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1 DIE GRENZE

Im Dokument Diskurse des Kalten Krieges (Seite 22-56)

Auf ihrem Weg von der Steiermark in das ungarische Grenzdorf Unter-Zem-ming, wo sie ihren Großvater besuchen wollen, stoßen die Brüder Dick und Mac, die Protagonisten des Jugendbuchs Gefährliche Grenze (1956)1 von Paul Anton Keller, gemeinsam mit ihrem Begleiter, dem Hund Blondy, auf ein scheinbar unüberwindbares Hindernis. Auf die Frage, ob es noch weit bis zu ihrem Ziel wäre, antwortet ihnen ein hilfsbereiter Briefträger, dass Unter-Zemming „in der anderen Welt“ liegen würde: „‚Ja, ja‘, nickte der Mann. ‚Einen Katzensprung wei-ter hat unsere Welt ein Ende. Habt ihr noch nichts vom eisernen Vorhang gehört?

[…] Bei uns kann euch jeder Maulwurf sagen, was der eiserne Vorhang ist!‘“

(GG 156 f.) Auf die kindlich-naive Frage des zehnjährigen Dick, ob sich der

„Vorhang“ denn nicht aufheben lasse, reagiert der Briefträger naturgemäß amü-siert: „Du glaubt wohl, es ist ein Vorhang aus Mollino oder Hausleinen oder sonstwas, gelt? Nein, mein Lieber, dieser Vorhang ist aus Stacheldraht, und hin-ter dem Stacheldraht liegen die Teufelseier in der Erde, und er ist elendlang und geht mitten durch uns alle.“ (GG 157)

In dieser Szene aus Paul Anton Kellers Kinderbuch wird der doppelte Cha-rakter des Eisernen Vorhangs erklärt. Die Konfrontation der beiden dominie-renden politischen Systeme nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte nicht nur ein globales System von Eigenem („unsere Welt“, s.o.) und Fremdem („andere Welt“, s.o.), sondern manifestierte sich in Europa auch in einer territorialen, physisch wahrnehmbaren und nur unter Lebensgefahr überschreitbaren Grenze. Die

„Konnotation des Martialischen, Waffenstarrenden“,2 die der Metapher des

„Eisernen Vorhangs“ innewohnt, wird in Kellers Text dabei besonders betont:

dickmaschiger Stacheldraht und Minen („Teufelseier“) machen ihn undurch-dringlich. Diese Grenze trennt zwei Welten und verwirklicht damit auf der Ebe-ne der Topographie, was den Kalten Krieg insgesamt prägt: seiEbe-ne bipolare Struk-tur. In allen gesellschaftlichen Bereichen wurden Akteure, Handlungen und Ereignisse in die Gegensätze von Gut und Böse, Freund und Feind, Freiheit und Sklaverei, Licht und Finsternis eingeordnet. Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower formulierte 1953: „The Forces of good and evil are mas-sed and armed and oppomas-sed as rarely before in history – Freedom is pitted against

1 Paul Anton Keller: Gefährliche Grenze. Wien: ÖBV 1956. Im Folgenden als GG mit fortlau-fender Seitenzahl zitiert. Zur Zitierweise der weiteren Primärtexte siehe Siglenliste.

2 Christian Koller: Der „Eiserne Vorhang“. Zur Genese einer politischen Zentralmetapher in der Epoche des Kalten Krieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 54 (2006) H. 4, S. 366–368, hier S. 367.

slavery; lightness against the dark.“3 In der Sowjetunion war die „Zwei-La-ger-Theorie“ des Politbüro-Mitglieds Andrej Schdanow zur offiziellen Doktrin geworden, die den „imperialistisch-antidemokratischen“ Block des Westens dem

„antiimperialistisch-demokratischen“ Block des Ostens in „unversöhnlichem Gegensatz“ gegenüberstellte.4 Und dazwischen also die „Gefährliche Grenze“.

