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Das lokomorphologische Paradigma im Mittelhochdeutschen und das Problem der Homonymie

hinnen 2 → hie innen hinnenabe

B. Übergang zum Suffix nach bestimmten Adverbialen

4. Untersuchungen zu den mittelhochdeutschen Raumadverbien

4.2 Der Umbau des Systems in mittelhochdeutscher Zeit

4.2.2 Das lokomorphologische Paradigma und seine Veränderungen in mhd. Zeit

4.2.2.2 Das lokomorphologische Paradigma im Mittelhochdeutschen und das Problem der Homonymie

In seiner Deutschen Grammatik beschreibt Willmanns das System der Raumadverbien des Hochdeutschen in Bezug auf die Form-Funktion-Beziehung als ärmer als das des Gotischen, wo auch andere Direktionaladverbien synthetisch ablativische und allativische Formen bil-den,22 wie zum Beispiel got. ûta, nhd. 'aus' in Tabelle 5:

wo? woher? wohin?

got.

ûta ûtaþrô ût

Tabelle 5: ûta-Paradigma im Gotischen

Harnisch beschreibt ausgehend vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen die Veränderungen des von ihm als "lokomorphologisches Paradigma"23 bezeichneten Systems.

Dabei weist er nach, dass bereits im Althochdeutschen die eindeutige Beziehung von Form und Funktion nicht mehr gegeben ist, wie Tabelle 6 zeigt:

21 Vgl. WILMANNS, S. 640; BRAUNE, WILHELM, Gotische Grammatik. Mit Lesestücken und Wörterverzeichnis. 19. Auflage neu bearbeitet von ERNST A.EBBINGHAUS, Tübingen 1981, § 213.

22 Vgl. WILMANNS S. 640; BRAUNE/EBBINGHAUS, § 213.

23 HARNISCH,S.188.

ahd.

wo? woher? wohin?

inn-e ûz-(e) ûf ob-a for-a

inn-an-(a/ân) ûz-an-(a/ân)

ob-an-(a/ân) for-n-a

inn-en-ân ûz-an-a/ân ûf-an-a ob-an-a/ân

inn-en-a/ân ûz-an-a ûf-an-a ob-an-a for-n-a/ân

in ûz(e) ûf

nasalhaltig

Tabelle 6: ahd. Raumadverbien24

Zwar gibt es noch in allen drei Gruppen Endungsmorphologie (durch Fettung hervor-gehoben), aber die Eindeutigkeit nimmt ab. Besonders bei den nasalhaltigen Endungen, die in der Tabelle in eigenen Spalten dargestellt werden, tritt Homonymie auf, die ganz besonders die allativischen Direktionaladverbien betrifft. Das Lokaladverb und das ablativische Direkti-onaladverb sind entweder endungslos oder enden vokalisch.

Ein ähnliches Bild ergibt sich im Mittelhochdeutschen, wie Tabelle 7 zeigt:

mhd.

wo? woher? wohin?

inn-e ûz-(e)

ob-e vor-(e)

inn-en/ân ûz-en-(ân)

ob-en/ân-(e/ân) vor-n-(e/ân)

ûz-en-(e)

ob-en-e/ân vor-n-e/ân

inn-en/ân ûz-en

ob-en-(ân) in ûz ûf(e)

vor(e)!

nasalhaltig

! = durch innerparadigmatische Ausgleichs- oder Ergänzungsvorgänge hinzugekommen

Tabelle 7: mhd. Raumadverbien25

Wie im Althochdeutschen sind ganz besonders die – ausschließlich durch nasalhaltige Endung gekennzeichneten – allativischen Direktionaladverbien von Homonymie mit den Lo-kal- und ablativischen Direktionaladverbien betroffen. Dadurch ergibt sich beispielsweise für ûzen folgende Situation:

(3) si was reine uzen unde innenAVA II 2,4 (4) he zuhet di nirn vucht vzen anSALARZ 25,32

(5) daz bezeichenet den man / der uzen wole redet / unde ualsches in deme herzen phlegetROL 1970

24 Nach HARNISCH, S. 185. Die Tabelle liest sich wie folgt: Stamm-Endung; zwischen Varianten von Endungen steht der Schrägstrich, Endungen, die fehlen können sind eingeklammert. Beispiel Zeile 2:

wo-spalte a: inne; wo-Spalte b: innan aber auch innana und innanân; woher-Spalte: nur innenân; in der wohin-Spalte a: innena und innenân, und in der wohin-wohin-Spalte b: in.

25 Modifiziert nach HARNISCH,S.186. Nach Durchsicht des zur Verfügung stehenden Belegmaterials hat sich ergeben, dass der Bestand an allativischen Direktionaladverbien mit morphologischer Endung im Mittelhochdeutschen größer ist als HARNISCH ihn darstellt. An HARNISCHs Schlüssen ändert sich dadurch grundsätzlich nichts.

