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Zusätzlich konnten innerhalb der interdisziplinären Gesamteinschätzung der Psyche in der vorliegenden Studie u. a. signifikante Unterschiede zwischen übergewichtigen (inkl. adipösen) Kindern mit niedrigerem und höherem sozioökonomischem Status in den Kategorien „familiäre Situation“ (p = 0,004), „psychosoziale Problematik“ (p < 0,001) und eine Tendenz in der Kate-gorie „Lebensstil“ (p = 0,052) ermittelt werden. Diese bestätigen die Resultate vorheriger Ver-öffentlichungen und weisen auf soziale Ungleichheiten in einem zusätzlich adipösen Klientel hin, welche als Ressourcen in der Adipositastherapie berücksichtigt werden sollten.

Internationale Studien, welche sich mit der Psyche von Kindern und Jugendlichen und deren Gewichtsstatus beschäftigen, konnten ebenso eine Verbindung dieser Faktoren feststellen.

Eine australische longitudinale Kohortenstudie (1997 - 2000) welche ca. 1 500 Kinder (9 - 12 Jahre) umfasste, konnte einen Rückgang der psychosozialen Funktion und damit dem Wohlbefinden im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas feststellen [115. Dabei wurden mittels der „PedsQL 4.0 - Umfrage“ Scores zur Bestimmung der Lebensqualität ermit-telt, wobei Kinder (und stellvertretend deren Eltern) Selbstangaben zu bestimmten Bereichen tätigten. Eine ähnliche Studie in Schweden, in der ca. 5 000 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren mittels einer Umfrage zu deren psychischer Verfassung befragt wurden, ergab ebenso eine Assoziation zwischen psychischen Problemen (Depressionen) und Adipositas, wobei soziale Isolation und Schamgefühle eine besondere Rolle einnahmen [116].

Bestätigend konnte im Rahmen der vorliegenden Studie ermittelt werden, dass sowohl das subjektive seelische Wohlbefinden als auch das subjektive körperliche Wohlbefinden von Pro-bandInnen mit niedrigerem sozioökonomischen Status signifikant schlechter eingeschätzt wurde.

Der Vergleich zwischen Literatur und vorliegender Forschungsarbeit lässt eine Doppelbelas-tung der betroffenen Minderjährigen vermuten. Es ist möglich, dass übergewichtige und adi-pöse Kinder mit niedrigerem sozioökonomischem Status verstärkt unter bestehender Stigma-tisierung und Alltagsbelastungen leiden, als jene mit höherem sozioökonomischem Status [18, 19]. Mögliche Gründe und Folgen werden im Anschluss näher betrachtet. Demzufolge ist ein übergeordneter Stellenwert der psychologischen Betreuung in der Adipositastherapie unter individuellem Einbezug der Eltern ratsam.

Eine Besonderheit der durchgeführten Studie ist, dass diese Annahme sowohl durch objektive Fremdeinschätzung und subjektive Selbsteinschätzung der Kinder und Jugendlichen (und stellvertretend deren Eltern) bestätigt werden konnte. Auch wenn die meisten Studien eine größere Fallzahl aufweisen, kann diese Studie aufgrund der großen Varianz des Alters und der sozioökonomischen Schichten durch die Nutzung retrospektiver Akten der letzten acht Jahre durchaus repräsentativ für diesen Forschungszweig genutzt werden.

5.2 psychosoziale Aspekte

Innerhalb von psychosozialen Untersuchungen der durchgeführten Studie, zeigten sich kon-krete konsistente Ergebnisse bezüglich eines niedrigeren sozioökonomischen Status und ei-ner signifikant schlechteren psychosozialen Beziehung in allen drei genannten Bereichen.

Eltern übergewichtiger Kinder und Jugendlicher bemerkten, dass nennenswert häufiger Strei-tigkeiten in der Familie auftreten 99. Die Ergebnisse wiesen eine erhöhte Konfliktrate auf Emotions- und Verhaltensebene auf.