Der „Eiserne Vorhang“: Das Symbol des Kalten Krieges

Der aus der Welt des Theaters stammende Begriff des „Eisernen Vorhangs“ – dort bezeichnet er die Schutzvorrichtung, die Bühne und Zuschauerraum trennt – bestimmte 40 Jahre lang die bildliche Vorstellung der Teilung Europas in zwei feindliche Lager. Christian Koller sieht in dieser „Grenzmetapher“5 eine grund-legende Asymmetrie eingeschrieben. „Man befand sich nicht einfach auf der einen oder auf der anderen Seite der Grenze, sondern ‚vor‘ oder ‚hinter‘ dem Vorhang“6, was auch mit einer spezifischen Perspektive und einer klaren Wer-tung einhergeht. „Die Grenze schloss nicht wie üblicherweise aus, sondern ein, war in der westlichen Wahrnehmung die Mauer eines einzigen riesigen Gefäng-nisses.“7 Die westliche Seite „vor dem Eisernen Vorhang“ wurde demzufolge als die moralisch überlegene imaginiert, als das von Freiheit geprägte Eigene, von dem sich das Andere hinter der Grenze radikal abschloss. Zudem enthält das Adjektiv „eisern“ auch militärische, kriegerische Konnotationen, selbst wenn die Trennwand im Theater ursprünglich tatsächlich aus Metall war.

Doch der „Eiserne Vorhang“ war nicht nur eine Metapher, sondern poli-tisch-territoriale Realität: Nach 1945 hatten sich die Grenzen des Kommunismus in Europa und Asien dramatisch ausgedehnt: in Europa auf das gesamte Gebiet östlich einer Linie, die von der Elbe bis zur Adria (mit Ausnahme Griechen-lands) verlief. Der Eiserne Vorhang erstreckte sich entlang der Grenze der Sow-jetischen Besatzungszone, respektive der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, über die Westgrenze der Tschechos-lowakei und Ungarn und weiter entlang der rumänischen und bulgarischen Westgrenze. Ab 1961 in Form der Mauer dann auch mitten durch Berlin.8

3 Arthur Herman, Joseph McCarthy. Reexamining the Life and Legacy of America’s Most Hated Senator. New York: Free Press 2000, S. 208, zit. n. Douglas Field: Introduction. In: Ders.: (Hg.):

American Cold War Culture. Edinburgh: Edinburgh University Press 2005, S. 1–13, hier S. 4.

4 Stöver: Der Kalte Krieg, S. 74. Vgl. Wladislaw Subok, Konstantin Pleschakow: Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise. Hildesheim: Claassen 1997, S. 165.

5 Koller: Der „Eiserne Vorhang“, S. 367.

6 Ebd.

7 Ebd.

8 Vgl. Roman Sandgruber, Norbert Loidol: Der Eiserne Vorhang. Die Geschichte – das Ende –

Zahlreiche Texte der österreichischen Literatur nach 1945 inszenieren die Grenze zwischen den Blöcken in dramatisch zugespitzten Episoden als lebens-gefährliche Trennlinie. „Grenze“ meint hier stets eine territoriale Grenze, also eine Staats- oder Landesgrenze, und dabei „sowohl Grenzlinie wie den Grenz-raum“9 . Eine Fokussierung auf dieses Motiv war für die österreichischen Schrift-stellerinnen und Schriftsteller naheliegend, da sich 750 Kilometer der Staats-grenze Österreichs direkt am Eisernen Vorhang befanden. Immer wieder beschreiben Romane, Erzählungen, Dramen etc. die Grenze unter den Vorzei-chen des Prekären, der Gefahr und des Todes. Nichtsdestotrotz wird in vielen Texten der „Eiserne Vorhang“ ‚aufgehoben‘, gelingt es den Protagonistinnen und Protagonisten einen Weg zu finden, den dickmaschigen Stacheldraht zu über-winden, um von der einen Seite zur anderen, – und manchmal auch wieder zurück –, zu gelangen (vgl. Kapitel 2: Reisen ins Rote). Dass der Vorhang nicht nur ein sprachliches Bild im Systemkonflikt war, darauf weist der Briefträger in Gefährliche Grenze hin. So warnt er die beiden Buben vor dieser prekären Zone:

Darum sag ich euch ja, nehmt euch in acht! Seht ihr dort drüben den Jungwald?

Dahinter der schwarze Strich ist älteres Holz und stellenweise recht dicht. Wo die-ser Wald aufhört, zieht sich die Grenzstraße, immer neben dem Stacheldrahtzaun hin. Da ist das Burgenland aus. (GG 157 f.)

