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Die vier Schichten der mittelhochdeutschen Raumadverbien

hinnen 2 → hie innen hinnenabe

B. Übergang zum Suffix nach bestimmten Adverbialen

4. Untersuchungen zu den mittelhochdeutschen Raumadverbien

4.1 Die vier Schichten der mittelhochdeutschen Raumadverbien

Der Gesamtbestand der mittelhochdeutschen Raumadverbien lässt eine Aufteilung in vier Schichten erkennen.

Die erste Schicht bildet den Kernbestand des Systems. Sie enthält solche Raumadverbien, die in der Regel nicht mehr als Ableitungen oder Zusammensetzungen von Wörtern anderer Wortklassen erkennbar sind. Dazu gehören:

abe, after, ane, bî, binnen, boben, bûzen, enbore, ennen, dâr, dannen, dare, dast, dort, durch, gegen, her, hie, hin, hinden, hinder, hinnen, hôch, iener, iergen, in, în, innen, inner, mitten, nâch, neben, niden, nider, nienâ, niener, niergen, norden, norder, oben, ôsten, ôster, sunden, sunder, swâ, swannen, swar, über, ûf, umbe, unden, under, ûz, ûzen, vor/vür,8 vorn, vort, vram, wâ, wannen, war, wert, westen, wester, wider, zuo

Im Vergleich zu den anderen Schichten der Adverbien ist der Kernbestand zahlenmä-ßig am stärksten belegt. Eine Ausnahme machen allerdings solche Adverbien des Kernbe-stands, zu denen es homonyme Präpositionen gibt, wie abe, after, ane, bî, durch, gegen, in, über, ûf, umbe, ûz, vor/vür, wider, zuo. Wie dem Wörterbuch zu entnehmen, sind sie nur sehr selten in adverbiellem Gebrauch zu finden, und wenn sie in solchen Fällen mit Verben der Bewegung auftreten, stellt sich die Frage, ob sie wirklich als Adverbien oder als Verbpartikel vorliegen.

(1) Díu stéga dâ man ze démo díske ûf scal gênWILL 52,27 (2) Dar rieden ['ritten'] uonzich dusint an ROTH 3569

(3) diu leber […] sendet daz wazzer ab zuo den niernBDN 32,23

Es ist kaum zu beantworten, ob die Beispiele (1) bis (3) Belege für die Adverbien ûf, ane und abe sind, oder für die Partikelverben ûf gân, ane rîten und abe senden. Unter diesem Vorbehalt werden die Adverbien im Wörterbuch behandelt.

In der zweiten Schicht finden sich diejenigen Raumadverbien, die entweder mit Hilfe des im Mhd. vorhandenen Bestands an Adverbialsuffixen aus anderen Wortklassen abgeleitet werden oder durch Konversion in die Klasse der Adverbien übertreten. Zu den abgeleiteten Adverbien gehören: andrent, disunt, einent, heimen, ietwedrent, inwendiclîche, umtrant, unverren, verren, verrelingen, vorder/vürder, wîte. Diese Schicht enthält nur wenige Lexeme, was bereits einen Hinweis auf eine nachlassende Produktivität der entsprechenden Ablei-tungsmorpheme gibt. Durch Konversion aus Substantiven entstanden sind: heim, wec.

Die dritte Schicht ist die umfangreichste. Sie enthält die Raumadverbien, die durch Komposition, also durch die Zusammensetzung zweier Lexeme entstehen. Dabei treten

8 Bei obd. vor und md. vür handelt es sich um sprachlandschaftliche Varianten.

Raumadverbien der ersten Schicht entweder untereinander (z.B. enbor-binnen), mit anderen Adverbien (z.B. anders-wâ) oder mit Präpositionen (z.B. dannen-von) zusammen:

alswâ, anderswâ, anderswar, anderswannen, behinden, beneben, beniden, bevor, danabe (dannenabe), dannenvon, dortzuo, enborbinnen, eteswâ, eteswar, hindennâch, hinden zu, hinnenabe, hinnenvür, iewâ, ininne, innentzuo, nâhe bî, nâhe zuo, neben abe, ûf hôher, underzwischen; vorne zu, vorüber, vorûz, wannenabe, zegegen.

Ein spezifisches Problem dieser Gruppe ist die Frage, ob die Komposition als bereits abgeschlossen betrachtet werden kann, ob also noch eine freie Wortverbindung zweier Le-xeme vorliegt oder bereits ein univerbiertes Adverb (vgl. o. 2.3).