(6) der schilt ist als ich sagen sol / ûz und inne harte rîch,/ von lâsûre al gelîch UVZLANZ 6297

(7) der selbe gGte man. uerre uz an daz uelt quam. an eines weges enge VMOS 73,8

In den ersten drei Beispielen ist die Endungsmorphologie gleich, die Adverbien sind jedoch unterschiedlich zu interpretieren: In (3) ist ûzen lokal mit 'außen' zu übersetzen, in (4) allativisch mit 'von außen' und in (5) ablativisch mit 'nach außen'. Auch bei den endungslosen Varianten in (6) und (7) zeigt sich, dass homonyme lokale und direktionale, ablativischen Formen vorliegen.

Solange eine Situation oder ein Kontext eindeutig nahelegen, wie ein Raumadverb aufzufassen ist, bereitet Homonymie keine Verständnisprobleme. Anders wird es, wenn ein Homonym ohne ausreichende Zusatzinformation gebraucht wird. Dann wird das Adverb mehrdeutig. Ein Satz wie

(8) mhd.: Der ritter reit ûzen.

kann mithin dreierlei Bedeutung haben:

(8a) Der Ritter ritt außen.

(8b) Der Ritter ritt von außen (hinein).

(8b) Der Ritter ritt nach außen.

In (8a) ist wichtig, dass der Vorgang nicht innen stattfindet, sondern an einem anderen Ort (lokal). (8b) beschreibt die allativische Bewegung an einen Zielpunkt, der innen liegt, und (8c) das genaue Gegenteil davon: die ablativische Bewegung von einem Ausgangspunkt in-nen nach außen.

(9) daz weinperl ist ain klainez flaischel hinten in dem mund BdN 16,35

(10) Owe t?t, owe grimme t?t, wie bist du ein so leider gast minem jungen vrolichen herzen! Wie hetti ich mich din noch sowenig versehen! Nu bist du hindnan uf mich gevallen, du hast mich erilet Seuse 280,17

(11) Sie bestunden in mit zorne / Hinden vnde vorne / Vnde ouch gein den sieten Herb 13644

Die Belege (9)-(11) veranschaulichen das Problem der Ambiguität: In (9) wird der Ort beschrieben, an dem sich das Zäpfchen im Rachen befindet, hinten wird lokal verwendet. Der Tod nähert sich dem Sprecher in (10) von hinten (allativisches hinten). Wird Achilles in (11) hinten und vorne, also überall (lokal), angegriffen oder von hinten und vorne? Für Achilles mag der Unterschied unerheblich sein, für das mhd. Adverb hinten und das System der Raumadverbien hat diese Zweideutigkeit Folgen, wie sich zeigen wird.

(12) Der ritter reit wiedder hinder und nam ein spere zu synem knecht Lanc 198,22

Im Gegensatz zum doppeldeutigen hinten mit nasalhaltiger Endung steht hinder mit einer r-Endung. In (12) wird hinder eindeutig ablativisch gebraucht: Der Ritter ritt […] nach hinten. In sämtlichen Belegen für das Raumadverb hinder wird es ablativisch, fast aus-schließlich mit der Bedeutung 'nach hinten' verwendet. Dieser Befund legt die Annahme nahe, dass ein Zusammenhang besteht zwischen r-Endung und ablativischer Bedeutung und zwi-schen nasaler Endung und lokaler bzw. allativischer Bedeutung. Im Kernbestand der mhd.

Raumadverbien (s.o. 4.1) gibt es neben hinden-hinder weitere Paare von Adverbien mit na-saler bzw. r-Endung: innen-inner, niden-nider, norden-norder, ôsten-ôster, sunden-sunder, unden-under, westen-wester und vorn-vor/vür. Aber auch hier liegen Homonymie und Ambi-guität vor, wie die folgenden Beispiele für das Paar niden-nider zeigen.

(13) Di geswer di da werdent an der leber di sint etwenne oben dran. oder nider drunder SALARZ 54,56

(14) Diu sunne […] gêt auf und unter. si steigt hôch und nider BDN58,27 (15) yn were auch lieber das sie dort nyeden dot weren beliben LANC 163,11 (16) fart dalang me dort niden in die stat LANC 171,36

(17) Electuarium […] tribet sere niden vnde oben SALARZ 86,33

Eine klare Zuordnung von lokaler (und homonymer allativischer) Bedeutung zu nasal-haltigen Adverbien und ablativischer Bedeutung zu Adverbien r-haltiger Endung lässt sich nicht feststellen. Auch bei den r-Formen tritt Homonymie auf (lokal-ablativisch), wie aus (13) und (14) ersichtlich wird, und beim nasalhaltigen Adverb niden besteht die Ambiguität – an-ders als bei hinden – nicht zwischen lokaler und allativischer, sondern zwischen lokaler und ablativischer Bedeutung. Die eindeutige Bedeutung von niden in den Beispielen (15) und (16) erschließt sich mit Hilfe des Kontextes, niden in (17) hingegen kann sowohl lokal ('unten') als auch ablativisch ('nach unten') verstanden werden.

Ebenso verhält es sich bei den Paaren des Kernbestands, die vokalisch bzw. r-haltig enden. Bei dâ(r)-dare, swâ-swar, wâ-war sowie nienâ-niener ist es nicht möglich, eine ein-deutige Beziehung zwischen r-haltigem Endmorphem und ablativischer Bedeutung herzu-stellen.