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4.1 L ÄNGSSCHNITTUNTERSUCHUNG DER T ÄTIGKEIT DES PSYCHIATRISCHEN K ONSILIARDIENSTES AM

4.1.4 Diskussion

6 8 1 0 1 2 1 4 1 6 1 8 2 0

Lagtime Konsilpatienten R² = .403 df=8 F=5,40 p = .049 b0 = 1297,05 b1 = -,6458

der Situation Ende der 80er Jahre darstellte, aber kein Paradigma für einen Mechanismus konsiliarpsychiatrischer Interventionen auf die Verkürzung von LOS ist. Handrinos et al. (1998) haben kürzlich argumentiert, daß nicht die Verkürzung der Lagtime zu einer Reduktion der LOS führt, sondern vielmehr umgekehrt die Lagtime ein von der LOS abhängiger Parameter sei, der überwiegend deren Schwankungen wiederspiegelt. - Die Rolle von Lagtime und LOS für den psychiatrischen Konsildienst wird weiter unten nochmals aufgegriffen (vgl. Abschnitt 4.2.4.2).

4.1.4 Diskussion

Die Untersuchung der Tätigkeit des psychiatrischen Konsildienstes am MSH in New York über eine 10jährige Beobachtungsperiode zeigt einige Veränderungen, weist aber vor allem

grundlegende Konstanten auf. Die Veränderungen betreffen vorwiegend die Schnittstellen des konsiliarpsychiatrischen Dienstes mit anderen in die Behandlung der Patienten einbezogenen Versorgungsinstanzen, patientenbezogene Parameter hingegen bleiben konstant. Zunächst werden die für die Definition eines Kernbereichs konsiliarpsychiatrischer Versorgung wichtigen Aspekte diskutiert.

Die Zahl der dem psychiatrischen Konsildienst am MSH überwiesenen Patienten hat sich im Zeitraum von 1988 - 1997 im Vergleich zu den Jahren 1980-1986 nahezu verdoppelt, die relative Konsultationsrate für den gesamten Beobachtungszeitraum lag bei 1,2% und bewegte sich damit in einem Bereich wie er aus der Literatur bekannt ist (Hengeveld et al. 1984, Wallen et al. 1987, Huyse et al. 1997 [1% für die europäische ECLW-Studie]). Die

Überweisungsgründe vonseiten der somatischen Ärzte blieben stabil, Anforderungen wegen

"Depression" und "agitiertem Verhalten" nahmen eine Spitzenposition ein. Beides kann eine medizinische Behandlung z.T. gravierend erschweren, ihre häufige Nennung - wogegen z.B.

Anforderungen zur "Klärung von Teamproblemen" praktisch keine Rolle spielen - kann als Auftrag der überweisenden Ärzte an den psychiatrischen Konsildienst begriffen werden, Hilfe beim unmittelbaren, praktischen Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten ihrer Patienten zu erhalten. Bedarf bei der Klärung (psychiatrischer) diagnostischer Fragen spielt dagegen kaum eine Rolle - eine Beobachtung, die in der konsiliarpsychiatrischen Literatur seit vielen Jahren berichtet wird (Meyer & Mendelson 1961). Dies erinnert an die in den 30er Jahren von den amerikanischen Konsiliarpsychiatern propagierte Losung "Demonstrate, not preach our usefulness", eine Grundhaltung die für eine erfolgreiche Arbeit psychiatrischer Konsildienste unabdingbar ist (Stotland & Garrick 1990, Diefenbacher & Saupe 1996).

Die anteilige Zusammensetzung der psychiatrischen Diagnosen bei den Konsilpatienten bleibt stabil. Insgesamt weisen die Organisch bedingten psychischen Störungen eher eine Zunahme auf: die große Bedeutung deliranter Syndrome bestätigt sich (z.B. Lipowski 1990, Huyse et al.

1997). Hierbei liegen die durch körperliche Erkrankungen bedingten deliranten Syndrome (im Sinne akuter Verwirrtheitszustände entsprechend der ICD-10-Kategorie F05) vor den durch Substanzmißbrauch bedingten (Entzugs-)Delirien, beide zusammen machen ca. ein Drittel der Überweisungen aus. Deutliche Veränderungen zeigen sich im anteiligen Verhältnis der Diagnosen von depressiven Störungen und Anpassungsstörungen mit depressiver Symptomatik, erstere werden etwas häufiger, letztere seltener diagnostiziert. Es muß

offenbleiben, ob es sich dabei um ein vermehrtes Auftreten schwererer depressiver Störungen im Laufe des Beobachtungszeitraums handelt, oder nicht eher um eine Änderung

diagnostischer Gepflogenheiten. Letzteres kann auch bei Benutzung operationlisierter Diagnosesysteme wie der ICD-10 oder den neueren Versionen des DSM angesichts der Schwierigkeiten in der Diagnose depressiver Syndrome, auf deren eingeschränkte Reliabilität bei körperlich kranken Patienten in der konsiliarpsychiatrischen Literatur häufig hingewiesen wurde, nicht ausgeschlossen werden (z.B. Malt et al. 1996, House 1988, Chandarana et al.

