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4. DAS LEBENDE KREUZ

4.4 Die Himmelssphäre

4.4.2.3 Die Hierarchien der Engel

Das Wort „Engel“ kommt vom griechischen „angelos“ und bedeutet „Bote“. Es bezeichnet geflügelte Wesen, die den Menschen beschützen oder aber Rebellen bestrafen und Dämonen vertreiben sollen. Die Eigenschaften der in östlichen Religionen als heilig verehrten Tiere wie Adler, Schwan oder Phönix und die Merkmale des hebräischen Cherub werden in ihnen vereint.

In der Ikonographie werden sie häufig entsprechend in strahlendem Weiß wie ein Schwan oder

143 Vgl. Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 61.

144 Vgl. Einheitsübersetzung, Anmerkung zu Dan 5,26-28.

145 Vgl. Hartmann, Mareike: Höllen-Szenarien: eine Analyse des Höllenverständnisses verschiedener Epochen anhand von Höllendarstellungen, in: https://books.google.at/books [abgerufen am 3.8.2015].

mit durchdringendem Blick wie ein Adler dargestellt. Die Flügel der Engel gehen zurück auf die klassische Ikonographie, die bereits die Siegesgöttin Nike mit Flügeln darstellt, oder aber die griechischen Schutzgeister, die Daimones, werden aber erst ab dem vierten Jahrhundert dargestellt.146 Um eine Verwechslung mit eben diesen Schutzgeistern zu vermeiden, wurden Engel zunächst aber ohne Flügel gemalt.

Die älteste Darstellung eines Engels aus dem 2. Jahrhundert findet sich in der Priscillakatakombe in Rom. Es lässt sich jedoch nur aus dem Zusammenhang mit den anderen Bildern vermuten, dass es sich um die Darstellung eines flügellosen Engels in einer Verkündigungsszene handelt.147 Aus der Mitte des dritten Jahrhunderts finden sich Engelsdarstellungen in der Synagoge von Dura Europos, die trotz des alttestamentlichen Bilderverbotes mit Wandmalereien geschmückt ist. In der byzantinischen Kunst werden Engel mit Herrschaftszeichen wie der Weltkugel, einem goldenen Stab oder einer Standarte dargestellt, um die Allmacht Gottes zu zeigen. Ihr Haupt ist meist von einem Nimbus umgeben.

Künstler vieler Generationen, besonders aber der Renaissance, haben gerade in der Darstellung der Engelsflügel ihr ganzes Können unter Beweis gestellt, wie beispielsweise Simone Martini in seiner Verkündigung (Uffizien Florenz).

Auch Thomas von Villach zeigt mit seiner Darstellung der Engelchöre in Thörl seine künstlerischen Fähigkeiten und seine Individualität.

Links und rechts von Michael erheben sich über der Mauer des Himmlischen Jerusalem neun Reihen von Engeln, jede von ihnen namentlich am Rande bezeichnet und von den nächst höheren durch ein dünnes Wolkenband getrennt.

Direkt über der Mauer sieht man in weiße Kleider gehüllt die Angeli, die vor sich in weißen Tüchern Menschenseelen gen Himmel tragen. Dies erinnert an den armen Lazarus, der von Engeln nach seinem Tode in den Himmel getragen wurde (Lk 16,33). Die vier sichtbaren Gestalten blicken wie alle anderen Engel Richtung Gottvater.

Darüber sieht man die zwar alle grau gekleideten Archangeli, jeder von ihnen aber in anderer Körperhaltung, von Thomas ganz individuell gestaltet. Sie scheinen zu singen und zu beten, also Gott zu preisen. In der dritten Reihe sieht man die blau gewandeten Virtutes, also die Tüchtigen. Sie musizieren auf verschiedenen Instrumenten, man erkennt Flöten, Geige, Tuba, Hackbrett, Laute und Cembalo.148 An vielen Stellen des Alten und Neuen Testamentes werden Musikinstrumente erwähnt, meist in Zusammenhang mit dem Tempelkult (vgl. Ps 5,1). Als Vater aller Flöten- und Zitherspieler gilt laut Gen 4,21 Jubal.