Im Weiteren beschreibt er die Wachtürme, von denen „die Grenzbesatzung der ungarischen Volksrepublik“ die Grenze beobachtet „und zwar verdammt scharf beobachtet, ob sich wohl niemand über die Grenze schleicht, weder hinüber noch herüber“ (GG 158). Ein zusätzliches Erschwernis beim Übertreten der Grenze seien noch die Scheinwerfer, die nächtlich den Grenzstreifen ausleuch-ten würden: „Wer in diesem Licht auftaucht, wird sofort beschossen“ (ebd.). Der Briefträger erzählt den Buben zwar von Geheimwegen über die Grenze, kons-tatiert jedoch, dass man genau wissen müsste, wo ein gefahrloses Übertreten der Grenze möglich sei, denn derjenige, der „es nicht weiß, schaut bald die Gras-wurzeln von untenher an“ und er prophezeit den Buben eine „pulverisierte Him-melfahrt“ (ebd.), sollten sie die im Todesstreifen verborgenen Minen auslösen.

Als Metapher war der „Eiserne Vorhang“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts nicht neu. Er findet sich als Bild für eine unüberwindbare Grenze bereits in H. G. Wells Roman The Food of the Gods (1904, dt. Die Riesen kommen). Die frühe

die Mahnung. In: Claudia Ham (Hg.): Der Eiserne Vorhang. A Asfüggöny. Katalog zur Son-derausstellung, gemeinsam mit dem Militärhistorischen Museum, Budapest, 24. April bis 20. Juli 2001. Wien: Heeresgeschichtliches Museum 2001, S. 15–52.

9 Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck &

Ruprecht 2001, S. 10.

Der „Eiserne Vorhang“: Das Symbol des Kalten Krieges 23

Metaphorisierung des Ausdrucks lässt sich auch diversen Tagebüchern und der Reiseliteratur entnehmen, z.B. bei Ethel Snowden Through Bolshevik Russia (1920).

Nach der Jahrhundertwende taucht er in mehreren Romanen auf, etwa in Vladi-mir Rozanovs Apocalpyse of our Time (1918). 1938 erschien im österreichischen Bergland-Buchverlag ein Roman von Erich Claudius, der den Titel Der Eiserne Vorhang10trägt. In politischen Kontexten wurde die Bezeichnung spätestens seit dem Ersten Weltkrieg verwendet, wo er auch als militärischer Begriff für „Sperr-feuer“ gebräuchlich war. Erstmals auf die Grenzlinie zwischen Ost und West ange-wendet hatte ihn dann der Kommunist Lev Nikulin 1930 in der Literaturnaja Gazeta als Bild für die Bemühungen des Westens, die Dynamik der Oktoberre-volution nicht über die Grenze kommen zu lassen. Anders als in der späteren Ver-wendung wurde die Sperre hier also vom Westen errichtet.11 Bis zum Zweiten Welt-krieg zeigt sich „eine Vielfalt von metaphorischen Verwendungsweisen des Ausdrucks“12. Auch Joseph Goebbels, Propagandaminister des Dritten Reichs, hat-te in einem, knapp vor Ende des Zweihat-ten Weltkriegs erschienenen Artikel für die NS-Wochenzeitung Das Reich den Begriff „Eiserner Vorhang“ verwendet.13

Von zentraler Bedeutung für den Kalten Krieg und Ausgangspunkt der Popu-larisierung des Begriffs war dann eine am 5. März 1946 an der Universität Ful-ton (Missouri, USA) gehaltene Rede von WinsFul-ton Churchill. Er warnte vor der sowjetischen Expansion und charakterisierte die geopolitische Lage wie folgt:

From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic, an iron curtain has descended across the Continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of Central and Eastern Europe. Warsaw, Berlin, Prague, Vienna, Budapest, Belgrade, Bucharest and Sofia, all these famous cities and the populations around them lie in what I must call the Soviet sphere, and all are subject in one form or another, not only to Soviet influence but to a very high and, in many cases, increasing measure of control from Moscow.14

Das „politische Schlagwort“ vom „Eisernen Vorhang“, welches das „sozusagen sichtbare Requisit des ‚kalten Kriegs‘“ gewesen war, ergriff in der Folge „von den

10 Vgl. Erich Claudius: Der Eiserne Vorhang. Salzburg, Wien, Leipzig: Das Bergland-Buch 1938.

11 Vgl. Koller: Der „Eiserne Vorhang“, S. 375.

12 Koller: Der „Eiserne Vorhang“, S. 375.

13 Vgl. Koller: Der „Eiserne Vorhang“, S. 376.

14 Winston Churchill: „The Sinews of Peace”. A Speech to Westminster College, Fulton, Missou-ri, March 5, 1946. In: Ders.: The Sinews of Peace. Post-War Speeches. London [u.a.]: Cassell and Company Ltd. 1948, S. 93–105, hier S. 100. Vgl. auch Anne Applebaum: Iron Curtain. The Crushing of Eastern Europe 1944–1956. London [u.a.]: Penguin Books 2012, S. XXI; Die Arbei-ter-Zeitung berichtete unter dem Titel „Ein Schatten fällt auf den Sieg“ über Churchills Rede in Fulton, vgl. Arbeiter-Zeitung, 6.3.1946, S. 2.

