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AUGENZEUGEN HINTER DEM EISERNEN VORHANG 1

Im Dokument Diskurse des Kalten Krieges (Seite 56-94)

Doch was ist Wirklichkeit?

Die Fahnen sind grau, das Auge täuscht mich nicht. Aber sie sollten rot sein;

vielleicht also täuscht das Auge mich doch .2 Vor 35 Jahren fuhr ich in die Sowjetunion, um an einem internationalen Psychologenkongreß teilzunehmen. Es lag mir aber noch viel mehr daran, bei dieser Gelegenheit durchs Land zu reisen, um [...] die greifbare Bestätigung dafür zu finden, daß die Oktoberrevolution in Rußland eine neue Gesellschaftsordnung, die einzig gerechte, geschaffen hatte [...] Ich war ausgegangen, all das zu suchen, was meine Überzeugungen erhärten und meine Begeisterung ‚sachlich‘ begründen sollte.

Wer so reist, mag aufrichtig glauben, daß er die Wahrheit entdecken will, aber er wird unaufhörlich heimgesucht von jener Art Täuschung, der man schwer entrinnen kann, weil man sie selbst erzeugt.3

Ein Land – zwei Perspektiven.

Die Grenzbuben von Leo Katz und Gefährliche Grenze von Paul Anton Keller Um herauszufinden, was mit ihrem verschwundenen Freund geschehen ist, set-zen die „Grenzbuben“ ihren Hund ein, der rasch eine Fährte findet, die zur unga-rischen Grenze führt (vgl. voriges Kapitel). So wird er losgeschickt, um Ernstl zu suchen und kehrt auch tatsächlich mit einer schriftlichen Nachricht des Freun-des zurück. Allerdings ist der Zettel, den der Hund um den Hals trägt, vom Regen leergewaschen, als er bei den Buben ankommt. In dieser leeren Botschaft mani-festiert sich das Geheimnis um die Frage „was mit ihm [Ernstl] los ist, ob es ihm gut oder schlecht geht“ (G 63), also die Frage, was hinter dem Eisernen Vorhang

1 Dieses Kapitel basiert zum Teil auf dem Vortrag „Reisen ins Rote. Der imaginierte Raum hin-ter dem Eisernen Vorhang“, den Günther Stocker und Doris Neumann-Rieser bei der Jahres-tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik (ÖGG) „Topographie und Raum in der deutschen Sprache und Literatur“ 18.–21. Mai 2011 in Trento/Trient gehalten haben. Vgl.

Günther Stocker, Doris Neumann-Rieser: Reisen ins Rote. Der imaginierte Raum hinter dem Eisernen Vorhang. In: Fabrizio Cambi, Wolfgang Hackl (Hg.): Topographie und Raum in der deutschen Sprache und Literatur. Wien: Praesens 2013., S. 273–294.

2 Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Reinbek/H.: Rowohlt 1969, S. 292. [Hervorh.

im Orig.]

3 Manès Sperber: Wallfahrt nach Utopia [Januar 1966]. In: Ders.: Essays zur täglichen Weltge-schichte. Wien, München, Zürich: Europa Verlag 1981, S. 313–331, hier S. 315.

eigentlich vorgeht. Dass der Roman genau diese Frage literarisch gestaltet, war jedoch keine Idee des Autors. Katz war zwar Kommunist, jedoch bedurfte es der Direktive des Ostberliner Kinderbuchverlages, um den Text so linientreu zu ver-fassen, wie er schlussendlich vorliegt.4 Das zentrale Handlungselement der Rei-se nach Ungarn wurde vom Verlag angeregt. Katz hatte ihm ursprünglich einen Kinder- und Jugendroman angeboten, in dem ein Kind aus Deutschland nach Amerika reisen sollte.5 Er erhielt darauf folgende Antwort:

