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Die Transmission Deficit Hypothesis von Burke et al

Im Dokument Das "Tip of the Tongue"-Phänomen (Seite 117-126)

3.1 Mögliche Ursachen von TOTS

3.1.4 Die Transmission Deficit Hypothesis von Burke et al

Der normale Zugriff auf Wortformen läßt sich mittels der NST gut simulieren. Das mentale Lexikon wird durch symbolische Knoten repräsentiert, und ein lexical access besteht in der Aktivierung der entsprechenden Knoten im Netz, wobei mittels priming eine unterschwellige Präaktivierung der Zieldomäne von Knoten geschaffen wird, die daraufhin schneller auf die Aktivierung, die vom semantischen System ausgeht, reagiert. Schon im semantischen System86 findet eine Vorauswahl des lexikalischen Knotens statt, der die meiste Aktivierung über seine einlaufenden Verbindungen von den propositionalen Knoten empfängt:

In language production, priming from many semantic nodes converges onto a single lexical node, summating across these connections."87

85 Siehe Rumelhart, D.E. & McClelland, J.L. (1986).

86 Eine sehr ausführliche Arbeit zu der Frage, wie der gesuchte lexikalische Knoten aktiviert wird, stellt die Dissertation von Roelofs dar, die ebenfalls auf einem interactive activation model basiert und sich sehr stark an Levelts Sprachproduktionsmodell orientiert: Roelofs, A.P. (1992).

87 Ebd. Seite 21.

TOTS kommen in der Theorie von Burke et al. zustande, wenn die Verbindungen zwischen dem semantischen und dem phonologischen System bzw. zwischen den jeweiligen Knoten der beiden Systeme zu schwach werden:

The basic cause of TOTS in the NST is a deficit in the transmission of priming across critical connections required for producing the target word. When a TOT occurs, a lexical node in the semantic system becomes activated, giving access to semantic information about the target word, but at least some phonological information remains inaccessible because insufficient priming is transmitted to enable activation of connected phonological nodes.88

Dementsprechend haben Burke et al. ihre Hypothese Transmission Deficit Hypothesis (kurz TDH) genannt, welche folgende Faktoren für ein Übertragungsdefizit postuliert: "Within the NST, three factors influence this transmission deficit: frequency of use, recency of use, and aging."89 Für alle drei Faktoren wurde plausibel nachgewiesen, daß sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß es zu einem TOTS kommt. Dabei können sich Frequenz und Rezenz überlagern, da ein Wort, das generell sehr häufig benutzt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit rezent benutzt wurde, als ein Wort, das ohnehin nur sehr selten vorkommt. Daß diese beiden Faktoren eine große Rolle für eine Theorie des lexical retrieval spielen, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sie in der Kognitionspsychologie allgemein für beliebige Gedächtnisinhalte angenommen werden:

Die Geschwindigkeit und die Wahrscheinlichkeit des Zugriffs auf einen Gedächtnisinhalt werden durch dessen Aktivationshöhe bestimmt. Diese Aktivationshöhe wiederum hängt von der Häufigkeit und dem Zeitpunkt des letzten Abrufs dieses Gedächtnisinhalts ab.90

Die Frage ist nun, welche der teils sehr unterschiedlichen TOT-Phänomene sich gut durch die TDH erklären lassen. Die häufigste Erklärung, die intuitiv von Vps genannt wird, ist die geringe Verwendungshäufigkeit des Zielwortes. Besonders

88 Burke et al. Seite 545.

89 Ebd. Seite 545.

90 Anderson, J.R. (1996). Kognitive Psychologie. Seite 180.

Wörter, die tendeziell eher dem passiven Wortschatz91 zugerechnet werden, zählen zu diesem Erklärungsmuster. Dieser Sachverhalt drückt sich in der TDH durch die Zerfallsrate der Aktivierung aus. Wird ein Wort, das prinzipiell korrekt durch das Netzwerk repräsentiert wird, selten aktiviert, so kann es in Abhängigkeit von der Zerfallsrate der Verbindungen dazu kommen, daß nur noch Teile des Zielwortes aktivierbar sind. Durch die Aufgliederung des Netzes in verschiedene Sprachebenen ist ebenfalls die Möglichkeit zur Simulation der Aktivierungen von Teilinformationen gewährleistet:

Only some of the phonological nodes for producing a word may be suffering a transmission deficit due to infrequent or nonrecent use. Some subset of the remaining phonological nodes may in fact become activated, providing a basis for partial recall.92

Eine Wortform ist in der NST erst dann vollständig aktiviert, wenn alle Knoten, die unterhalb des betreffenden lexikalischen Knotens liegen und mit diesem lexikalischen Knoten verbunden sind, aktiviert wurden:

Retrieving the complete phonology for frisbee requires activation of nodes at all levels of the phonological system, including phonological feature nodes.93

Da keine direkte Verbindung zu einer Monitor-Komponente implementiert wurde, bleibt allerdings offen, wie registriert wird, ob das Zielwort tatsächlich vollständig aktiviert wurde. Damit bleibt außerdem beim Auftreten eines TOTS ein erneuter Aktivierungsversuch aus. Es wäre allerdings denkbar, die NST so in Levelts Sprachproduktionsmodell zu integrieren, daß der Monitor, wie Levelt es vorschlägt, über die internal speech und das speech comprehension system eine Rückmeldung über das Ergebnis, oder im Falle eines TOTS über Teilergebnisse des Aktivierungsversuches, bekommt und dann gegebenenfalls einen erneuten Aktivierungsversuch startet, oder eine andere Strategie wie z.B. den Gebrauch eines

91 Unter dem "passiven Wortschatz" werden hier Wortformen zusammengefaßt, die nach Angaben der Vp verstanden werden, jedoch selten oder nie produziert werden. Eine typische Aussage einer Vp wäre in diesem Zusammenhang z.B. "Doch doch, ich kenne das Wort, aber ich gebrauche es eigentlich nie."

92 Burke et al. Seite 546.

93 Ebd. Seite 545.

Synonyms in Erwägung zieht.

Auch das Alter, das als die dritte potentielle Ursache für TOTS von Burke et al.

vorgeschlagen wurde, wird über eine allgemeine Abnahme der Übertragungsleistung zwischen den Knoten des semantischen und des phonologischen Systems erklärt, indem angenommen wird, daß allgemein die Übertragungseffizienz im Alter abnimmt:

This Transmission Deficit Hypothesis predicts increased frequency of TOTS for older adults because an age-linked weakening of connections will reduce transmission of priming from lexical nodes to connected phonological nodes, thereby reducing the likelihood of phonological activation.94

Neben diesen drei Faktoren, die sich gut durch die TDH simulieren lassen und so eine plausible Erklärung innerhalb dieses Ansatzes finden, wird auch für interloper, die, wie oben gezeigt wurde, von anderen Autoren für die Ursache von TOTS gehalten werden, eine mögliche Erklärung angeboten. Da TOTS auf eine Übertragungsschwäche der Verbindungen zwischen den Knoten des semantischen und des phonologischen Systems des Zielwortes zurückgeführt werden und da es keine hemmenden Verbindungen in der NST gibt, kommt den interlopern, die bei Burke et al. persistant alternates genannt werden, in deren Theorie keine kausale Rolle zu. Wie im Kapitel 3.1.2 bereits diskutiert wurde, konkurrieren zwei Hypothesen um das Phänomen der interloper, die blocking hypothesis und die partial activation hypothesis. Der Ansatz von Burke et al. präferiert klar die partial activation hypothesis: "Thus, persistent alternates are a consequence of transmission deficit rather that its cause."95 Folgendes Beispiel soll diesen Sachverhalt illustrieren:

94 Burke et al. Seite 546.

95 Ebd. Seite 549.

Abbildung 5: Beispiel eines persistant alternates. Burke et al. On the Tip of the Tongue – What Causes Word Finding Failures in Young and Older Adults? Seite 548.

