• Keine Ergebnisse gefunden

Die Ergebnisse der Untersuchungen von Brown & McNeill

Im Dokument Das "Tip of the Tongue"-Phänomen (Seite 26-31)

2.2 Systematische Untersuchungen des TOT- Phänomens

2.2.1 Die klassische Untersuchung von Brown & McNeill

2.2.1.2 Die Ergebnisse der Untersuchungen von Brown & McNeill

Die Verteilung der geschätzten Silbenzahlen aller Versuche ergab folgende Statistik:

Guess. Numb. No

1 2 3 4 5 Guesses Mode Mean

Actual 1 9 7 1 0 0 0 1 1.53

Num- 2 2 55 22 2 1 5 2 2.33

bers 3 3 19 61 10 1 5 3 2.86

4 0 2 12 6 2 3 3 3.36

5 0 0 3 0 1 1 3 3.50

Abbildung 4: Nach Brown & McNeill. The Tip of the Tongue Phenomenon.

Seite 329. Mit eigener Hervorhebung der richtig geschätzten Silbenzahlen.

Die Zahlen der Hauptdiagonalen geben die Anzahl der richtig geschätzten Silbenzahlen wieder. Brown & McNeill sehen in diesem Ergebnis den Haupthinweis darauf, daß einer Vp kurz vor der Auflösung eines TOTS, respektive allgemein kurz vor dem Zugriff auf ein item des mentalen Lexikons, die Silbenzahl des Zielwortes bekannt ist. Dafür sprechen vor allem die guten Einschätzungen bei ein-, zwei-, und dreisilbigen Wörtern, die laut Brown & McNeill auch dem möglichen Einwand entgegenwirken, daß im Englischen ohnehin die meisten Wörter zwei-, oder dreisilbig sind, weil hier deutlich über 50% richtige Einschätzungen vorliegen, es also sehr unwahrscheinlich ist, daß einfach geraten wurde. Problematisch sind jedoch folgende Punkte:

Erstens: Die Statistik belegt zwar bei zwei- und dreisilbigen Wörtern eine Korrelation zwischen der tatsächlichen Silbenzahl der Zielwörter und der durchschnittlich geschätzten Silbenzahl, doch sind die wenigen Werte bei Wörtern mit vier oder fünf Silben überwiegend falsch. Brown & McNeill bieten dafür eine unbefriedigende ‘Lösung’:

Words of more than three syllables are rare in English and the generic entry for such words may be the same as for words of three syllables; something like „three or more“ may be used for all long words.47

Diese Annahme weicht dem Problem, daß statistisch gesehen schlechte Schätzungen vorgenommen wurden, einfach aus. Außerdem ist gerade bei polysyllabischen Wörtern mit komplexer Morphologie sowie bei Komposita die Anzahl der Silben für das Betonungsmuster (syllabic stress) wichtig, da prosodische Information sowohl über die Wortkategorie als auch über die Wortsemantik entscheiden kann.48

Zweitens: Durch den Methodenwechsel vom Interview zum Fragebogen wird nicht mehr deutlich, welchen Stellenwert die Vps der Silbenzahl beimessen bzw. wie die potentiell zur Verfügung stehende Information genutzt wird. In den für die vorliegende Arbeit geführten Interviews (Kapitel 4) wurde deutlich, daß nur selten eine klare und bestimmte Aussage über die Silbenzahl getroffen wird. Vielmehr werden Schätzungen, soweit sie überhaupt getroffen werden, durch Äußerungen der Unsicherheit eingeschränkt.49 Zudem gibt es Wörter, bei welchen keine einhellige Meinung darüber besteht, aus wievielen Silben es sich zusammensetzt50 (z.B. Go-rilla oder Go-ril-la).

Drittens: Der Methodenwechsel von den Interviews zur gleichzeitigen Befragung vieler Personen verhinderte ebenfalls eine weitere Untersuchung der Vps, welche angaben, die Silbenzahl nicht zu wissen. Eine Befragung dieser Gruppe hätte das Gesamtergebnis verdeutlichen können, da es Vps gibt, die behaupten, daß ihnen die Silbenzahl nie bewußt wird bzw. daß sie die Silbenzahl erst a posteriori rekonstruieren müssen.