1988, Rouchell et al. 1996, Müller & Förstl 1999). Zusammengenommen nimmt der Anteil beider Gruppen aber nur geringgradig ab, sodaß depressive Syndrome mit knapp einem weiteren Drittel zeitüberdauernd einen zweiten Kernbereich der psychiatrischen Diagnosen ausmachen (vgl. Abschnitt 4.2.4.3). An dritter Stelle liegen die Störungen durch psychotrope Substanzen, deren durchschnittliche Häufigkeit während des 10jährigen

Beobachtungszeitraums (8,5% der Konsilpatienten) in etwa der in der Literaturübersicht von Hengeveld et al. (1984) berichteten Größenordnung entspricht (Median 10,5%). Diese drei Gruppen machen in der konsiliarpsychiatrischen Literatur übereinstimmend den Hauptanteil der Diagnosen aus (Hengeveld et al. 1984, Arolt et al. 1995).

Patienten mit schizophrenen oder bipolaren Störungen finden sich demgegenüber nur selten:

mit etwas unter 7% entspricht auch ihr Anteil einer für das konsiliarpsychiatrische Arbeitsfeld oft beschriebenen Größenordnung (Hengeveld et al. 1984, Lipowski & Wolston 1981, Saupe &

Diefenbacher 1996a). Gleiches galt für den Anteil der Konsilpatienten, die keine psychiatrische Diagnose erhielten (z.B. Chen 1995).

Wesentliche auf den unmittelbaren Patientenkontakt bezogene Parameter erweisen sich

ebenfalls als stabil. Ungeachtet aller Veränderungen im Verhältnis von Zeitaufwand für das Erstkonsil, welcher abnimmt, und Anzahl von Folgekontakten, welche trotz der kürzer werdenden Krankenhausverweildauern zunehmen, bleibt der gesamte Aufwand für eine Konsultationsepisode bei einem für amerikanische Konsildienste nicht ungewöhnlichen Wert von 2 - 3 Stunden (Rothermundt et al. 1997). Die Empfehlung von Labordiagnostik oder anderer apparativer Zusatzuntersuchungen durch den Konsiliarpsychiater, in der amerikanischen Konsiliarpsychiatrie als wesentliche Aufgabe definiert (Stotland & Garrick 1990, Bronheim et al.

1998), nehmen zu und werden am Ende der Beobachtungsperiode bei mehr als der Hälfte der Konsilpatienten angeregt. Dies kann in Zusammenhang mit der zunehmenden

Krankheitsschwere stationär behandelter Patienten gesehen werden, eine Tendenz die sich in der hier untersuchten Stichprobe in einer Abnahme der körperlichen Funktionsfähigkeit vor der Krankenhausaufnahme ausdrückt (Anfinson & Kathol 1993). Überhaupt zeigen die

Einschränkungen des körperlichen, aber auch psychosozialen Funktionsniveaus der Konsilpatienten, wie auch der geringe Anteil von Patienten ohne psychiatrische oder somatische Diagnose, daß es sich um eine Gruppe von Patienten handelt, die komorbide somatopsychisch beeinträchtigt ist - und keinesfalls, worauf auch Mayou & Sharpe (1997) kürzlich ausdrücklich hingewiesen haben, um eine Gruppe sogenannter "worried well", deren Beeinträchtigung vernachlässigenswert sei und die allenfalls optional dem Konsiliarpsychiater vorgestellt werden müßten.

Während sich die psychotherapeutischen oder verhaltensorientierten Interventionen nicht wesentlich verändern, kommt es zu einer signifikanten Zunahme in der Verschreibung von Psychopharmaka, die am Ende der Beobachtungsperiode nahezu bei jedem zweiten Patienten empfohlen werden. Dies liegt über dem von Hengeveld et al. (1984) Wert (Median 37,8%), aber noch innerhalb der dort berichteten Bandbreite (14-74,5%) und in einer Größenordnung, wie er z.B. auch von psychiatrischen Konsildiensten in Deutschland berichtet wird (vgl.

Zusammenstellung bei Diefenbacher 1999). Interessant ist hier, daß die Verordnung von Psychopharmaka zunimmt, ohne daß die Zeitdauer des Patientenkontakts bzw. die Häufigkeit psychischer Interventionen abnimmt. Aus der vorliegenden Längsschnittstudie kann also nicht geschlossen werden, daß "Pillen" für "Gespräche" substituiert werden. Es wird vielmehr ein pragmatischer multimodaler Ansatz verfolgt, wie er kürzlich von der Academy of Psychosomatic Medicine (APM) auch in der Form von Leitlinien niedergelegt worden ist (Bronheim et al. 1998).