Massen […] nachdrücklich Besitz“15 und verankerte sich in den Köpfen der Zeit-genossen. Aus der Metapher wurde jedoch bald Realität: An den Grenzen ent-standen sogenannte „Todesstreifen“, die unmittelbar am Grenzzaun verliefen, zahllose Wachtürme wurden errichtet, das Terrain wurde durch Minenfelder und Stacheldrahtzäune unüberwindlich.

Die starke Symbolwirkung des Eisernen Vorhangs zeigte sich auch 1989, als die jeweiligen Außenminister, Gyula Horn und Alois Mock, bei Sopron den Sta-cheldraht zwischen Ungarn und Österreich durchschnitten und damit symbo-lisch das Ende der Teilung Europas in Ost und West inszenierten.16 Aber schon seit Beginn des Kalten Krieges kam Bildern der Überwindung der Grenze zen-trale Bedeutung zu, etwa in der berühmten Fotographie von Peter Leibing, die den NVA-Soldaten Conrad Schumann zeigt, der die mit Stacheldrahtrollen mar-kierte Grenze im Berliner Bezirk Wedding überspringt. Generell wurden Bilder der Grenze, ab 1961 dann auch Bilder der Berliner Mauer, als Symbol für die Unmenschlichkeit und Unrechtmäßigkeit der totalitären Staaten gebraucht.

Konkret waren die Teilung der Welt während des Kalten Krieges und die Auf-rüstung der Grenzen die Folgen der Konkurrenz politischer Einflusssphären.

Während Churchill über die Gefahr der Sowjetisierung von ganz Europa besorgt war, dachte auch Stalin über eine Sicherheitslinie, eine „geostrategische Magis-trale“17 nach. Die Grenzen sollten der Sicherung dieser Räume dienen, was sich im geteilten Österreich der Besatzungszeit, vor allem aber in der 1949 erfolgten Teilung Deutschlands und der „doppelten Staatsgründung“ zeigte. Namentlich in Berlin trafen die geostrategischen Interessen der Sowjetunion und der USA am deutlichsten aufeinander, was sich im Bau der Berliner Mauer manifestierte.

Angesichts der deutschen Entwicklung herrschte auch in Österreich lange Zeit Angst vor einem Putsch der Kommunisten und einer damit einhergehenden Teilung des Landes.18

Der politische Theoretiker James Burnham hat gegen die Ineinssetzung von topographischer und ideologischer Grenze eingewandt, dass die Bezeichnung

„Eiserner Vorhang“ irreführend wäre, denn die „Scheidewand“ zwischen Ost und West verliefe nicht auf „einer bestimmten geographischen Linie“, sondern der kommunistische Einfluss würde „in jedes geographische Gebiet der Erde“

15 A. K.: Glossen zur Zeit. In: Forvm 1 (1954) H. 12, Dezember, S. 3.

16 Seitdem wird vom „Fall des Eisernen Vorhangs“ gesprochen, was, in Anbetracht der Herkunft der Metapher, ein schiefes Bild ergibt. Denn wenn der Eiserne Vorhang fällt, ist er geschlossen, die Abtrennung vollzogen.

17 Bernd Stöver: Der Kalte Krieg, S. 49.

18 Vgl. Günther Bischof: „Austria looks to the West“. Kommunistische Putschgefahr, geheime Wiederbewaffnung und Westorientierung am Anfang der fünfziger Jahre. In: Thomas Albrich, Klaus Eisterer, Michael Gehler, Rolf Steininger (Hg.): Österreich in den Fünfzigern. Innsbruck:

Österreichischer Studien Verlag 1995, S. 183–210.