Hierbei wurden eine geringere Hemmschwelle und höhere Sensibilität gegenüber persönlicher Kritik deutlich [99]. Diese Studie wurde anhand von 75 übergewichtigen und 76 normalgewich-tigen Kindern zwischen 9 und 17 Jahren durchgeführt.

Diesbezüglich konnte im Rahmen dieser Studie festgestellt werden, dass sich übergewichtige und adipöse Kinder mit niedrigerem sozioökonomischem Status seltener während des Mahl-zeitenverzehrs mit ihrer Familie unterhalten, als Kinder mit höherem sozioökonomischem Sta-tus (p = 0,004). Somit ist anzunehmen, dass familieninterne Interaktionen und der Austausch über Geschehnisse am Tag seltener in sozialschwächeren Familien stattfinden.

Eine Studie, welche 585 Kinder vom Vorschulalter bis hin zur dritten Klasse untersuchte, konnte ebenfalls bestätigen [117], dass Kinder mit niedrigerem sozioökonomischen Status psychosoziale Probleme hinsichtlich des Freundeskreises und der Familie aufweisen, welche mit mangelnder Sozialisation und erhöhter Instabilität sowie Aggressivität verbunden waren.

Oft führen instabile soziale Konstrukte zu Isolation der Betroffenen [91]. Dies kann eine ver-stärkte Nutzung digitaler Medien implizieren, welche in jeder Form verschiedene Werbeanzei-gen beinhalten. Diese können zur Persönlichkeitsprägung besonders von weiblichen Kindern und Jugendlichen, aufgrund von suggerierten (optischen) Werten und Normen, aktiv beitra-gen 118, 119.

Es konnte im Rahmen der vorliegenden Studie festgestellt werden, dass die Dauer des Fern-sehkonsums mit dem Punktsummenscore zur Beurteilung der Selbstliebe korreliert. Dabei ist eine signifikant schwache, negative Korrelation zu erkennen (r(n = 136) = - 0,191; p = 0,026).

Diese weist darauf hin, dass eine erhöhte tägliche Dauer, in der Fernsehinhalte konsumiert werden, mit einem negativeren Selbstbild assoziiert ist. Dieser Fakt bestätigt den besonderen Einfluss von Werbe- und Fernsehinhalten auf die Psyche von Minderjährigen.

Eine internationale Studie, welche 1 128 Kinder (6 - 13 Jahre) inkludierte, stellte fest, dass Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status häufiger und länger fern schauen, als jene mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status 80.

Im Rahmen der durchgeführten Forschungsarbeit unterschied sich die Dauer des Fernseh-konsums ebenfalls signifikant zwischen Kindern mit niedrigerem bzw. höherem sozioökonomi-schem Status (Wochentage: p = 0,002; Wochenende: p = 0,037).

Dabei sahen Kinder mit niedrigerem sozioökonomischem Status täglich länger fern (> 3 h/ Tag), als solche mit höherem sozioökonomischem Status. Zusammenfassend stellt ei-nen wesentlichen Einflussfaktor auf das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen und der Ausprägung von Essstörungen der westlich geprägte, gesellschaftliche Druck zum Schlanksein dar. Dabei sind Einflüsse basierend auf Inhalten von Medien und durch das soziale Umfeld (Freunde und Familie) nachgewiesen [120].

Dieser Fakt kann durch die psychosoziale Untersuchung der Kinder und der zusätzlichen Beleuchtung der digitalen Mediennutzung zuvor, bestätigt werden und wird im Folgenden weiter eruiert.

5.3 Selbstwertgefühl und Selbstliebe

In der durchgeführten Studie konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen einem niedri-gen sozioökonomischen Status bei Kindern und Juniedri-gendlichen mit Übergewicht und Adipositas und einem geringen Selbstwertgefühl sowie einer geringeren Selbstliebe ermittelt werden.