Als nächstes folgen die violett gehaltenen Potestates, also die Mächtigen. Sie haben Posaunen oder Trommeln in den Händen, einige tragen auch Schwert und Schild. Bei den als Posaunen wiedergegebenen Instrumenten ist zu unterscheiden zwischen dem Schophar und einem unserer heutigen ähnlichen, silbernen Posaune (allerdings ohne Zug). Das Schophar ist ein aus Tierhorn gebildetes Instrument, das beispielsweise beim Bundesschluss am Sinai Ex 19,16 erklang. Die

146 Vgl. Battistini, Symbole und Allegorien, 150.

147 Krauss, Heinrich: Die Engel. Überlieferung, Gestalt, Deutung, in: https://books.google.at/books [abgerufen am 5.8.2015].

148 Hinweise zu den schwer erkennbaren Musikinstrumenten vgl. Zauner, Das Hierarchiebild, 63-65.

silberne Posaune (in Num 10,2 ist zwar von Trompeten die Rede, diese haben aber keine Ventile) ist ein Signalinstrument und dient zum Einberufen der Gemeinde.149 Im Zusammenhang mit dem Erzengel Michael als im Weltgericht auftretendes Symbol und damit auch im Kontext des Gesamtfreskos ist der Posaunenschall beim Kommen des Menschensohnes in Mt 24,31 zu erwähnen.

An nächster Stelle folgen die zartgrünen Principatus, also Fürsten, auch hier sieht man noch Instrumente wie Triangel, Mandolinen oder Fiedel.

Darüber die Dominationes in lichtem Blau. Sie tragen, entsprechend ihrem Namen, Herrschaftssymbole, nämlich Zepter und goldene Kugeln mit Kreuz in Händen und Kronen auf dem Kopf.

Die folgende Reihe zeigt Thronus, sie „tragen weiße Stäbe und Barette zum Zeichen ihrer priesterlichen Würde.“150

In der Reihe der nun folgenden Cherubim ist jeder einzelne ganz individuell gestaltet, sowohl, was die Farbe des Kleides oder der Flügel, als auch die Haltung der Hände betrifft. Die Cherubim jeweils auf der Außenseite halten ein geschlossenes Buch, die der Mandorla mit Gottvater am nächsten liegenden hingegen ein geöffnetes, auf das sie extra hinweisen.

Dazwischen ist jeweils wieder ein Musikant, rechts (von Gottvater) ein Harfenspieler, links ein Orgelspieler zu sehen. Im Alten Testament Gen 3,24 bewachen Cherubim den Eingang zum Paradies nach der Vertreibung Adams und Evas. Im Buch Exodus 25,17-20 stehen sie an der Bundeslade. Allein diese kleine, in der zweitobersten Zeile des Bildes dargestellte Szene mit den geöffneten, dann geschlossenen Büchern links und rechts, kann als Hinweis auf das Thema des ganzen Bildes, gleichsam als pars pro toto gelesen werden: Die frühere Zeit des Gesetzes, das im Bundesschluss von Gott übergeben wurde und hier mit dem geöffneten Buch dargestellt wird, ist zu Ende gegangen, die Zeit des Neuen Bundes, wofür das geschlossene Buch steht, hat begonnen.

Die im zehnten Kapitel als Cherubim gedeuteten Mischwesen aus Ez 1,5ff erinnern mit ihren vier Gesichtern in Gestalt des Löwen, Adlers, Stiers und Menschen an den Tetramorph, das Reittier der Ecclesia.

Die letzte Reihe bilden schließlich die Seraphim, diese wieder einheitlich in der Farbe.

Seraphim werden in der Erklärung zu Jes 6,2 als „die Brennenden“ bezeichnet. Sie sind Mischwesen mit Schlangengestalt, Gesicht, Händen und Flügeln. Abgetrennt sind sie von den Cherubim durch ein Textband, das beginnt wie ihr Ausruf in Jes 6,3: „Sanctus, sanctus, (Dominus)“, also „Heilig, heilig, heilig ist der Herr…“, dann aber nicht fortfährt „ der Heere.

Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt.“, sondern endet „qui est et qui erat.“ Zauner will dies in Ergänzung des fehlenden Futurs „qui erit“, also „der ist und der war und der sein

149 Vgl. Liebi, Roger, in: http://www.bibelkreis.ch/RogerLiebi/musikinstrumente%20-%2019.10.2001.pdf [abgerufen am 3.8.2015].

150 Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 64.

wird“ als Umschreibung des Gottesnamens Jahwe „Ich-bin-da“ aus Ex 3,14 verstanden wissen.151

Eine Vielzahl von Engeln mit unterschiedlichen Aufgaben findet sich bereits in der Offenbarung des Johannes. So werden in Offb 4,4-8 vierundzwanzig Älteste erwähnt, die laut der Erklärung als hohe Engel anzusehen sind, die eine Art Thronrat Gottes bilden.152 Ebenso sind die sieben Geister im folgenden Vers Engel, die als Gottesboten dienen, die vier Wesen mit ihren Augen vorn und hinten dienen als Wächter. In Offb 7,11 stehen alle Engel um den Thron Gottes. Sieben von ihnen werden in Offb 8,2 Posaunen übergeben, es folgen die sieben Posaunenvisionen, die den ägyptischen Plagen nachgebildete Gerichtsvorgänge schildern.153 Engel haben also bereits hier verschiedene Aufgaben und Bedeutungen.

Die Hierarchie der Engel geht auf eine Rangordnung, die ein gewisser Dionysius erstmals nennt. Heute wird der um das Jahr 500 n. Chr. lebende syrische Autor als Pseudo-Dionysius bezeichnet. Er behauptet von sich, der Dionysius Areopagita zu sein, der in Apg 17,34 erwähnt wird, dies wohl, um sich für die Glaubwürdigkeit seiner Schriften der Autorität eines direkten Paulusanhängers zu bedienen. Joseph Stinglmayr konnte aber bereits 1895 nachweisen, dass dies nicht der Fall sein kann, da er Proklus, den Patriarchen von Konstantinopel, der erst um 485 n.Chr. starb, zitiert.154 Jedenfalls nennt er auf Griechisch neun Hierarchien, wie sie auch in Thörl auftauchen. Ins Lateinische wurden sie von Johannes Scotus Eriugena (Zauner schreibt Scotus Erigena), einem Theologen aus dem neunten Jahrhundert, übersetzt und dadurch den des Griechischen nicht mächtigen Gelehrten des Mittelalters zugänglich.155

Auf Dionysius, den er als den Dionysius aus Apg 17,34 bezeichnet, bezieht sich auch Honorius Augustodunensis, ein Schriftsteller des 12. Jahrhunderts und Mönch aus dem Schottenkloster in Regensburg. Er nennt ebenfalls neun Stufen und bezeichnet sie so, wie es später auch Thomas von Villach tut, und ordnet ihnen auch bestimmte Aufgaben zu: „Die Angeli, die einzelnen Menschen zu Schutz, Trost und Hilfe gesendet werden, die die Dämonen niederhalten, daß sie nicht zu viel schaden; die Archangeli, die gesendet werden, um höchstes zu vollführen oder zu verkünden, und die, wie man glaubt, den einzelnen Völkern vorstehen; die Virtutes, die die Wunderzeichen pflegen; die Potestates, die die Laster und Dämonen zügeln; die Principatus, die die Prinzen (die Ersten) sind im Heer der Engel; die Dominationes (=Herrschaften), die über diese Prinzen herrschen; die Throni, die Gottes Richtersprüche ausführen; die Cherubim, durch die die Weisheit des göttlichen Erkennens in Erscheinung tritt; die Seraphim, die in göttlicher Liebe erglühen.“156 Er deutet die neun Chöre entsprechend dem Gleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme Lk 15,1-10 als von Gott zusammengerufene Engelgemeinschaft, die sich mit ihm freuen soll, wenn der zehnte Chor, die Menschheit, wiedergefunden wird.

151 Ebd., 67.

152 Vgl. Einheitsübersetzung, Anmerkung zu Offb 4,4-8.

153 Vgl. Einheitsübersetzung, Anmerkung zu Offb 8,2-9,21.

154 Vgl.Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 176.

155 Vgl. Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 142.

156 Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 139.