SEMANTIC SYSTEM

PHONOLOGICAL SYSTEM

IS A VIRTUE TAKE A VOW OF

CHARITY (noun) CHASTITY (noun)

A (vowel)

S (final consant)

AS (vowel group) CH

(initial consonant) CHAR

(stressed syllable)

I

(unstressed syllable)

CHAS (stressed syllable)

TI

(unstressed syllable)

TY

(unstressed syllable)

In diesem Beispiel wird charity statt des Zielwortes chastity aktiviert, was durchaus realistisch ist, da sowohl Nächstenliebe als auch Keuschheit in die Kategorie der Tugenden fallen und die englischen Wortformen zudem sehr ähnlich sind. Zunächst werden durch priming über die propositionalen Knoten beide lexikalischen Knoten präaktiviert, und das Zielwort bekommt planmäßig mehr Aktivierungsenergie. Dann kommt es jedoch, aufgrund geringer Frequenz, geringer Rezenz, des Alters oder einer Kombination aus den verursachenden Faktoren zu einem Übertragungsdefizit von den Verbindungen des lexikalischen Knotens des Zielwortes chastity zu einem oder mehreren der entsprechenden phonologischen Knoten chas, ti oder ty.

Nachdem der Aktivierungsversuch des Zielwortes fehlgeschlagen ist, kommt ein interloper, in diesem Falle also charity, zum Zuge, da dessen Schwellenwert durch rückfließende Aktivierung, die in der Grafik durch vier Pfeile dargestellt wird überschritten werden kann. Daß der interloper bei erneuten Aktivierungsversuchen des Zielwortes wiederholt ungewollt aktiviert wird, erklären Burke et al. so:

Why do persistent alternates come repeatedly and involuntarily to mind? The spread of priming to phonologically similar words is automatic and involuntary, and once an alternate is activated it becomes easier to activate in the future because recent use increases the linkage strength of connections and enables more efficient transmission.96

Damit wird auch deutlich, warum diese Theorie eine Zerfallsrate der Verbindungen braucht. Ohne diese könnte das Zielwort nicht mehr aktiviert werden, weil der interloper sowohl durch den Frequenz- als auch den Rezenzfaktor nun erst recht leichter aktivierbar ist. Burke et al. formulieren dies folgendermaßen:

For the target to regain its most-primed status, satiation of the target lexical node must dissipate over time, and the increase in linkage strength due to recent activation of the alternate must decay over time.97

Hier hört die Erklärung von Burke et al. auf, obwohl die Erklärung nicht ganz plausibel ist. Einerseits sorgt die Zerfallsrate zwar dafür, daß die Aktivierung der Knoten des interlopers nach einer gewissen Zeit wieder unter den Schwellenwert

96 Burke et al. Seite 549.

97 Ebd. Seite 549.

fällt, aber andererseits müßte dann wegen des Rezenzfaktors die Aktivierbarkeit des interlopers heraufgesetzt sein, so daß es nicht möglich sein dürfte, das ursprüngliche Zielwort beim nächsten Aktivierungsversuch über diesen Weg zu erreichen, da der Rezenzfaktor seine 'Spuren' gerade in Form von Verbindungsstärke hinterläßt. Es ist sehr bedauerlich, daß aus dem Aufsatz von Burke et al. die numerischen Werte der Beispielsimulation nicht zu entnehmen sind, da es mit Hilfe dieser Werte möglich gewesen wäre, jede Netzveränderung bei der Aktivierung eines interlopers nachzuvollziehen.

Als letzter Punkt wird das Problem der pop-ups behandelt. Sie stellen spontane Auflösungen von TOTS dar, wobei die Auflösung zu einem völlig unpassenden Moment auftreten kann. Noch Stunden oder Tage nach dem eigentlichen TOTS kann der Vp plötzlich das Zielwort einfallen. Burke et al. schreiben dazu:

The NST provides no mechanism for causing pop-ups directly:

Because the weak connections that originally cause TOTS reflect factors such as low production frequency, non-recent use, and aging, there is no reason to expect pop-ups to reflect spontaneous recovery in these particular connnections.98

Die Netztopologie und die Funktionsweise der NST alleine können pop-ups nicht erklären. Deshalb nehmen Burke et al. an, daß das Zielwort, welches durch die Aktivierungsversuche relativ stark aktiviert ist, d.h., daß nicht mehr viel Aktivierungsenergie fehlt, um den Schwellenwert zu überschreiten, genau dann aktiviert wird, wenn ein phonologisch ähnliches Wort aktiviert werden soll:

However, pop-ups could arise from an inadvertent boost in priming to the phonological nodes suffering from transmission deficit. For example, if the critical phonological components occur accidentally during internal speech or everyday language comprehension, the full phonology of the TOT word may become available and enable the word to pop into mind.99

Leider fehlen auch für diese Annahme konkrete Simulationsergebnisse, wenngleich der zugrundeliegende Gedanke plausibel klingt.