Eine Meta-Analyse, welche 446 Studien (n ≈ 400 000) untersuchte, konnte ebenfalls einen deutlichen Zusammenhang zwischen einem geringeren Selbstwertgefühl und einem niedrige-ren sozioökonomischen Status bei Heranwachsenden feststellen [121]. Eine weitere Studie, welche sich mit der Körperunzufriedenheit und dem Selbstwertgefühl unter selektiver Betrach-tung des Gewichtsstatus und des sozioökonomischen Status beschäftigte, kam zu dem Er-gebnis, dass bei ca. 5 000 Kindern und Jugendlichen (11 - 18 Jahre) ein starker Zusammen-hang zwischen Körperunzufriedenheit und einem geringen Selbstwertgefühl (p < 0,001) be-steht [122]. Dieses Ergebnis variiert zusätzlich je nach Gewichtsstatus (je höher das Gewicht, desto geringer das Selbstwertgefühl) und nach sozioökonomischem Status (je niedriger der sozioökonomische Status, desto geringer das Selbstwertgefühl).

Zusätzlich zeigt eine systematische Review, welche 35 Studien inkludierte, dass ein niedriges Selbstwertgefühl mit Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Verbindung steht [123]. Dieser Zusammenhang konnte bei über der Hälfte der untersuchten Studien fest-gestellt werden.

In diesem psychologischen Forschungsgebiet finden sich keine Studien, welche den sozio-ökonomischen Status sowie den Gewichtsstatus der Heranwachsenden gleichermaßen ein-beziehen. Unter separater Betrachtung dieser Determinanten als Einflussfaktoren zeigen sich bestätigende Ergebnisse zur vorliegenden Studie, zumal das Selbstwertgefühl in allen bekann-ten Untersuchungen durch Selbstangaben und in manchen Fällen ebenfalls durch einen Punk-tescore operationalisiert wurde.

Zudem fanden WissenschaftlerInnen heraus, dass Faktoren wie eine geringe Selbstliebe und geringes Selbstwertgefühl maßgeblich das Verhältnis zum eigenen Körper beeinflussen und damit die Wahrscheinlichkeit an einer Essstörung zu erkranken erhöhen können 91.

Eine Studie beweist, dass unter 196 Kindern und Jugendlichen (10 - 16 Jahre) mit Überge-wicht und Adipositas eine erhöhte Anfälligkeit für pathologisches Essverhalten auftritt 97.

Dabei neigten übergewichtige Kinder insbesondere zu episodischem Binge-Eating, dem Drang nach Dünnheit und Impulsregulationen 100, 101. Im Gegensatz zu Anorektikern un-terliegen diese weniger Selbstkontrolle und einem negativeren Selbstbild 124.

Innerhalb der KiGGS Studie konnte unter 6 634 Kindern und Jugendlichen (11 - 17 Jahre) fest-gestellt werden, dass jene mit niedrigem sozioökonomischem Status nahezu doppelt so häu-fig (28 %) von Essstörungen betroffen sind, als Kinder mit hohem sozioökonomischem Sta-tus (16 %) [102]. Um den Verdacht auf eine Essstörung zu identifizieren, wurde als Scree-ning - Instrument der „SCOFF - Fragebogen“ genutzt.

Das konnte die durchgeführte Studie anhand eines Fragenkomplexes mit errechnetem Punkt-summenscore zur Einschätzung des Risikos an einer Essstörung zu erkranken bestätigen.

Dabei konnte festgestellt werden, dass übergewichtige (inkl. adipöse) Kinder mit einem nied-rigeren sozioökonomischen Status tendenziell ein höheres Risiko aufweisen an einer Essstö-rung zu erkranken, als jene mit einem höheren sozioökonomischen Status (p = 0,051).

