundsatz - zumindest im Bereich des materiellen Strafrechts - zum unum-stößlichen Kernbereich des Rechtsstaats gehört. Sein Charakter als objektive innere Begrenzung der Staatsmacht und seine subjektive Komponente des Vertrauensschutzes für den einzelnen Bürger sind eherne Prinzipien unserer rechtsstaatlichen Ordnung 195), die nicht aufgegeben werden dürfen. Für eine Abwägung zwischen materiellen Gerechtig-keitsgedanken und Rückwirkungsverbot ist zumindest im

193) Schreiber, Gesetz und Richter, S. 60.

194) So Welke, KJ 3/1995, 369 (377); Schünemann, Diskussionsbericht in Lampe; S. 48; Naucke, KVfG 1990, 224 ff.; Ebenso argumentiert Laage, KJ 1989, 409 (428) um die Durchbrechung des Rück-wirkungsverbotes, bei der Ahndung von National-sozialistischen Verbrechen, durch das KRG 10 zu rechtfertigen.

195) Diese beiden Komponenten des Rückwirkungsverbotes führt Schreiber, Gesetz und Richter, S. 219 auf.

Bereich des Strafrechts kein Raum, der Verfassungsgeber hat hier eine Entscheidung eindeutig zugunsten des Vertrauensschutzes und der Rechts-sicherheit des einzelnen Bürgers getroffen. Das Rückwirkungsverbot erfüllt seine rechtsstaatliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formali-sierung, Aspekte materieller Gerechtigkeit spielen an dieser Stelle keine Rolle. 196)

Unabhängig davon, ob man eine solche Einschränkung für sinnvoll und gerecht hält, übersieht dieser Meinungsansatz der Literatur, dass es für eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot einer ausdrücklichen - Art.79 Abs. 1 GG Rechnung tragenden - Ver-fassungsänderung bedurft hätte, da Art. 103 II GG eine Verfassungsnorm ist, welcher erhöhte Bestandskraft zukommt. Eine Verfassungsänderung mit dem Ziel der unproblematischeren Aufarbeitung von Systemunrecht ist aber nicht erfolgt und kann keinesfalls auf verdecktem Wege erreicht werden. 197)

Deswegen sind auch die Lösungswege in der Literatur abzulehnen, welche einen beschränkten Anwen-dungsbereich des Rückwirkungsverbotes über eine Auslegung des Einigungsvertrages erreichen wollen.

Aus dem Einigungsvertrag ergibt sich vielmehr eindeutig, dass das Unrecht, dass in der DDR geschehen ist, im Rahmen des Art. 103 II GG aufgearbeitet werden soll.

Ebenso wenig überzeugen kann der Meinungsansatz von Hruschka, welcher bei in der DDR begangener Regierungskriminalität über § 7 I Alt.2 StGB bundesdeutsches Strafrecht zur Anwendung bringen

196) So Schreiber ZStW 80, 348 (367); Schünemann, Nulla Poena; S. 26. Vgl. auch Lüderssen, ZStW 104 (1992), 735 (757).

197) Vgl. dazu Joerden, GA 1997, 201 ff.; Dannecker Jura 1994, 585 (593); Wassermann NJW 1993, 895.

will, weil die DDR als Tatort keiner Strafgewalt im Sinne dieser Norm unterlegen gewesen sei. Hruschka kommt zu diesem Ergebnis, da er bei Zwangsstaaten unterscheidet zwischen einer unteren Ordnungsschicht, die als normale Ordnungsschicht dem Rechtsstaat gleicht (Verbot von Mord und Totschlag und Diebstahl beispielsweise) und einer oberen Ordnungsschicht, in der der Staat Regeln schafft, mit deren Hilfe er sich scheinbar selbst legitimiert (das Gebot Regimegegner zu beseitigen, beziehungsweise unter dem Deckmantel des Strafrechts zu Freiheitsstrafen zu verurteilen und der Verzicht auf Strafverfolgung bei Taten die im Zusammenhang mit der Verfolgung von Regimegegnern geschehen sind). Er geht im Bereich dieser oberen Ordnungsschicht davon aus, dass die politische Führungsschicht der DDR einer eigentlichen Straf-gewalt nicht unterworfen war. 198)

Dieser Lösungsansatz überzeugt nicht. Abgesehen davon, dass die Abgrenzung zwischen oberer und unterer Ordnungsschicht im Einzelfall problematisch sein kann, ist der Schluss, dass auf dem Gebiet der DDR zumindest in Teilbereichen überhaupt keine Strafgewalt i. S. d. § 7 I Alt.2 StGB bestanden haben soll, unzulässig. Anwendung findet diese Alternative des § 7 StGB dann, wenn dadurch eine Strafverfolgung ermöglicht wird, ohne sich damit in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzu-mischen. 199) Sie ist dagegen nicht als Möglichkeit gedacht, unproblematisch nationales Strafrecht auf Taten anzuwenden, die in Unrechtsstaaten begangen wurden, um so das Rückwirkungsverbot zu umgehen. 200)

198) Hruschka JZ 92, 665 (670).

199) Beispielsweise Taten, die bei Polarexpeditionen oder auf hoher See auf unbeflaggten Schiffen geschehen.

200) Vgl. zur Kritik an Hruschkas Ansatz, Jakobs, GA 94, 1 (10); Lüdersen, Der Staat geht unter, S. 39.

Doch auch die vorherrschende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung, welche eine uneingeschränkte Anwendung des Rückwirkungsverbotes für zwingend hält, ist sich uneinig über die daraus folgenden Konsequenzen für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts.

Es ist höchst streitig, ob der Vertrauensschutz des Art. 103 II GG gebietet, bei der Frage der Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 244 StGB/DDR auf eine systemimmanente Auslegung des DDR-Rechts zurück-zugreifen oder ob bei der Auslegung des DDR-Rechts bundesrepublikanische Maßstäbe angelegt werden können. Letztere Meinung hält mithin eine Berücksichtigung der Besonderheiten des DDR-systems im Einzelfall auf der Ebene von Rechts-widrigkeit und Schuld für genügend.

Ein weiterer Problembereich ist die Diskrepanz, die zwischen dem positiv gesetzten Recht in der DDR und der Gestaltung der Rechtswirklichkeit existierte. Die Richter in der ehemaligen DDR agierten – insbesondere im Bereich des politischen Strafrechts - in einem Spannungsverhältnis zwischen der nachlesbaren Gesetzeslage und dem dazu in Widerspruch stehenden Inhalt der größtenteils geheim gehaltenen Weisungen und Anleitungen zur Auslegung und Anwendung des Rechts von staatlicher Seite. Es bleibt zu entscheiden, was daraus für die Gesetzwidrigkeit der richterlichen Entscheidung im Sinne des § 244 StGB/DDR folgt. Zieht man den Schluss, dass diejenigen Justizakte nicht als Rechtsbeugungen zu verfolgen sind, welche zwar in Widerspruch zur nachlesbaren Gesetzeslage, aber in Übereinstimung mit staatlichen Anweisungen stehen, hätte das einen umfassenden Ausschluss der Verfolgbarkeit von Regierungskriminalität - und damit auch des Justizun-rechts - in der ehemaligen DDR zur Folge. Stellt man dagegen allein auf die nachlesbare Gesetzeslage der DDR ab und hält die Richter an dem „sozialistisch getönten Rechtsstaatverständnis“ der DDR fest, ist

fraglich, ob man der Rechtswirklichkeit der DDR gerecht wird.

II. DDR-Gesetze und Verstoß gegen höherrangiges

Im Dokument DDR-Justiz vor Gericht (Seite 106-112)