Das Thema ‚Amerikareise‘ ist für uns im Augenblick wenig aktuell. Wesentlich interessanter und auch für unsere Kinder wichtiger wäre es, die Reise eines Kindes – es ist dabei gleich, ob es sich um ein deutsches oder österreichisches Kind han-delt – nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei zu schildern. Sie können dabei gleich auf die Jugendbewegung in den Volksrepubliken zu sprechen kommen und Dinge berichten, die gerade für unsere Pioniere von Wert sind.6

Der Wunsch des DDR-Verlages, das Thema ‚Reise in eine Volksrepublik‘ möge bearbeitet werden, entspricht einer kommunististischen Propagandaoffensive der frühen 1950er-Jahre. So finden sich entsprechende Antworten auf die Frage, wie es hinter der Grenze wirklich aussehen mag, auch in den zahlreichen Ost-Rei-seberichten, die in KPÖ-Organen und KPÖ-nahen Zeitschriften wie Tagebuch, Österreichische Volksstimme, Neue Volksbildung, die Brücke oder die Arbeit, aber auch in Form von diversen Broschüren erschienen sind, die im Globusverlag gedruckt wurden. Herausgegeben wurden diese von österreichi-schen kommunistiösterreichi-schen Organisationen wie der „Österreichisch-Sowjetiösterreichi-schen Gesellschaft“, dem „Zentralkomitee der KPÖ“, der „Freien österreichischen Jugend“, dem „Bund demokratischer Lehrer und Erzieher Österreichs“ oder der

„Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion“, oft in Zusammenarbeit mit sowjetischen Schwesterorganisationen wie dem „Sowjetischen Informationsdienst“, dem „Zentralrat der sowjetischen

4 Eine beträchtliche Schärfung der politischen Linie im Text geht klar nachweisbar auf den Ver-lag und dessen „Lektorin“ zurück. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Leo Katz und Ilse Ploog vom Kinderbuchverlag in Ostberlin zw. 6.5.1950 und 7.6.1951. Literaturarchiv der Österrei-chischen Nationalbibliothek, Nachlass Leo Katz, Sign.: 169/01.

5 Das Thema Amerikareise bearbeitet Katz in einem zweiten, u. W. ungedruckten Kinder- und Jugendroman mit dem Titel Belas Heimkehr . Ein Auszug mit dem Titel Das Verhör schildert die Heimfahrt eines ungarischen Jungen aus dem Exil, der von amerikanischen Beamten des HUAC verhört wird. [Leo Katz]: Das Verhör. In: Österreichische Volksstimme, 4.2.1951, S. 8. Vgl. Ilse Ploog an Leo Katz, Brief vom 11.4.1951. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Leo Katz, 169/01.

6 Ilse Ploog an Leo Katz, Brief vom 6.5.1950. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbib-liothek, Nachlass Leo Katz, 169/01.

Gewerkschaften“, der „Unionsgesellschaft oder Sowjetischen Gesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland“,7 der Moskauer „Gesellschaft zur Ver-breitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse“,8 dem „Zentralkomitee der Lehrergewerkschaft der RSFSR“ (Russische Bundesrepublik) oder dem „Zen-tralkomitee der Komsomol“ (Antifaschistisches Komitee der Sowjetjugend).9 In diesen Propagandatexten wird der Bevölkerung der westlichen Staaten große Neugier in Bezug auf den Raum hinter der Grenze zu den kommunistischen Staaten unterstellt. So heißt es einleitend in einer vom Sowjetischen Informati-onsdienst herausgegebenen Broschüre mit dem Titel Was wir in der Sowjetuni-on gesehen haben:

Wie leben die Menschen im Lande des Sozialismus, in der Sowjetunion? Wie ar-beiten und lernen sie, wie erholen sie sich, wie ist ihre materielle Lage? Warum kämpfen sie so beharrlich für den Frieden?