Damit wäre die NST und die darauf aufbauende TDH von Burke et al.

98 Burke et al. Seite 550.

99 Ebd. Seite 550.

wiedergegeben. Ein wichtiger Aspekt wurde von den Autoren jedoch vernachlässigt. Bei der Auflösung von TOTS wurde das Augenmerk auf pop-ups gerichtet, welche die spontane Variante der Auflösung darstellt. Was aber passiert, wenn der Vp Teilinformationen des Zielwortes vorgegeben werden? Wie in den folgenden Kapiteln, in welchen Auszüge aus den für diese Arbeit geführten Interviews diskutiert werden, gezeigt wird, kann die Vorgabe des Anfangsbuchstabens durch den Versuchsleiter sehr häufig zur unmittelbaren Auflösung des TOTS führen. Daß diese Variante der TOT-Auflösung wenig Beachtung fand, liegt sicherlich wiederum daran, daß in TOT-Untersuchungen nur selten Interviews als Methode angewendet werden, obwohl gerade in der computergestützen Methode, die von Burke et al. verwendet wurde, die Hinzunahme der Vorgabe von Teilinformationen durch Tastendruck, kein Problem darstellt. Gerade die Vorgabe von Teilinformation und die eventuell daraufhin stattfindende TOT-Auflösung lassen sich nämlich sehr gut im Rahmen der TDH erklären. Ein TOTS, der durch ein Übertragungsdefizit zustande kommt, kann solange nicht aufgelöst werden, bis der Schwellenwert aller beteiligten phonologischen Knoten des Zielwortes überschritten wird. Die Vorgabe der Anfangsbuchstaben könnte dabei genau der entscheidende Impuls sein, um den Schwellenwert für diesen Knoten zu überschreiten, woraufhin durch die Aktivierungsenergie, die dann wiederum von diesem Knoten auf die Folgeknoten wirkt, die gesamte Wortform aktiviert werden könnte.

Wenngleich die TDH nicht alle TOT-Varianten simulieren kann und leider keine konkreten Daten der Computersimulationen vorliegen, so wurde zumindest ein erster großer Schritt in eine neue Modellierungsweise von TOTS getan, so wie er bereits seit einigen Jahren z.B. für die Versprechertheorie getan wurde. Mit Hilfe der TDH lassen sich sogar gewisse Vorhersagen machen, ob für ein bestimmtes Wort ein TOTS auftreten wird oder nicht. Außerdem läßt sich das Modell gut in das Sprachproduktionsmodell von Levelt integrieren, wenngleich dies von Burke et al.

leider nicht vorgenommen wurde. Besonders schwierig dürfte sich dabei die Implementation eines monitors erweisen, der u.a. darüber entscheiden müßte, ob ein weiterer Aktivierungsversuch gestartet oder eine andere Kommunikationsstrategie gewählt werden soll.

Damit ist das Kapitel über die Ursachen von TOTS abgeschlossen. Die Darstellung der vielen unterschiedlichen Ansätze und Ergebnisse wurde nicht zuletzt deshalb so

ausführlich gestaltet, weil es bislang nur vereinzelte Untersuchungen zu diesem Thema gab. Außerdem zeigt die Darstellung, was zu Beginn der vorliegenden Arbeit über TOTS vorgefunden wurde. Die folgenden Kapitel geben zum einen Auszüge und Interpretationen verschiedener Interviews wieder, die für die vorliegende Arbeit geführt wurden, und zum anderen wird ein neuer Ansatz zur Simulation von TOTS mit Hilfe Künstlicher Neuronaler Netze vorgeschlagen.

Im Dokument Das "Tip of the Tongue"-Phänomen (Seite 117-126)