Viertens: Aufgrund der vielen anderen Wörter mit gleicher Silbenzahl kann die

47 Brown, R. & McNeill, D. (1966). Seite 329.

48 Siehe dazu: Roach, P. (1991). English Phonetics and Phonology. Seite 95 ff.

49 Hier vorab einige Beispiele aus Interviews, die mit deutschen Vps geführt wurden und welche die Vagheit der Angaben über die Silbenzahlen verdeutlichen sollen. Wieviele Silben hat das Wort? 1) Ich schätze zwei oder drei 2) weiß ich nicht - Schätz doch mal! - ja vielleicht so drei 3) das ist ein ganz langes Wort - Mit wievielen Silben? - bestimmt vier oder fünf.

50 Siehe dazu: Roach, P. (1991). "As a matter of fact, if one tries the experiment of asking English speakers to count the syllables in, say, a tape-recorded sentence, there is often a considerable amount of disagreement." Seite 67.

Silbenzahl selbst nur ein vergleichsweise schwacher Hinweis auf das Zielwort sein.

Daher ist anzunehmen, daß die Silbenzahl nicht direkt für die Wortsuche benutzt wird, sondern Information eines bereits teilweise aktivierten Items darstellt. (Hier wird wiederum deutlich, daß die Metapher der Suche inadäquat ist.) Eine endgültige Arbeitshypothese, welchen Stellenwert die Silbenzahl für das zu erarbeitende Modell einnimmt, wird im nächsten Kapitel gegeben, nachdem die Folgeuntersuchungen diskutiert wurden. Zunächst werden die weiteren Ergebnisse von Brown & McNeill dargestellt.

In direktem Zusammenhang mit der Silbenzahl steht die Wortbetonung, die die Autoren aufgrund ihrer Versuchsanordnung nicht direkt auswerten konnten. Um zumindest ein indirektes Ergebnis zu bekommen, verglichen sie die Betonungsmuster der Zielwörter mit den Betonungsmustern der geäußerten Wörter mit phonologischer Ähnlichkeit (siehe oben). Dabei gab es drei Einschränkungen:

1) Einsilbige Wörter mußten weggelassen werden, weil ihr Betonungsmuster zu wenig variiert. 2) Die phonologisch ähnlichen Wörter mußten die gleiche Silbenzahl haben wie die Zielwörter. 3) Neologismen und Fremdwörter wurden nicht betrachtet. So blieben lediglich 49 Wortpaare zum Vergleich, die folgende Übereinstimmungen zeigten:

Target Words

Similar 1st syllable 2nd syllable

Sound 1st syllable 25 6

Words 2nd syllable 6 12

Abbildung 5: Nach Brown & McNeill. The Tip of the Tongue Phenomenon.

Seite 330.

Die Daten zeigen eine Tendenz, welche darauf hinweist, daß Zielwörter und phonologisch ähnliche Wörter häufig das gleiche Betonungsmuster aufweisen. (Der χ2 -Test war mit p < .001 signifikant). Aufgrund der wenigen Daten bleibt jedoch eine eindeutige Interpretation offen:

There were not enough data to permit any other analyses, and so we are left suspecting that S in a TOT state has knowledge of the stress pattern of the target, but we are not sure of it.51

Abgesehen von der schlechten Datenlage, die zudem nur indirekt ermittelt werden konnte, besteht ein Problem darin, daß auch die Betonungsmuster ideolektisch variieren können.52 Auch dieses Problem hätte durch Einzelbeobachtungen im Interview eingegrenzt werden können.

Den dritten Hinweis für die Theorie des generic recalls bekamen Brown & McNeill aus einzelnen Buchstaben, die von den Vps in TOTS angegeben wurden, wobei explizit nur nach dem ersten Buchstaben gefragt wurde und die restlichen Ergebnisse auf dem Vergleich von Zielwörtern und phonologisch ähnlichen Wörtern, respektive mit semantisch ähnlichen Wörtern beruhen. In ihren Voruntersuchungen konnten 51% der Vps den ersten Buchstaben des Zielwortes korrekt angeben und in der oben skizzierten Hauptuntersuchung sogar 57%. Sie schreiben dazu: "The evidence for significantly accurate generic recall of initial letters is even stronger than for syllables."53 Die folgende graphische Darstellung veranschaulicht die Ergebnisse:

51 Brown, R. & McNeill, D. (1966). Seite 330.

52 Siehe dazu: Roach, P. (1991). "A well-known example is 'controversy', which is pronounced by some speakers as |controversy and by others as con|troversy; it would be quite wrong to say that one version was correct and one incorrect." Seite 100.