Auf die Übersetzung des Pseudo-Areopagita von Scotus Eriugena berufen sich später auch Albertus Magnus und Thomas von Aquin, die sich in ihren Schriften ebenfalls mit den Hierarchien der Engel auseinandersetzen.

Eine zweite Quelle für die Hierarchie der Engel ist Papst Gregor, der in seiner 34. Homilie zum 3. Sonntag nach Pfingsten von neun Engelordnungen spricht.157 Er kommt auf diese Zahl, indem er zu den aus dem Alten Testament bekannten Angeli und Archangeli sowie Cherubim und Seraphim die von Paulus genannten fünf weiteren Ordnungen hinzuzählt. Dieser spricht in Eph 1,21 von Fürsten, Gewalten, Mächten und Herrschaften. Im Brief an die Kolosser 1,16 ergänzt er die Throne, wenn es heißt: „Denn in ihm wurde alles erschaffen/ im Himmel und auf Erden, /das Sichtbare und das Unsichtbare, / Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;

/ alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.“ Diesen Hymnus auf Christus als den Mittler der Schöpfung und Erlösung übernimmt Paulus vielleicht aus der frühchristlichen Liturgie.158 Von Gregor stammen auch die lateinischen Bezeichnungen der Chöre, wie wir sie auch in Thörl bei Thomas finden.

Mit diesem gregorianischen Hintergrund, der Thomas nicht bewusst gewesen sein mag, der aber der zu seiner Zeit schon längst etablierten Ikonographie der Engelschöre zugrunde lag, wiederholt und betont er abermals die Bildaussage des Lebenden Kreuzes. Denn in Kol 1,19-20 des Hymnus heißt es: „Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“

Der Unterschied zwischen Dionysius und Gregor besteht zum einen in der von Dionysius betonten, von Gregor vernachlässigten, Gliederung in drei Triaden, die jeweils drei aufeinander folgende Hierarchien zusammenfassen und der Reihenfolge. Dionysius beginnt seine Darstellung bei den höchsten Engeln, also den Seraphim. Gregor hingegen beginnt mit den Angeli. Dies impliziert die Richtung, in die die Engelschöre führen: Von oben herab wie bei Dionysius, oder aber vom Menschen zu Gott wie bei Gregor.159 Thomas orientiert sich, auch den Namen nach, an Gregor. Allerdings wird bei einem Bild, anders als beim Schriftstück, die Reihenfolge und damit Lesart dem Betrachter überlassen. Auch wenn man geneigt ist, allein aufgrund der Höhe des Freskos, zunächst das Lebende Kreuz und von dort aufwärts blickend die Engelschöre von unten nach oben zu betrachten, kann in Zusammenschau der vielfältigen Motive und ihrer zugrunde liegenden theologischen Aussage nur die doppelte Betrachtung dem Werk gerecht werden. Von oben nach unten gelesen betont es den Heilswillen Gottes, der seinen Sohn gesandt hat, um die Welt zu retten (vgl. Joh 3,6-7). Von unten nach oben gelesen weist es auf die Heimholung der Menschen zu Gott hin: „Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mit holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“ (Joh 14,3).

Darstellungen der Engelschöre finden sich beispielsweise in der Kuppel des Baptisteriums von Florenz oder auch bei Giotto in der Scrovegnikapelle in Padua. Diese hat Thomas, wie eingangs erwähnt, möglicherweise gekannt. Insgesamt werden alle neun Chöre weniger oft dargestellt

157 Ebd., 143.

158 Vgl. Einheitsübersetzung, Anmerkung zu Kol 1,15-20.

159 Vgl. Zauner, Hierarchiebild der Gotik, 147.

im Vergleich zu den sonst so häufigen Engelsdarstellungen als einzeln auftretenden wie in Verkündigungsszenen, in Gruppen oder als Heerscharen, nicht aber hierarchisch geordnet.

Die Aussageabsicht der Hierarchien bei Thomas erschließt sich, wenn man sein quasi „zweites Hierarchienbild“, das Gottesplagenbild am Grazer Dom betrachtet.