Der „Eiserne Vorhang“: Das Symbol des Kalten Krieges 25

einsickern und auch „innerhalb jeden Landes – unabhängig von seinen offizi-ellen Grenzen – zu finden“ sein. Diese imaginäre „Scheidewand“ würde inner-halb eines Landes „die Kommunisten von den Nicht-Kommunisten ebenso rigo-ros trennen wie zur Zeit die Elbe Deutschland in zwei Teile zerschneidet“.19 Auch der Historiker Bernd Stöver hat von einem bereits in den 1950er-Jahren einset-zenden „Kalten Bürgerkrieg“ innerhalb der Gesellschaften gesprochen, wobei das Konfliktpotential jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt, aber immer prä-sent gewesen sei. Die Fronten zogen sich im Westen „zum Teil quer durch gesell-schaftliche Organisationen“.20

Generell fungieren Staatsgrenzen als „politische Linien, gezogen von einer Macht, die ihre Reichweite zu allererst räumlich fixiert“21 und funktionieren als Selektionsmaschinen, da sie regeln, welche Menschen bzw. Dinge in das Staats-gebiet hinein- oder aus ihm heraus dürfen. In actu existiert die Grenze als eine technische Vorrichtung und soziales Arrangement des Aus- und Einschließens, aber auch des Öffnens. Zwar unterscheidet die grenzsetzende Macht zwischen legalen und illegalen Grenzgängern und der Wechsel zwischen den Grenzen mag unter Gefahr für Leib und Leben erfolgen – dennoch ist die „Kontrolle der Demarkationslinien […] niemals total, keine Grenze vollkommen dicht“.22

Österreichs Lage direkt am Eisernen Vorhang bedingte bereits früh eine Kri-tik an den Absperrungen, die an den Grenzen zu den kommunistischen Staaten installiert wurden. Von der KPÖ wurden diese zunächst als Propaganda abge-tan. So schreibt etwa die kommunistische Zeitschrift Österreichisches Tage-buch 1946, dass „oft von einem eisernen Vorhang, der sich angeblich durch ganz Europa erstreckt und sozusagen die westlichen Zuschauer von den östlichen Akteuren trennt“, gesprochen werde: „Da wir in einem Lande leben, das – um im Bilde zu bleiben – sozusagen das Proszenium dieser eingebildeten Bühne darstellt, ist es uns nicht schwer, zu begreifen, daß die ganze Vorstellung vom eisernen Vorhang keineswegs den Tatsachen entspricht.“23

Anders als die politisch-ideologische Grenze wurde die territoriale Grenze aber nicht nur auf Seiten der Kommunisten als durchlässig bezeichnet und in ihrer Wirkung heruntergespielt. Die Negierung der tatsächlichen Verhältnisse durch Politiker „blockfreier“ Staaten, wie etwa des indischen Ministerpräsiden-ten Jawaharlal (Pandit) Nehru, inspirierte Hans Weigel zu einer satirischen Phan-tasie über ein Zeitalter ohne „Eisernen Vorhang“. Weigel zitiert Nehru, der

ange-19 James Burnham: Ist die Welt wirklich unteilbar? In: Der Monat 1 (ange-1949) H. 7, S. 12–18, hier S. 18.

20 Stöver: Der Kalte Krieg, S. 227.

21 Eva Horn, Stefan Kaufmann, Ulrich Bröckling: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin: Kadmos 2002, S. 7–22, hier S. 7.

22 Ebd., S. 8.

23 Fritz Glaubauf: Österreichs Mission? In: Tagebuch 1 (1946) H. 12, 22.6.1946 S. 1 f.

sichts einer Reise durch Europa programmatisch verkündet hatte: „Ich habe keinen Eisernen Vorhang bemerkt.“24 Ein namenloser Ich-Erzähler beschreibt in Weigels Text seine Reise in die ungarische Volksrepublik. Diese ist ohne die Schwierigkeiten einer Grenzkontrolle möglich, ein Pass ist schnell ausgestellt.

Im österreichischen Boulevardblatt Bild-Telegraf, der ebenso wie die Arbei-ter-Zeitung und die Salzburger Nachrichten ohne weiteres im fiktiven Ungarn erhältlich ist, liest er „halt leider immer noch diese verlogenen Hetzar-tikel über die angeblichen Zustände hinter dem sogenannten ‚Eisernen Vorhang‘:

Da ich fast jeden Sonntag mit meinen amerikanischen Freunden an den Plattensee ba-den fahre, kenne ich die Gegend an der Grenze ganz genau. Ich sah zum Fenster hin-aus. Der gemeinsame Schlagbaum, den sie kürzlich zur Vereinfachung des Verfahrens statt der beiden bisherigen aufgestellt hatten, war erhoben. In beiden Richtungen zog ein ununterbrochener Strom von Autos mit Ausflüglern vorüber, ohne anzuhalten, man winkte einfach mit den Reisepapieren durch das Fenster […].“25