53 Brown, R. & McNeill, D. (1966). Seite 329.

Abbildung 6: Brown, R & McNeill, D. The Tip of the Tongue Phenomenon.

Seite 330.

Die Kurven zeigen deutlich zwei Sachverhalte. Erstens liegt der tiefste Punkt der ähnlich klingenden Wörter noch höher als der höchste Punkt der semantisch ähnlichen Wörter, die lediglich als Vergleichsmaß dienten. Diese Überlegenheit wurde wie folgt interpretiert:

In any case the fact that the SS curve lies above the SM curve for the last three positions indicates that S in a TOT state has knowledge of the target in addition to his knowledge of English word structure.54

Zweitens verläuft die Kurve für phonologisch ähnliche Wörter in einer charakteristischen Weise, die auch aus Versprecherdaten bekannt ist.55 Am häufigsten sind die Anfangsbuchstaben (Anfangsphoneme)56 bekannt, die mittleren

54 Brown, R. & McNeill, D. (1966). Seite 331.

55 In diesem Zusammenhang wird auch vom bathtub effect gesprochen. Die Idee dahinter ist, daß über den Anfang des Wortes viele Informationen verfügbar sind, über den mittleren Teil kaum oder keine Informationen und über das Ende dann wieder mehr Informationen bekannt sind.

Siehe dazu: Aitchison, J. (1995). Words in the Mind - An Introduction to the Mental Lexicon. Seite 134 ff.

56 Eine Unterscheidung zwischen Buchstabe und Phonem wird auch hier nicht getroffen, weil das

0,00 0,05 0,10 0,15 0,20 0,25 0,30 0,35 0,40 0,45 0,50 0,55

1st 2nd 3rd 3rd-Last 2nd-Last Last

POSITION IN WORD

PERCENTAGE OF MATCHES

Words similar in sound (SS) Word similar in meaning (SM)

Buchstaben sind fast nie bekannt und die hinteren Buchstaben sind wieder häufiger bekannt. Diese intuitiv nachvollziehbaren Bekanntheitsgrade von Phonemfolgen, die vor allem die Anfangsbuchstaben als im TOTS bekannt hervorheben, sind schwierig zu erklären, da in den Untersuchungen, die für die vorliegende Arbeit durchgeführt wurden (Kapitel 4), festzustellen war, daß Vps in TOTS das Zielwort häufig unmittelbar elizitieren können, sobald sie den (oder die) ersten Buchstaben als Hilfestellung bekommen. Es muß also eine Erklärung dafür gefunden werden, warum Vps einerseits häufig die anfänglichen Phoneme des Zielwortes richtig angeben können ohne dabei das Zielwort vollständig aktivieren zu können und andererseits häufig das Wort sofort elizitieren können, sobald sie den ersten Buchstaben als Hinweis auf das Zielwort bekommen. Dieses Problem wird in Kapitel 4 ausführlich diskutiert. Das gleiche Problem ergibt sich, wenn es sich um mehrere Phoneme handelt. Brown & McNeill berichten, daß Vps gelegentlich nicht nur die ersten Phoneme richtig angeben konnten, sondern ganze Affixe, was folgendermaßen interpretiert wurde: "This result suggested that some letter (or phoneme) sequences are stored as single entries having been „chunked“ by long experience."57 Den Auswirkungen dieses chunking auf die Theorie des generic recall oder auf Theorien der Morphologie wurde jedoch nicht weiter nachgegangen.

Soweit zu den Ergebnissen der ersten systematischen TOT-Untersuchung. Zu welchen Schlußfolgerungen und Modellvorstellungen Brown & McNeill aufgrund ihrer gewonnenen Daten kamen, wird im folgenden diskutiert.

Im Dokument Das "Tip of the Tongue"-Phänomen (Seite 26-31)