In dieser Schicht lassen sich Reihenbildungen erkennen, zu denen sogar ganze Para-digmen – wie das auf -baz – gehören.9 Besonders auffällig ist die große Anzahl der Kompositionen mit her bzw. hin und solcher mit -wert als Zweitglied. Als Sondergruppe ge-hören auch die Pronominaladverbien10 zu dieser Schicht. Folgende Kompositionsgruppen lassen sich erkennen:

1. Raumadverbien auf -baz:

hinbaz, hinderbaz, hôherbaz, înbaz, næherbaz, niderbaz, ûfbaz, ûzbaz, vürbaz

2. Raumadverbien auf -wert:

abwerts, afterwert, dâhinwert, dannewert, dâwert, dortwert, engegenwert, heimwert, herûzwert, hervorwert, herwert, hindenwert, hinderwert, hinwert, hinwiderwert, înwert, nidenwert, niderwert, ôstenwert, ôsterwert, ûfwert, underwert, ûzwert, vürwert, wâhinwert, wârwert, westerwert, widerwert, zuowart

3. Kompositionen mit her:

abher, anderswâher, bobenher, dâher, dorther, herabe, herabher, herane, herbî, herdan, herdurch, hergegen, herheim, herîn, herînher, hernâch, hernîder, herüber, herûf, herumbe, herunder, herûz, herûzwert, hervor/hervür, hervort, hervorwert, herwert, herwider, herwiderumbe, herzuo, hieher, înher, jenenher, swannenher, ûfher, ûzher, vürher, wâher

4. Kompositionen mit hin:

abhin, alswâhin, anderswâhin, anhin, dâhin, dorthin, dorthindan, durchhin, einhalphin, einsîthin, hinabe, hinan, hinbaz, hindannen, hindurch, hingegen, hinheim,hinhinder, hinîn, hinnâch, hinneben, hinnouwe, hinniden, hinnider, hinüber,

9 Die Lexeme næherbaz, înbaz, ûzbaz, ûfbaz, niderbaz, hinderbaz, vürbaz, hôherbaz, hinbaz mit der Bedeutung 'weiter…' + '…in die Nähe (…heran), …hinein, …hinaus, …nach oben, …nach unten, …nach hinten, …nach vorne (…voran), …zurück, …fort' bilden ein vollständiges Paradigama von Direktionaladverbien mit egozentrischer Perspektive. Vgl. dazu VORWERG, CONSTANZE / RICKHEIT, GERT, Repräsentation und sprachliche Enkodierung räumlicher Relationen, in: CHRISTOPHER HABEL/CHRISTIANE VON STUTTERHEIM

(Hgg.), Räumliche Konzepte und sprachliche Strukturen, Tübingen 2000, S. 25; ZIFONUN u.a., S. 1155.

10 Zu den Besonderheiten der Pronominaladverbien s.o. 2.4.

hinûf, hinumbe, hinûz, hinvor/hinvür, hinwec, hinwert, hinwider, hinwiderwert, hinzuo, obenhin, ûfhin, umbehin, ûzhin, vürhin (vorhin),11 wâhin, wâhinwert

5. Pronominaladverbien:

- mit dâ(r): 12 dâbî, dâbinnen, dâboben, dâdurch, dâgegen, dâ gemanc, dâheime, dâher, dâhin, dâhinder, dâ inmanc, dânâch, dâneben, dâniden, dânider, dârabe, dârane, dârîn, dârinne, dârinnemitten, dârobe, dârüber, dârûf, dârumbe, dârunder, dârunden, dârûz, dâvon, dâvor (dâvür), dâwider, dâzuo, dâzwischen

- mit hie: hiebî, hiegegen, hieheime, hienâch, hieneben, hieniden, hienider, hierabe, hierane, hierin, hierîn, hierûf, hierunden, hierunder, hierûz, hievon, hievor, hievorn, hiezuo, hiezwischen

- mit swâ(r): swârabe, swâvon, swâzuo

- mit wâ(r): wâher, wâhin, wârabe, wârûf, wâvon, wâzuo

In der vierten Schicht werden, anders als bei der Konversion, wie sie in der zweiten Schicht vorliegt, größere Strukturen, nämlich Syntagmen (z.B. hie ze lande) in die Wortklasse Adverb überführt. Freie Wortverbindungen, die als Adverbiale fungieren, "erstarren" und werden zu Adverbien. Dabei ist wie auch bei der dritten Schicht der erreichte Grad der Uni-verbierung nicht immer genau zu bestimmen. Im Gegensatz zu den Lexemen der dritten Schicht sind hier präpositionale oder nominale Verbindungen Ausgangspunkte für die Bil-dung von Raumadverbien. Neben Einzelfällen wie enmittewegen lassen sich ReihenbilBil-dungen erkennen, wie etwa die der Gruppe der präpositionalen Verbindungen mit -sich. Dazu kommt die Herausbildung neuer Wortbildungsmuster für Raumadverbien mit den Suffixoiden -halbe und -sîte.