Es ist von einer Doppelbelastung durch das/ die vorhandene Übergewicht/ Adipositas im Kindes- und Jugendalter und des niedrigen sozioökonomischen Status auszugehen. Dies erhöht bestimmte Risiken der Betroffenen durch gesellschaftliche Stigmata und Erwartungen und erschwert eine Motivation und mögliche Erfolge durch fehlende Kompensation. Deshalb sollte dies aktiv in der diätetischen Adipositastherapie bei Kindern und Jugendlichen beach-tet werden. Das impliziert die Wichtigkeit einer psychologisch betreuten, individuellen Fami-lientherapie.

Diese Studie liefert dafür erste Anhaltspunkte und verdeutlicht Handlungsbedarf, um die Er-nährungstherapie zu optimieren. Es sind weitere Forschungen auf diesem Gebiet notwendig.

5.4 Limitationen und Stärken

Da die umfangreichen retrospektiven Fragbögen teilweise fehlerhafte und nicht zeitgemäße Fragestellungen sowie ungenaue und lückenhafte Antworten beinhalteten, schränkte dies die methodische Qualität der Variablen ein. Dabei waren die wissenschaftlichen Anforderungen an Validität und Reliabilität nicht vollständig gegeben (Vollständigkeit, Ausschließlichkeit, Ein-deutigkeit). Zumal unterlagen die archivierten Akten der letzten zehn Jahre einer inkonsisten-ten Führung, welche die Erfassung der Struktur beeinträchtigte und somit die Dainkonsisten-tengenerie- Datengenerie-rung erschwerte. Des Weiteren unterlag die Variablenauswahl durch das Heranziehen von ausschließlich retrospektiven Fragebögen einer Einschränkung.

Das Zurückgreifen auf Akten zwischen 2009 und 2017 ermöglichte wiederum eine große zu inkludierende Probandenpopulation von 207 übergewichtigen (inkl. adipösen) Kindern und Ju-gendlichen, welche einer großen Altersvarianz (sieben bis 17 Jahren) und einer großen Vari-anz der sozialen Schichten unterlagen.

Da sich die Studie explizit mit der psychischen Verfassung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas beschäftigte, ist zudem eine repräsentative Übertragbarkeit auf dieses Klientel gegeben.

Aufgrund von subjektiv beantworteten Fragenkomplexen zur Selbsteinschätzung der psychi-schen Verfassung der Kinder, ist davon auszugehen, dass dabei teilweise bestimmte Fragen als unangenehm empfunden wurden. Diese Antworten wurden vermutlich stellenweise be-wusst der Norm und gesellschaftlichen Erwartungen angepasst („soziale Erwünschtheit“). Be-stimmte normabweichende Verhaltensweisen können heruntergespielt (underreporting) bzw.

normkonforme Verhaltensweisen übertrieben dargestellt werden (overreporting). Des Weite-ren kann es zu unbewusster Verzerrung durch Verständnisprobleme der Fragen, ungenauem Lesen und oberflächlichem Ausfüllen der Fragebögen durch Motivationsschwierigkeiten hin-sichtlich des Umfangs gekommen sein. Dies impliziert, dass die Variablen, welche durch Selbstangaben der Kinder, Jugendlichen und Eltern generiert wurden, nicht uneingeschränkt interpretierbar sind.

Andererseits wurden die objektiv fremdbestimmten Variablen durch ausgebildete ÄrztInnen und PsychologInnen erfasst. Das inkludiert sämtliche anthropometrische Angaben, als auch die Einschätzung der psychischen Verfassung des Kindes mittels der ABCD Checkliste. Um eine Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit bei der Verwendung der subjektiven Angaben zu er-reichen, wurden diese für die Hypothesen der Studie mittels verschiedener Punktrechnungen operationalisiert.

Zu beachten ist, dass bei der Operationalisierung des sozioökonomischen Status die Ober-grenze der im Fragebogen angegebenen Einkommensspanne verwendet wurde. Dabei kann es zu einer Überschätzung des tatsächlichen Wertes gekommen sein. Da dies bei jedem/ r ProbandIn gleich gehandhabt wurde, ist dennoch eine Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit des-sen gegeben.