Einen anderen Grenzübertritt beschreibt der Ich-Erzähler des Romans The Self-Be-trayed (1954, dt. 1970)26 von Joseph Wechsberg, der Journalist Jacques Willert, der als amerikanischer Staatsbürger nach dem Zweiten Weltkrieg in seine Hei-matstadt, einer ehemaligen K.-u.-k.-Industriestadt in Mähren, zurückkehrt, um ehemalige, im Land verbliebene Freunde wiederzusehen und eine Reportage zu verfassen. Da das ganze Land nun unter kommunistischer Herrschaft und „ein Polizeistaat“ (ST 145) ist, gestaltet sich die Einreise zunächst schwierig: „Ich ver-suchte mehrmals, hinzufahren, doch teils durch Paßbeschränkungen und Schwie-rigkeiten mit dem Visum, teils durch die Bestimmungen, die für Reisen durch den Eisernen Vorhang galten, verstrich viel, viel Zeit, bis ich endlich die nötigen Papiere gesammelt hatte.“ (ebd.) Als in Willerts ehemaliger Heimatstadt ein Frie-densfestival veranstaltet wird, anlässlich dessen „[f]ür ein paar Wochen […] die Schranken“ hochgehen, dürfen auch „Menschen aus dem Westen“ (ebd.) einrei-sen. Von Paris aus fährt Willert gemeinsam mit zahlreichen Besuchern des Frie-densfestivals bis zur Grenze, die der Zug in den frühen Morgenstunden erreicht.

Willert wirft einen genauen Blick auf die Grenze und deren Beschaffenheit:

Der Zug fuhr langsamer. Im hellen Mondlicht konnte ich neben den Geleisen einen hölzernen Wachtturm sehen, auf dem Maschinengewehre und

Suchschein-24 Hans Weigel: In den Wind gesprochen. In: Bild-Telegraf, 9.7.1955, S. 4.

25 Ebd.

26 Joseph Wechsberg: Der Stalinist. Wien [u.a.]: Molden 1970. Der Roman erschien bereits 1954 in den USA unter dem Titel The Self-Betrayed [Im Folgenden als ST mit fortlaufender Seiten-zahl zitiert].

Der „Eiserne Vorhang“: Das Symbol des Kalten Krieges 27

werfer montiert waren, und weiter hinten einen gepflügten Ackerstreifen, der mit Minen gespickt war, wie ich von Flüchtlingen gehört hatte. Als wir an dem Wacht-turm vorbeifuhren, sprang ein Soldat mit einer Maschinenpistole auf den letzten Wagen […] Auf der anderen Seite des Bahndamms stand noch ein Wachtturm, fast zur Gänze durch ein großes Willkommensschild verdeckt, das eine Frie-denstaube trug. (ST 146)

Das Bild des Wachturms, der durch eine Friedenstaube, die der Erzähler als Attrappe erkennt, verdeckt wird, soll – auf recht plakative Weise – die eigentli-chen, aggressiven Absichten hinter den kommunistischen Friedensinitiativen entlarven. Die Friedenssymbolik ist bloße Camouflage, da die waffenstarrende Grenze genau das Gegenteil zum Ausdruck bringt. Nicht zuletzt dadurch wird in der Darstellung der Grenzbefestigungen des Eisernen Vorhangs eine Dicho-tomie von „westlicher Identität und östlicher Alterität“27 etabliert.

Das „wilde Jubelgeschrei“ (ST 146) der mit dem Kommunismus sympathisie-renden Reisenden missfällt Willert. Ein ähnliches „Jubelgeschrei“ stößt auch ein Korrespondent des Tagebuch anlässlich der Weltjugendfestspiele in Ostberlin 1951 aus, die er mit der „Freien Österreichischen Jugend“ besucht hatte. Er lobt die DDR-Volkspolizisten, die zu den Einreisenden überaus freundlich sind, „zur höchsten Achtung allen arbeitenden Menschen gegenüber erzogen“ und in denen

Das „wilde Jubelgeschrei“ (ST 146) der mit dem Kommunismus sympathisie-renden Reisenden missfällt Willert. Ein ähnliches „Jubelgeschrei“ stößt auch ein Korrespondent des Tagebuch anlässlich der Weltjugendfestspiele in Ostberlin 1951 aus, die er mit der „Freien Österreichischen Jugend“ besucht hatte. Er lobt die DDR-Volkspolizisten, die zu den Einreisenden überaus freundlich sind, „zur höchsten Achtung allen arbeitenden Menschen gegenüber erzogen“ und in denen

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