Diese und andere mit dem Leben in der Sowjetunion verbundene Fragen inte-ressieren breite Kreise von Lesern in allen Ländern, doch finden sie in der ka-pitalistischen Presse nicht immer die richtige Beantwortung. Es ist deshalb nur natürlich, daß die verschiedensten Organisationen solcher Länder Reisegruppen in die UdSSR entsenden, damit sie sich in objektiver Weise mit dem Leben im Lande des Sozialismus vertraut machen und ihren Landsleuten dann darüber be-richten können.10

Dieselbe Ausgangssituation kennzeichnet auch Die Grenzbuben . Der Lehrer Albert beantwortet den Buben die Frage „Wie leben die Menschen im Lande des Sozialismus, in der Sowjetunion?“ folgendermaßen: „In Ungarn ist eine Volks-regierung. [...] Also freuen wir uns in dem Bewußtsein, daß es ihm [Ernstl] gut geht.“ (G 65) Ernstls Freunde trauen bloßen Worten aber nicht; immer noch fragen sie sich: „Vielleicht geht es ihm doch nicht gut. Vielleicht sind die Leute dort böse. Man erzählt so vieles, und vielleicht ist es wahr.“ (G 65) Gewissheit

7 Diese 1925 gegründete Organisation kann auch durch andere Bezeichnungen übersetzt wer-den, z.B. „Gesellschaft für die kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Ausland (WOKS)“.

Vgl. Max Haller, Franz Jäger [u.a.]: Moskau, Leningrad, Sibirien. Ein Reisebericht. Hrsg. v. der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft. Wien: Globus 1952, S. 3. Vgl. zur Geschichte und Aufgabe dieser Organisation Jean-François Fayet: VOKS. The Third Dimension of Soviet For-eign Policy. In: Jessica C. E. Gienow-Hecht, Mark C. Donfried (Hg.): Searching for a Cultural Diplomacy. New York [u.a.]: Berghahn 2010, S. 33–49.

8 Franz Ser. Vetter: Russische Impressionen. In: Neue Volksbildung. Buch und Bücherei 9 (1958), S. 353–357, 405–412, S. 486–490, hier S. 353.

9 Die Titel stammen aus Wolfgang Metzger: Bibliographie deutschsprachiger Sowjetunion-Rei-seberichte, -Reportagen und -Bildbände 1917–1990. Wiesbaden: Harrassowitz 1991.

10 Sowjetischer Informationsdienst (Hg.): Was wir in der Sowjetunion gesehen haben. Werktäti-ge aus 13 Ländern erzählen von ihrem Besuch in der UdSSR im Mai 1952. Wien: Globus 1952.

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Ein Land – zwei Perspektiven

Leo Katz: Die Grenzbuben. Berlin:

Kinderbuchverlag 1951, Schmutztitel.

Drei Wochen im Sowjetland: Berichte österreichischer Gewerkschafter und Betriebsräte von einer Reise in die Sowjetunion im November 1952. Wien: Österr. Arbeiterdelegation in die UdSSR 1953, S. 14.

können sie sich – so ihre Überzeugung – nur durch eine Reise, durch Augen-zeugenschaft, verschaffen. Auch dies entspricht einer Gattungskonvention der faktualen Reiseerzählungen der kommunistischen Publizistik: Regelmäßig wird darauf hingewiesen, dass hier tatsächliche Erfahrungen wiedergegeben würden.

In Katz’ Buch erfahren die drei Kinder das fremde Land ‚mit eigenen Augen‘

und erleben es als angenehme und freundliche Umgebung. Als ihr Hund bei-spielsweise ungarischen Bauern Brot und Fleisch stiehlt, um es den hungrigen Kindern zu bringen, reagieren die Bauersleute, sobald sie die Lage erkannt haben, nicht strafend, sondern geben den Kindern Schlafplatz und Essen.11 Auch die Behörden, an welche die Ausreißer weitergeleitet werden, versuchen auf freund-liche und geduldige Weise, ihr Vertrauen zu gewinnen. Insgesamt zeichnet sich das Ungarn dieses Romans als gastfreundliches, wirtschaftlich aufstrebendes, gut organisiertes, aber keineswegs bürokratisches Land aus. Für das leibliche Wohl der Kinder wird gesorgt und als eines erkrankt, wird es im Spital versorgt und seiner Mutter die Einreise ermöglicht.

