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1.1 Hintergrund un d Motivation

Die Inhalte elektronischer Patientenakten [EPA], ob sie nun aus dem „Web 3.0“ (1-4), einem Krankenhausinformationssystem [KIS], einem Arztpraxisinformationssystem [AIS] oder aus der Infrastruktur der elektronischen Gesundheitskarte [eGK] (5) stammen, können für viele Fragestellungen der Versorgungsforschung und Epidemiologie wichtige Daten und Antworten liefern – möglicherweise! Anscheinend herrschen in der Forschung zur Primärversorgung Un-sicherheiten über Inhalt, Umfang, Validität und Qualität der verfügbaren Daten, insbesondere der hausärztlichen Routinedaten.

Für Deutschland fehlen der Forschung Daten, die weiterführende, patientenbezogene Informationen zu Behandlungen, Befunden, Verschreibungen, Konsultationsverhalten etc. aus der „letzten Meile“ des Gesundheitssystems, den hausärztlichen Praxen. Aktuelle Unter-suchungen und Statistiken in diesem Kontext basieren zumeist auf Sekundärauswertungen von Abrechnungsdaten, wie z. B. dem „Abrechnungsdatentransfer [ADT] - Panel“ (6) oder den Auswertungen auf Basis der Versichertenstichprobe in Hessen (7). Auch Neugebauer et. al.

vermuten, dass Methoden zur Gewinnung und Analyse von Routinedaten aus der Patienten-versorgung einen wichtigeren Beitrag für die Versorgungsforschung leisten könnten als etwa die vor allem im stationären Umfeld etablierten klinischen Studien (8). Die Vermutung liegt nahe, denn in den Praxen, wie auch im klinischen Alltag, werden unzählige medizinische und administrative Daten patientenbezogen erhoben, gespeichert und verarbeitet. Während moderne KIS zunehmend an Forschungsdatenbanken (Datawarehouse) angeschlossen sind, um z. B. Daten und Parameter für klinische Studien zu liefern, stellten die Arztpraxisinformations-systeme [AIS] der niedergelassenen Ärzte bisher häufig noch Insellösungen aus Sicht der Informationstechnologie dar. Die im Routinebetrieb erhobenen Daten einer hausärztlichen Praxis dienen in erster Linie der praxisinternen Verwaltung und Dokumentation sowie der Abrechnung mit den Krankenkassen.

Mit dieser Arbeit soll eine Methode aufgezeigt werden, um die Datenlücke der Forscher in der Primärversorgung zu schließen. Mögliche Verfahren und Anwendungsmöglichkeiten für zu-künftige Entwicklungen sollen identifiziert wer den, indem eine exemplarische Erhebung von Routinedaten in hausärztlichen Praxen durchgeführt wurde. Die Erhebung erfolgte vor dem Hintergrund der späteren Beantwortung mehr erer medizinischer Fragestellungen auf Basis der gewonnenen Daten. Wesentliches technisches Hilfsmittel der Datenerhebung war die Be-handlungsdatentransfer [BDT] – Schnittstelle (9). Diese ist in nahezu allen AIS verfügbar und ermöglicht es, die Behandlungsdaten einer Praxis aus dem AIS in eine Datei zu exportieren.

Für einzelne Krankheitsbilder, wie Diabetes mellitus, Grippeviren oder verschiedene Arten von Krebserkrankungen existieren Disease-Management-Programme [DMP] der Kassen oder Register. Beispielswiese verpflichtet die freiwillige Teilnahme an einem DMP den Arzt dazu, Daten über den Behandlungsverlauf elektronisch an die zuständige Kassenärztliche

Ver-1.2 Problemstellung

einigung [KV] zu liefern. Viele AIS sind hierfür bereits mit einer entsprechenden Schnittstelle ausgerüstet (10).

Seit dem Jahr 2000 existiert für Vertragsärzte eine im Sozialgesetzbuch 5 (11) verankerte Pflicht, bei der Abrechnung von Leistungen eine Diagnose nach der „Internationalen Klassi-fikation der Krankheiten“ [ICD] (12) zu verschlüsseln und diese Daten elektronisch mittels ADT-Schnittstelle an die KV zu übertragen. Hierüber werden bereits Morbiditätsstatistiken erstellt, die dem Arzt für seine Fachgruppe wieder zurückgemeldet werden und welche auch die Basis für den Risikostrukturausgleich [MorbiRSA] (13) bilden.

Es existieren also bereits erste Ansätze, den Gesundheitszustand der Bevölkerung besser zu erfassen, indem die niedergelassenen Ärzte in ein zentrales Monitoring eingebunden werden.

Was jedoch gänzlich fehlt, ist die regelmäß ige, patientenzentrierte, systematische Erfassung und zeitnahe Auswertung klinischer und sozialer Parameter in den Praxen der nieder-gelassenen Hausärzte, wie dies in anderen Ländern bereits verfügbar ist <2.2>.

