• Keine Ergebnisse gefunden

„Ich erinnere mich an einen Satz, als wir mit der Digitalisierung beginnen sollten. Da sagten die Kollegen, die das für eine Zumutung für unsere Bestände hielten: ‚Ach, und dann schmeißen wir unsere Original hinterher weg, ja?’ Also ich denke, es ist für uns Bibliothekare kaum vorstellbar, dass wir unsere Bücher wegschmeißen. Die Originale ersetzen? [...] Wohl eher nicht.“ (Müller, SBB, I-3.2.)

Über Jahrhunderte wurden verschiedene kulturelle Objekte, Bücher und Schriftverkehr durch Gedächtniseinrichtungen, also Bibliotheken, Museen und Archive, gesammelt, erschlossen, für die Nutzung zugänglich gemacht und aufbewahrt. Sie sind damit nicht nur bedeutsam für die Erinnerungskultur von Nationen, Regionen, Orten oder Personen, sondern stellen mit ihren Objekten auch die Grundlage für verschiedene Forschungsdisziplinen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bereit, deren Ergebnisse sie wiederum aufbewahren und verfügbar machen (vgl. DBV 2018, S. 3 sowie S. 18 sowie S. 20).

Durch den digitalen Wandel seit den 1990er Jahren wurden nicht nur digitale Veröffentlichungen wichtiger, die Wissensrepräsentation findet seit dem zunehmend nur noch digital statt (vgl. Horstmann 2018, S. 108). Für die Gedächtnisinstitutionen bedeutet dies zum einen, dass sich aus der Wissenschaft nun nicht mehr nur die Ergebnispublikationen sammeln und nachnutzen lassen, sondern auch die Forschungsdaten, also die Daten, die während des Forschungsprozesses oder als sein Ergebnis in unterschiedlichen Formen entstehen (vgl. Kindling et al. 2013, S. 45). Zum anderen bieten sich durch die Digitalisierung nicht nur neue Möglichkeiten des wissenschaftlichen Arbeitens, durch Digitalisierungsprojekte werden auch analoge Objekte nun im Internet sichtbar gemacht, strukturiert und erschlossen und stehen so für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung.

Auch wenn, wie anfangs dargestellt, Digitalisate die Originale innerhalb der Gedächtniseinrichtungen nicht ersetzen werden, könnten sie auf Grund ihrer leichteren und schnelleren Verfügbarkeit, der höheren Verbreitung und neuer Möglichkeiten der digitalen Verarbeitung für die Forschung wichtig und damit zu den (digitalen) Forschungsdaten der Geisteswissenschaften werden.

Im Unterschied zu anderen Forschungsdaten, die direkt aus der Forschung entstehen, werden Digitalisate durch die Kulturerbeeinrichtungen konkret für die Nutzer digitalisiert und in der Regel auch direkt durch die Einrichtung, nicht über Repositorien, angeboten.

Durch diese direkte Kontrolle über die Digitalisate als Forschungsdaten ergeben sich jedoch auch verschiedene Fragen: Wie sollten Gedächtniseinrichtungen ihre Digitalisate aufbereiten und verwalten und was ist für sie überhaupt möglich? Könnten Digitalisate auf Dauer die Originale für die Forschung ersetzen? Und welche Anforderungen haben Geisteswissenschaftler an Digitalisate, die ihnen als Quellen, Forschungsdaten und

Hilfsmittel für ihre Forschung dienen sollen? Diese Arbeit wird sich mit der Geschichtswissenschaft als einer der geisteswissenschaftlichen Forschungsdisziplinen beschäftigen, so dass sich aus diesen Aspekten zusammengefasst die Frage ergibt, wie historische Quellen digitalisiert, verwaltet und bereit gestellt werden müssen, um den Anforderungen der Geschichtswissenschaft an ihre Forschungsdaten gerecht zu werden.

Zur Beantwortung der Frage wurden qualitative Interviews mit für die Digitalisierung zuständigen Mitarbeitern von Gedächtniseinrichtungen sowie mit wissenschaftlichen Nutzern geführt. Da diese Interviews sehr ausführlich auf die verschiedenen Aspekte der Auswahl, Herstellung, Verwaltung und Nutzung von Digitalisaten eingehen, wurden jeweils nur drei Interviews pro Gruppe geführt, so dass es sich hierbei eher um Fallbeispiele handelt, welche über keine allgemeine Repräsentativität verfügen können.