Aufgrund der vielfältigen Bildungsweisen ist die vierte Schicht der mhd. Raumadver-bien sehr heterogen. Es lassen sich mehrere Gruppen unterscheiden:

1. Einzelfälle, bei denen die ursprünglichen Adverbiale noch zu erkennen sind:

dâr enlant, enmittewegen, hie ze lande, hie ze stat

2. Präpositionale Verbindungen ohne Artikel (Typ in der hant > inhant):

abhanden, afterwegen, allewec, âschildes, berücke, enerde, hinderrucke, inhant, inlachen, in wege, überrücke, underwegen, ûzerwege, waltîn, ze berge, zehûs, zerücke, zetal, zewege

11 Im Gegensatz zu vürhin liegt vorhin nur als Temporaladverb vor. Vgl. den Artikel vorhin im Wörterbuch sowie oben 2.7.

12 Zur Schreibung mit oder ohne -r- siehe unten 4.2.1.

3. Präpositionale Verbindungen mit Pronomen:

hindersich, nidersich, übersich, vürsich13

4. Ehemals präpositionale Verbindungen ohne Präposition (Typ in allen enden > allenende):

allenende, allewec, manigenenden, manigerwegen, rückewart, swelchenenden, welchenenden

5. Präpositionale Verbindungen ohne nominalen Bestandteil (Typ über al das lant > überal):

überal

6. Präpositionale Verbindungen mit Superlativ:

ze hinderst, ze mittest, ze nehest, ze niderst, ze oberst, ze vorderst

7. Nominale Verbindungen:

des endes, den wec

8. Bildungen mit den Suffixoiden -halbe, -sîte und -wert:

- mit -halbe:

allenthalben, anderhalben, behalben, beidenthalben, brôteshalben, dannenthalben, derhalp, dewederhalp, disehalp, einhalben, herzenhalp, hinderhalp, holzhalp, ietwederhalben, innerhalbe, irhalp, jenenthalp, klôsterhalp, mînenthalben, niderhalbe, nordenhalp, oberhalbe, ôsterhalben, rehthalp, rückehalp, schilthalp, sînhalp, sperhalp, sunderthalp, swederhalb, überhalb, underhalben, unserhalp, ûzerhalben, waldeshalp, wazzershalp, wederhalben, westerhalben, winsterhalp, wîtenhalben, zeswenhalben

- mit -sîte:

absîten, andersît, beidersît, besît, dissît, einsît, ietwedersît, jensît, manchersît, wedersît, zwôsît

- mit -wert:

ze berge wert, ze himel wert, ze ringe wert, ze rücke wart, ze tale wert

Der große Umfang der dritten und vierten Schicht steht im Zusammenhang mit der nachlassenden Produktivität der zweiten Schicht, denn die Adverbien her, hin und wert bei-spielsweise bieten die Möglichkeit, motivierte, also besser nachvollziehbare Raumadverbien zu bilden, ebenso wie die Suffixoide -halbe und -sîte.

Dass die einzelnen Schichten – selbst wenn es gelegentlich die Bildung neuer Para-digmen zu beobachten gibt – nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können ist selbstverständlich. Es ergeben sich – bedingt durch den Formenreichtum – viele Fälle von

13 In diesem Fall liegt ein fast vollständiges Paradigma von Direktionaladverbien vor; mit Ausnahnme der seitlichen sind alle Bewegungsrichtungen repräsentiert: vorwärts, rückwärts, nach oben und nach unten.

Synonymie, und auf der Ebene der Wortbildung zeigt sich, dass in der dritten Schicht nicht nur Adverbien der ersten Schicht in Kompositionen auftreten, sondern auch solche der vierten Schicht (z.B. einhalp-hin oder einsît-hin). Zudem gibt es Bildungsgruppen, die in allen Schichten vertreten sind, wie die der "be(< bî)-Bildungen": In der ersten Schicht finden sich binnen (aus bî innen), boben (aus bî oben) und bûzen (aus bî ûzen), in der dritten Schicht die Kompositionen behinden, beneben, beniden, bevor und in der vierten die auf präpositionale Wendungen zurückgehenden behalben, besît und berücke.