Dennoch zweifeln die Buben immer wieder an der Ehrlichkeit der ungari-schen Erwachsenen, vor allem, da ihre Zusammenkunft mit Ernstl durch diver-se Besichtigungen ständig hinausgezögert wird. Als sie ihren Schulkollegen schließlich in einem Ferienlager antreffen, müssen sie aber anerkennen, dass er bei der ungarischen Jugendorganisation der Pioniere, die auf Selbstbestimmung, Zusammenarbeit und Produktivität basiert, besser aufgehoben ist als im öster-reichischen Waisenhaus, das von einem sadistischen Erzieher12 geleitet wird. So haben die Schulkameraden bei allem Zusammenhalt schließlich Verständnis, als Ernstl erklärt, dass er nicht mit ihnen nach Österreich zurückkehren wird.

Immerhin importieren sie aber die Ideen, die sie bei den Pionieren kennenge-lernt haben, nach Österreich, wo diese begeisterte Aufnahme und Nachahmung finden. Schon während ihrer Abwesenheit haben die Ausreißer „wundervolle Briefe“ (G 202) an ihre Eltern geschrieben, um sie zu beruhigen. Lehrer Albert macht den Eltern den Vorschlag, diese Berichte zu veröffentlichen:

11 Die Freigiebigkeit der Bevölkerung im Gastland wird auch in einer Rumänienreisebroschüre von Susanne Wantoch ausgestaltet: Österreichische Intellektuellendelegation in die RVR (1954) (Hg.): 16 Tage im neuen Rumänien. Bericht über die Studienreise einer Gruppe österreichi-scher Intellektueller durch die Rumänische Volksrepublik. Wien: Globus 1955. [Verantwortlich für den Inhalt: Susanne Wantoch.]

12 Die negativen Erzieherfiguren möchte die „Lektorin“ des Kinderbuchverlages stärker politisch gedeutet wissen: „Sie müssen zu vorsätzlichen Reaktionären werden, die die ‚öffentliche Mei-nung‘ vergiften, unerbittlichen [sic!] jeden Fortschritt im Keime zu ersticken versuchen [...]

Der Hass der Erzieher gegen Ernstl und Ralph darf nicht nur aus deren Armut resultieren, sondern vor allem aus ihrer Herkunft von bewussten proletarischen Eltern, [...].“ Lieselotte Fleck an den Kinderbuchverlag (Berlin), Betrifft: Leo Katz – „DIE GRENZBUBEN“. Brief vom 10.12.1950. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Leo Katz, 169/01.

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Ein Land – zwei Perspektiven

‚Meine lieben Freunde, ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Diese Sache fiel mir gestern abend ein. Ständig kommen nämlich Kinder aus meiner Klasse zu mir, die gern wissen möchten, wie es unseren Freunden in Ungarn geht. Ich kann nicht jedem soviel erzählen. Und da fiel mir ein, daß es gut wäre, die von den Kindern erhaltenen Briefe abzuschreiben, viele Kopien anzufertigen und sie den Kindern hier zu geben. Auf diese Weise werden alle Kinder in Baumersdorf erfahren, wie dort die Kinder leben, was für die Kinder in Ungarn geschieht und was für schöne Ferien unsere Freunde dort gemeinsam mit vielen hunderten an-derer Kinder haben.‘ (G 203)

Der Lehrer greift damit einem Auftrag vor, den die Buben auch vom Vorsitzen-den des Pionierlagers mit auf Vorsitzen-den Weg bekommen:

Ihr sollt zu Hause, in der Schule, auf der Straße und vor allem euern Eltern nichts anderes erzählen […] als das, was ihr hier wirklich gesehen, was ihr hier getan und was ihr hier erlebt habt. Das und nichts anderes verlangen wir von euch. (G 199)