Die Interviews wurden dabei mit Mitarbeitern der Stiftung Stadtmuseum Berlin, der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin geführt, die interviewten Historiker stammen aus der universitär-akademischen Geschichtswissenschaft, um sich auf den akademischen Forschungsdatenbegriff und die hiesige Forschungspraxis konzentrieren zu können. Auf die jeweiligen Interviewpartner wird an entsprechender Stelle genauer eingegangen.1 Dabei gibt es ein leichtes Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Fragen in den beiden Gruppen, da sich die Anforderungen der Nutzer relativ leicht mit wenigen Fragen ermitteln lassen, während die Möglichkeiten und aktuelle Vorgehensweisen der Institutionen mittels verschiedener Fragen unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden müssen, wie z.B.

im Bereich des Forschungsdatenmanagements technische, rechtliche, organisatorische und inhaltlich-beschreibende Aspekte vertreten sind.

Da das Feld der Forschungsdaten sehr weit ist, soll am Anfang der Arbeit nur eine grobe Beschreibung der wichtigsten Aspekte und eine für die Arbeit genutzte Definition gegeben sowie die Forschungsdaten speziell für die Geschichtswissenschaft beschrieben werden, wobei verschiedene Aspekte wie Umgang und Austausch der Daten, die Rolle von Gedächtniseinrichtungen sowie die digitalen Entwicklungen innerhalb der Geschichtswissenschaft bis hin zu den Digital Humanities erläutert werden. Auch der typische Forschungskreislauf der Geschichtswissenschaft sowie bestehende Policies von Forschungsförderern für den Umgang mit Forschungsdaten in Bezug auf die Geschichtswissenschaft werden betrachtet.

Anschließend wird auf die Rolle von Digitalisaten als Forschungsdaten eingegangen, es werden Aspekte ihres Managements von Formaten über Metadaten, Qualität und Nachnutzung bis hin zur Langzeitarchivierung erläutert, hinzu kommen Probleme des Urheberrechts und des Datenschutzes bei der Digitalisierung, da „die Arbeit mit digitalen Inhalten [...] untrennbar mit einer erhöhten Sensibilität für Rechtsfragen verbunden“ (Steinhauer 2017, S. 347) ist. Im Anschluss werden die Besonderheiten von Digitalisaten als Forschungsdaten in Kulturerbeeinrichtungen betrachtet, die zuvor noch nicht behandelt wurden.

1 Siehe Abschnitt 5.1. Vorstellung der Interviewpartner und Institutionen.

Der darauf folgende Teil behandelt die Interviews, wobei zunächst die Interviewpartner und die Methodik der Interviews vorgestellt werden. Anschließend wird zuerst auf die Angebote und Möglichkeiten der Kulturerbeeinrichtungen eingegangen, wobei sich ein kurzer Abschnitt mit Webevaluationen beschäftigt, da die jeweiligen digitalen Angebote der drei Einrichtungen für bestimmte Fragen untersucht wurden. Dann werden die Fragen beschrieben und anschließend die Antworten nach Fragengruppen sortiert ausgewertet.

In dem gleichen Schema folgt danach eine Erläuterung und Auswertung der Fragen zu den Nutzeranforderungen.

Die Interviewauswertungen haben dabei eher beschreibenden Charakter, Rückschlüsse und Empfehlungen aus den zuvor ermittelten Möglichkeiten und Anforderungen werden durch einen Abgleich dieser im folgenden Abschnitt beschrieben, um darauf aufbauend abschließend die Frage nach Herstellung, Verwaltung und Bereitstellung von Digitalisaten als Forschungsdaten beantworten zu können.

Obwohl in der Literatur die Themen Forschungsdaten und Digitalisierung oft behandelt werden, ist zur Frage, ob Digitalisate Forschungsdaten darstellen oder wie sie in der Forschung genutzt werden, bisher relativ wenig vertreten. Ein ähnliches Thema findet sich zwar bei Irina Schubert (vgl. Schubert 2018), hier wird jedoch eher auf die Präsentation der Digitalisate, weniger auf ihre Nutzung und die Funktionalitäten oder Anreicherung, Nachnutzung und Verlinkung, alles für Forschungsdaten typische Aspekte, eingegangen.