Die in dieser Arbeit dargestellte Datenerhebung soll zeigen, welche Informationen in den Be-handlungsdaten der niedergelassenen Hausärzte zu finden sind und inwieweit diese für die Versorgungsforschung und Epidemiologie aufbereitet werden können. Es wurde ein leicht re-produzierbares und praktikables Verfahren für die statistische Auswertung der Routinedaten entwickelt.

Neben einem thematischen Überblick werden in dieser Arbeit der gesamte Prozess der Er-hebung und Aufbereitung von BDT - Daten sowie die daraus gewonnenen Erkenntnisse dar-gestellt. Eingebunden wurden Vorarbeiten und Ideen aus dem Projekt „Medizinische Ver-sorgung in der Praxis“ [MedViP] (14) der beiden allgemeinmedizinischen Abteilungen aus den Lehrbereichen Göttingen und Freiburg. Um Aussagen zu den zukünftigen Entwicklungen auf diesem Gebiet machen zu können, wurden abschließend zwei Umfragen durchgeführt. Zum einen unter deutschen AIS-Herstellern über unterstützte Schnittstellen, zum anderen unter europäischen Forschern zu elektronischen Patientendaten und Klassifikationssystemen.

1.2 Problemstellung

Zusammenfassend lassen sich die folgenden Probleme (Pn) feststellen:

P1: Es liegen unzureichende, patientenbezogene Daten über Morbidität und Versorgung im hausärztlichen Sektor vor.

P2: Die Eignung der BDT - Schnittstelle als technisches Hilfsmittel bei der Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen ist unklar.

P3: Die Alternativen zu einer BDT – Datenerhebung sind unklar.

P4: Es fehlen etablierte Standards, Methoden und Infrastrukturen für den Austausch anonymer Patientenakten im Rahmen der Versorgungsforschung.

1.3 Zielsetzung

P5: Das Dokumentationsverhalten und der Umfang elektronischer Dokumentation unter den niedergelassenen Hausärzten sind unklar.

P6: Die Ziele und Möglichkeiten der Versorgungsforschung auf Basis von hausärztlichen Routinedaten sind unklar.

1.3 Zielsetzung

Für die zuvor genannten Problemstellungen soll diese Arbeit einen Lösungsbeitrag leisten.

Dafür werden folgende Ziele (Zn) definiert:

Z1: Analyse und Beschreibung der BDT - Schnittstelle und der darüber extrahierten BDT - Daten für die Eignung einer Nutzung in der hausärztlichen Versorgungsforschung und Epi-demiologie.

Z2: Erarbeitung eines Verfahrens zur Aufbereitung hausärztlicher Routinedaten für die Ver-sorgungsforschung und Epidemiologie anhand von BDT - Daten.

Z3: Beschreibung des Istzustandes sowie der Anforderungen, Probleme und Ziele an Er-hebungen elektronischer, patientenorientierter Daten in hausärztlichen Praxen im Kontext der Versorgungsforschung und der Epidemiologie.

1.4 Fragestellung

Zu den Zielen, die sich aus den bisherigen Überlegungen und Definitionen ergaben, soll ver-sucht werden, folgende Fragen zu beantworten:

Fragen zu Ziel Z1 (BDT - Schnittstelle):

F1.1: Wie ist die BDT - Schnittstelle definiert, implementiert und nutzbar?

F1.2: Welche Informationen sind in BDT - Daten zu finden und welche nicht?

F1.3: Wie groß ist die Validität der per BDT erhobenen Daten?

F1.4: Lassen sich medizinische Fragestellungen der Versorgungsforschung und Epidemiologie mittels BDT - Daten beantworten?

Fragen zu Ziel Z2 (Verfahren und Methoden):

F2.1: Wie lassen sich Informationen aus hausärztlichen Routinedaten aufbereiten, um diese Forschern mit medizinischem Hintergrund adäquat zur Verfügung zu stellen?

F2.2: Welche Probleme treten bei der technischen Aufbereitung hausärztlicher Routinedaten auf und welche Lösungsansätze gibt es?

Fragen zu Ziel Z3 (Anforderungen der Versorgungsforschung):

F3.1: Welches sind die Ziele von Versorgungsforschung und Epidemiologie und welchen Bei-trag können hausärztliche Routinedaten zur Erreichung dieser Ziele leisten?

1.5 Struktur der Ar beit

F3.2: Welche Anforderungen an technische Lösungen können aus der BDT – Datenerhebung abgeleitet werden?

F3.3: Welche alternativen Datenquellen, Schnittstellen und Möglichkeiten gibt es?

F3.4: Welche Technologien und Datenquellen nutzen Forscher in anderen Ländern?

1.5 Struktur der Arbeit

Der Inhalt dieser Dissertation gliedert sich in insgesamt sieben Teile:

1. Einleitung