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Disambiguierung mit den Adverbien her und hin

hinnen 2 → hie innen hinnenabe

B. Übergang zum Suffix nach bestimmten Adverbialen

4. Untersuchungen zu den mittelhochdeutschen Raumadverbien

4.2 Der Umbau des Systems in mittelhochdeutscher Zeit

4.2.2 Das lokomorphologische Paradigma und seine Veränderungen in mhd. Zeit

4.2.3.2 Disambiguierung mit den Adverbien her und hin

Neben der Disambiguierung mit Hilfe von Präpositionen tritt die – sprachgeschichtlich gese-hen – effizientere Methode, mit Hilfe der Direktionaladverbien her und hin Eindeutigkeit her-zustellen und das Paradigma umzubauen. Die beiden sind im Mittelhochdeutschen gebräuch-liche Adverbien, was ihnen im Gegensatz zu den alten, opaken Morphemen den Vorteil der Motiviertheit verschafft, und sie stehen in allativisch-ablativischer Opposition zueinander.

Die Veränderung des Paradigmas zeigt sich an der Vielzahl der her/hin-Bildungen in der dritten Schicht der mhd. Raumadverbien und lässt sich besonders deutlich am Beispiel von dâ(r)-dannen-dare und wâ-wannen-war nachvollziehen.

(27) er vorhte daz ime dannen scade chôme GEN 803 (28) Eya lieber bilgerin, wannan kumstu?MECHTH 6-33,13 (29) von dannen muoste ich kêrenKLD:GVN41:2,4

(30) hêrre, saget mir,/ von wannen oder wer sît ir? TR 5380

(31) Got selbe hæte si gesant / dâher ûz himeltrône KVWKLAGE 6,2 (32) wir wiszent […] wo her er kumt uns biEVSTPAUL 12693

Neben die mittlerweile zunehmend als lokal interpretierten dannen (27) und wannen (28), die auch disambiguiert als von dannen (29) bzw. von wannen (30) verwendet werden, treten die allativischen Direktionaladverbien der dritten Schicht dâher und wâher.

Für die ablativischen dare (33) und war (36), die zusätzlich vom Zusammenfall mit dâ(r) (34) bzw. wâ (37) (s.o. 4.2.1) betroffen sind, werden auf die gleiche Weise mit Hilfe des ablativischen Direktionaladverbs hin Alternativen gebildet, nämlich dâhin (35) und wâhin (38):

(33) nu sende mich dareROL 1300

(34) dar muozzen wir alle samt chomen,/ die die touffe haben genomVRECHTE 546 (35) ein stern wîst unz dâhinOTTOK 49491

(36) 'nu sagt mir: war?' / 'hin, dâ die rîter sint'WIG 2624

34 Vgl. DWb Bd. 2, Sp. 747, s.v. DANNEN; 2DWb, Bd. 6, Sp. 246 ff. s.v. DANNEN.

(37) Diomedes […] newiste, wa er soldeHERB 17300

(38) […] daz die füeze gemaistert werden von dem herzen, wâ hin si gên schüllen BDN 37,19

Anhand des dâ(r)-swâ-wâ-Paradigmas lassen sich somit exemplarisch alle Umgestal-tungen darstellen, von denen der Bestand der Raumadverbien in mhd. Zeit betroffen ist. Ta-belle 9 zeigt zusammenfassend, wie das ursprünglich dreigliedrige System einerseits durch Homonymie und Ambiguität an Eindeutigkeit verliert und sich auf der anderen Seite gleich-zeitig neue Möglichkeiten (durch Kombination mit Präpositionen oder her bzw. hin) heraus-bilden, die Eindeutigkeit wiederherzustellen.

(39) Wa soll ich ellender knab / Hin komen oder war? HVNSTAP 6550f.

Geradezu beispielhaft für das Mhd. zeigt sich in (39), wie auf zwei verschiedene Möglichkeiten 'wohin' ausgedrückt wird, wie die Methoden nebeneinander Anwendung fin-den.