Dementsprechend spricht sie auch nur von digitalen Primärquellen und zieht keine Verbindung zum Bereich der Forschungsdaten. Zudem legt Schubert ihren Fokus auf Archive und Editionen.

Breit vertreten ist dagegen das Thema der Forschungsdaten und des Umgangs mit ihnen (vgl. Kaden 2018; vgl. Kindling et al. 2013; vgl. Simukovic et al. 2014), wobei sich auch zu den Teilbereichen der Forschungsdaten in den Geisteswissenschaften oder gar der Geschichtswissenschaft Werke zu verschiedenen Aspekten finden, wie z.B. dem Charakter der Daten in diesen Fachrichtungen (vgl. Andorfer 2015; vgl. Cremer et al.

2018; vgl. Sahle/Kronenwett 2013), ihrem Forschungsdatenlebenszyklus (vgl. Puhl et al.

2015) oder der Langzeitarchivierung in diesem Bereich (vgl. Pempe 2012).

Ebenso findet sich Literatur zur Digitalisierung der Geschichtswissenschaft (vgl. Hohls 2018), den digitalen Quellen in der Geschichtswissenschaft (vgl. Schaßan 2018) und den Möglichkeiten, die sich den Geisteswissenschaften durch die Digitalisierung ergeben (vgl.

Crane et al. 2007; vgl. Given/Willson 2018). Digitalisate spielen vor allem bei Rechtsfragen eine Rolle (vgl. Diesterhöft 2014; vgl. Klimpel et al. 2017; vgl. Steinhauer 2017) oder im Bezug auf den Umgang mit digitalisierten Beständen in Gedächtniseinrichtungen (vgl. Stauffer 2016).

Obwohl die Themen Forschungsdaten und Digitalisierung international für alle Fachbereiche in Wissenschaft und Wissenschaftsverwaltung wichtig sind, „sind die Erinnerungsinstitutionen und Infrastrukturkomponenten überwiegend nach nationalen Gesichtspunkten organisiert, auch die Diskussionsnetzwerke orientieren sich an nationalen Communities oder phonetisch getrennten Gemeinschaften“ (Hohls 2018, S.

17). Auf Grund der Rolle von nationalen Infrastrukturen und Richtlinien für die

Forschungsförderung sowie des relativ eng begrenzten Rahmens der hier untersuchten Gedächtniseinrichtungen wird sich diese Arbeit daher zum größten Teil auf den deutschsprachigen Raum konzentrieren, auch wenn auf ausländische Aspekte hingewiesen wird oder sich einige Interviewfragen und -antworten durchaus übertragen lassen.

Auch der viel verwendete Begriff der Digitalisierung bedarf einer genaueren Definition, da darunter sowohl der Prozess der digitalen Ausrichtung einer Institution oder Gesellschaft verstanden werden kann, der Begriff aber auch die Umwandlung analoger Signale in digitale Formate beschreibt (vgl. Horstmann 2018, S. 95; vgl. Lang/Bohne-Lang 2019, S.

147). In der Arbeit wird mit dem Begriff der Digitalisierung in der Regel letzteres, also die Retrodigitalisierung, beschrieben, wobei die Begriffe Digitalisierung und Retrodigitalisierung hier gleichbedeutend verwendet werden.

Auch wenn die Zugänglichmachung von Objekten für die Allgemeinheit einen wichtigen Aspekt bei der Digitalisierung darstellt, soll der Fokus in dieser Arbeit auf den Forschungsdatenbegriff und damit den akademischen Kontext gelegt werden, was sich nicht nur in der Auswahl der interviewten Nutzer zeigt, sondern auch der besseren Vergleichbarkeit in Bereichen wie Datenmanagement, Nachnutzung und Erschließung dient. Auf Grund seiner Bedeutung gerade für Gedächtniseinrichtungen wird der Aspekt der allgemeinen Zugänglichmachung natürlich trotzdem behandelt.

Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der Arbeit die männliche Form verwendet, welche aber selbstverständlich beide Geschlechter mit einschließt.