Interessant ist die Entwicklung in der Verordnung von Antidepressiva. Vor allem in der Ära der trizyklischen Antidepressiva (TZA) war die Verordnung von Antidepressiva bei depressiven körperlich kranken Patienten u.a. aufgrund der eher häufigeren unerwünschten

Nebenwirkungen umstritten (Koenig & Breitner 1990, Popkin et al. 1985, Ray et al. 1991). Von 1988 bis 1997 hat die Verordnung von TZA durch den psychiatrischen Konsildienst des MSH auf einen sehr geringen Anteil abgenommen. Damit einher ging ein deutlicher Anstieg in der Verschreibung von SSRI seit deren Einführung 1988, die am Ende der Beobachtungsperiode nahezu dreiviertel aller verordneten Antidepressiva ausmachen. Auch die einzige vergleichbare Untersuchung aus Melbourne zeigt eine ähnliche Entwicklung, allerdings mit einem höheren

Anteil an nach wie vor verordneten TZA bei den unter 50 Jahre alten Patienten - die Zunahme der SSRI war dort vor allem bei den älteren Patienten sichtbar (Smith et al. 1998). Das Vorgehen am MSH entspricht den Leitlinien der Agency for Health Care Policy and Research (AHCPR) für die Verordnung von Antidepressiva in der primärärztlichen Versorgung, wo als Mittel der ersten Wahl vorrangig die Substanzgruppe der SSRI aufgeführt wird (Depression Guideline Panel 1993). Die Adaptation dieser Leitlinien ist für den konsiliarpsychiatrischen Bereich von der Academy of Psychosomatic Medicine empfohlen worden (Kathol et al. 1994).

Wie in Abschnitt 3.3.2 bereits erwähnt, gibt es eine umfangreiche Spezialliteratur über den Einsatz von Psychopharmaka bei Patienten mit somatopsychischer Komorbidität. Diese Patienten können mit Antidepressiva sicher und effektiv behandelt werden (Beliles &

Stoudemire 1998, Gill & Hatcher 1999). Da das Vorliegen relevanter somatischer Erkrankungen allerdings in der Regel einen Ausschlußgrund für die Aufnahme solcher Patienten in klinische Studien darstellt, ist die Zahl kontrollierter vergleichender Untersuchungen über den Einsatz von Antidepressiva im konsiliarpsychiatrischen Setting noch gering (Katz et al. 1994, Gill & Hatcher 1999, Bauer & Whybrow 1999). Hier zeichnen sich aber Veränderungen ab (Müller & Förstl 1999 am Beispiel der antidepressiven Behandlung von Hirninfarktpatienten, oder die aktuelle Diskussion über den Einsatz von Nortriptylin oder Sertralin bei über 70jährigen Patienten [Finkel et al 1999a,b, Desai & Chibnall 1999]).

Deutlich fallen seit Mitte der 90er Jahre Veränderungen der konsiliarpsychiatrischen Tätigkeit an den Schnittstellen mit anderen Institutionen auf, und zwar sowohl zu Beginn wie am Ende des Konsultationsprozesses. Die konsiliarpsychiatrische Tätigkeit in der interdisziplinären Rettungsstelle wird vermehrt angefordert, vom Konsiliar initiierte Weiterverlegungen von den somatischen auf psychiatrische Fachabteilungen nehmen zu, die Kontaktaufnahme mit externen Informationsquellen wird bei nahezu jedem Patienten zur Routine, ambulante Weiterbehandlung werden häufiger initiiert - alles Entwicklungen, die angesichts kürzerer stationärer Verweildauern verständlich sind. Sie beschreiben den zunehmender Druck auf den konsiliarpsychiatrischen Dienst, Aufgaben in der Disposition von Patienten zu übernehmen.

Tesar (1996) diskutiert am Beispiel der psychiatrischen Konsiliartätigkeit in Rettungsstellen die Aufgabe des Psychiaters in der Triage von Patienten mit somatopsychischer Komorbidität und warnt vor Tendenzen, diese eminent wichtige therapeutische Aufgabe - Patienten durch psychotherapeutische Kurzinterventionen zu stabilisieren und auf eine angemessene ambulante Behandlung vorzubereiten - lediglich als Tätigkeit im Sinne eines 'Dispatchers' zu begreifen. Der Trend konsiliarpsychiatrischer Tätigkeit, vermehrt in Notfallambulanzen und Rettungsstellen bereits vor einer stationären Aufnahme angefordert zu werden, hat bislang in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden (Lamdan 1994).

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die eingangs referierten

Längsschnittuntersuchungen psychiatrischer Konsildienste für die Jahre von 1971 bis 1989 (insbes. Lipowski & Wolston 1981, Paddison et al. 1989 und Zumbrunnen et al. 1991) sich in wesentlichen Punkten für die anschließende Dekade am Beispiel des psychiatrischen Konsildienstes am Mount Sinai Hospital in New York bestätigen lassen. Dies spricht für eine

zeitüberdauernde Konstanz wesentlicher Elemente der konsiliarpsychiatrischen Tätigkeit, wobei mit einer Basisüberweisungsrate von mindestens 1% aller stationär aufgenommenen Patienten eines Allgemeinkrankenhauses zu rechnen ist und als Kernbereiche psychischer Störungen, die in naher Zukunft keine wesentlichen Veränderungen erwarten lassen, die Organisch bedingten Störungen, depressive Syndrome und Störungen durch psychotrope Substanzen zu nennen sind.

4.2 Vergleich der Psychiatrischen Konsiliardienste des Mount Sinai