Lexem lokal ambig direktional disambiguiert lokal oder… ablativisch allativisch

alswâ + alswâhin allativisch

anderswâ + anderswâhin;

anderswâher;

von anderswâ

ablativisch +

anderswannen + +

anderswar + +

dâ, dâr* + / +-r dâ…abe dârabe dâbî/dârbî dâher dâhin

ablativisch allativisch

+ / +-r +-r

dannen von dannen

dannenabe dannenvon

dare + +

eteswâ + +

etewar + ablativisch +

iewâ +

swâ + swâ…hin

swâ…nâch swâ…zuo swâzuo

ablativisch +

swannen von swannen +

swar swârabe +

+ wâ…her

wâ…hin wâ…von wâher wâhin wâvon wâzuo

ablativisch allativisch

+

wannen von wannen

wannenabe

war + wârabe ablativisch

allativisch

+ +

* Ein Eintrag '+' in der dâ(r)-Zeile bedeutet: belegt für dâ, ein Eintrag '+ -r': belegt für dâr.

Tabelle 9: das dâ(r)-swâ-wâ-Paradigma im Mittelhochdeutschen

Dadurch lässt sich die Vielzahl synonymer Raumadverbien erklären, wie sie im Mit-telhochdeutschen vorliegt.

Der im Mittelhochdeutschen verstärkt einsetzende Umstrukturierungsprozess der Raumad-verbien wirkt weiter ins Neuhochdeutsche, wo die große Formenvielfalt im da- und wo-Para-digma allerdings stark zurückgegangen ist, und beinahe eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwi-schen Inhalt und Ausdruck vorliegt, wie Tabelle 10 zeigt.

nhd.

lokal direktional

ablativisch allativisch

da dahin

von dannen (obs.)

daher von da

dannenher (obs.) wo wohin

von wannen (obs.) wannenher (obs.)

woher von wo

(obs.) = obsolet

Tabelle 10: das da-wo-Paradigma im Neuhochdeutschen

Dass auch die "alte" Morphembildung über die mittelhochdeutsche Zeit hinauswirkt, zeigt sich am Beispiel frühnhd. dort (mhd. dort). Mit den Veränderungen im dâ(r)-dare-Para-digma und den zusätzlichen Zusammenfall von da(r) mit dem Temporaladverb dô35 geht wie-derum die zunehmende Bedeutung von dort einhand, das als primäres lokales Deiktikum – weil eben eindeutig lokal – in zunehmenden Maße neben da tritt.

frühnhd.

lokal direktional

ablativisch allativisch dort,

dorte, dorten

dorthin dorther von dort dortvon von dorten

Tabelle 11: das dort-Paradigma im Frühneuhochdeutschen

Analog zu dannen und wannen wird ein eindeutig lokales, "unorganisches"36 dorten gebildet, das auch ohne von stehen kann. Im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte zum Nhd.

zeigt sich, dass die nasale Endung der Raumadverbien zunehmend als lokal und die r-haltige Endung als ablativisch interpretiert wird.

(40) Das Unterseeboot fährt unten.

(41) Das Unterseeboot fährt nach unten.

(42) Das Unterseeboot taucht unter.

(43) Das Unterseeboot taucht nach unten.

(44) *Das Unterseeboot fährt unter.

(45) Das Unterseeboot geht unter.

(46) *Das Unterseeboot geht nach unten.

(47) Das Unterseeboot fährt unter der Wasseroberfläche.

(48) Das Unterseeboot fährt unter die Wasseroberfläche.

(49) Jn dem mer ist ein stat, da bellent die hunde vnder dem wassere LUCID 44,4

35 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, S. 198, s.v. 2da.

36 Vgl. DWb Bd. 2, Sp. 1306, s.v. DORTEN.

(50) wenn si fremd läut sehent, sô tauchent si sich under daz wazzer BDN 493,14

Einen kurzer Ausblick auf die Verteilung im Nhd. sollen die Beispiele (40)-(50) ge-ben. Die Nasalform unten ist in (40) ein lokales Raumadverb. Durch Voranstellung einer Prä-position wird in (41) ein direktionales Adverbial gebildet.

Die r-Form unter in (42) trägt die direktionale Bedeutung, und ist wohl noch direktio-nales Adverb, da es durch nach unten ersetzt werden kann (43). Das Adverb unter kann aller-dings nicht mehr in jeder Umgebung verwendet werden, wie (44) zeigt und der Übergang von Adverb zur Verbpartikel, wie sie in (45) vorliegt, ist schwer zu beschreiben. Dass unter Verb-partikel von untergehen ist und nicht mehr freies Adverb, belegt (46), wo der Austausch mit nach unten ungrammatisch wird. Bei der homonymen Präposition unter, mhd. under gab und gibt es keine Opposition, weil das lokale bzw. direktionale Merkmal des Adverbials vom re-gierten Kasus, entweder Dativ (Lokativ) in (47) und (49) oder Akkusativ in (48) und (50), getragen wird.