Dieser Auftrag der Gastgeber, zu Hause nach bestem Wissen und Gewissen über die Volksrepublik Bericht zu erstatten, findet sich beinahe identisch in einer der Propagandabroschüren: „Nun fahrt ihr wieder nach Hause, erzählt dort, was ihr hier gesehen und gehört habt, gebt nichts dazu und nehmt nichts weg, so könnt ihr am besten für die Verständigung unserer beiden Völker und am Ende mit allen Völkern der Erde beitragen.“13 Katz’ Roman bedient sich also der gleichen rhetorischen Strategien wie die kommunistischen Propagandabroschüren über die ‚Wahrheit‘ hinter dem Eisernen Vorhang und fügt sich so in deren propagan-distische Stoßrichtung nahtlos ein. Freilich ist diese hier in den Gattungsrahmen einer Abenteuergeschichte gebettet, der für Kinder und Jugendliche attraktiv ist.

Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, erscheint das Jugendbuch Gefährliche Gren-ze von Paul Anton Keller, das im Jahr des Ungarnaufstands veröffentlicht wurde, fast wie eine Replik auf das Buch von Katz.14 Auch in Gefährliche Grenze machen sich ein 9- und ein 10-jähriger Bub allein mit ihrem Hund auf, um die Grenze nach Ungarn zu überschreiten. Wie Ernstl aus Die Grenzbuben sind Dick und Mac – die beiden rufen sich gegenseitig bei diesen amerikanisierten Spitznamen – Waisenkinder mit ungarischer Herkunft. In beiden Texten ist die Reise also auch eine Suche nach den (familiären) Wurzeln. Während Ernstl sich aber in

13 Adolf Huemer, Maria Kerbl [u.a.]: Reiseeindrücke aus der Sowjetunion. In: Die Arbeit. Das Magazin des Gewerkschaftlichen Linksblocks 8 (1954) H. 2, S. 27–29, hier S. 28.

14 Möglicherweise reagiert Gefährliche Grenze außerdem auf das Jugendbuch Gefährliches Spiel von Walter Paul Kirsch (Globus 1955), in dem die Gefahren der Amerikanisierung im

Vorder-der klassenlosen, solidarischen Gesellschaft Ungarns zuhause fühlt,15 suchen Dick und Mac ihren Großvater als den einzigen noch verbleibenden Blutsver-wandten. Beim ehemaligen Nationalsozialisten Keller steht nicht zufällig die biologische Familie gegenüber der international vertretenen ‚Klasse‘ der mar-xistischen Ideologie als gesellschaftlicher Bezugspunkt im Vordergrund.

In Gefährliche Grenze wird die Lebensumgebung der Buben in Österreich betont vielschichtig gezeichnet. Neben hilfsbereiten und wohlwollenden Men-schen finden sich auch Diebe und Betrüger. Damit wird – unabhängig davon, ob Keller Die Grenzbuben kannte – ein Gegenentwurf zur schematischen Per-sonenzeichnung in Katz’ Jugendroman geschaffen, wo das kommunistische Arbei-termilieu im Westen und das sozialistische System im Osten jedenfalls Freund-lichkeit und MenschFreund-lichkeit der Personen bedingen. In Kellers Roman werden somit individuelle Gründe für menschliche Verhaltensweisen den gesellschaft-lich bedingten vorgezogen. Ein weiterer auffälliger Unterschied ist, dass in Gefähr-liche Grenze Ungarn als sowjetisch besetztes Land dargestellt wird, während in Die Grenzbuben bei der Bevölkerung hinter der Grenze ausschließlich von

‚Ungarn‘ die Rede ist:

Ungarn war ein fernes Land zu nennen, seit fremde und wenig gut gesinnte Sol-daten dort geboten, Russen –, und Großvater, der dort seinen Acker bebaute und darüber alt geworden war, lebte nun verstummt wie auf einer Sageninsel, von der nur hin und wieder, selten genug, ein Briefgruß hierher ins Haus flatterte. (GG 20) Ebenso wie in Die Grenzbuben stehen die Lebensbedingungen der ungarischen Bevölkerung in Gefährliche Grenze zur Debatte. Die Reaktion eines „Zigeun-er[s]“ (GG 114) und Grenzschmugglers auf die Erwähnung des Wohnortes des Großvaters lässt Schlimmes vermuten: „‚Dort is Ruß! Wajßt du?‘ Dick und Mac starrten einander verlegen an. ‚Ja‘, antwortete Mac unsicher. ‚Und dort is Groß-vater?‘ Sie nickten. Der Mann im Grase wehrte lachend ab. ‚Is Tot! Is Tot!‘ rief er.“ (GG 123)

Als sie schließlich den Eisernen Vorhang überschreitend das „Land der Frem-de“ (GG 197) betreten, sprechen die verlassenen Häuser – Mac erfindet den Ausdruck „Totenhaus“ (GG 195) – bereits eine deutliche Sprache: „Sie fanden das Haus verschlossen, die Fensterläden zugezogen, den Hausgarten unbestellt.

grund stehen, welche in Gefährliche Grenze implizit dementiert werden. Vgl. dazu Kap. 9.

15 Einer der Buben, Ralph, der insgeheim Heimweh nach seiner Mutter hat, wird es sogleich

„warm ums Herz“, als eine unbekannte ungarische Bäuerin ihm über den Kopf streicht. (G 82) Ernstl erzählt: „[A]ls ich ins erste Dorf kam, klangen mir die Worte so bekannt. [...] ich habe ja die anderen Kinder immer beneidet, daß sie Eltern haben. [...] Aber hier, wenn ich mich noch so sehr nach Eltern sehne, hier fühle ich mich wie zu Hause.“ (G 173 f.)

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Ein Land – zwei Perspektiven

[...] Mac sah beunruhigt ein Durcheinander am Gehöft, wie Großvater es nie gemocht hatte.“ (GG 199) Der Großvater lebt in großer Armut und ist voller Angst und Bitterkeit. Er versucht diesen Zustand in gebrochenem Deutsch zu erklären:

‚Ungarn ist Volksrepublik, habt ihr davon gehört? [...] Die neuen Herren in Pest [...] haben mir nehmen alles. Aber nicht nur mir allein, – viel Tausende sind da-bei, denen haben sie genommen alles und nicht wenige fortgeschickt in Fabrik, in Bergwerk, vielleicht nach Sibirien –‘ [...] Bei Volksdemokratie kommen Gute und Schlechte in eine Häfen und wird Suppe gekocht. Da ist dann alles gleich, weil alles krepiert. Das könnt ihr nicht verstehen, braucht nicht. Die fragen nicht um einen oder zehne. Und ich bin alt, – wer braucht alten Mann in Sklaverei? Gehört weg!‘

[...]‚Ah’, sagte Großvater, ‚vorgestern sind sie dagewesen: Wo ist Mehl, Fleisch, wo ist Ablieferungsmais? Immer, immer wieder kommen, seit Wochen schon. Neh-men Ochs, Kuh, Kalb, nehNeh-men Haus. Alles gehört den andern, allen nämlich – weißt du, Maxi, mir auch‘, er lachte gallig, ‚mir gehört auch von den andern alles, darum hab ich so viel, siehst du!‘ Mit ruhelosen Fingern zog er das Bündel ausei-nander und zeigte auf den Inhalt: eine Uhr, Papiere, ein Hemd. ‚Seht ihr, das ist alles, was bleibt dem einzelnen, wenn alle glücklich gemacht werden. (GG 204 f.) Diese Passage beantwortet die Frage hinter dem Reise- bzw. Augenzeugen-Nar-rativ bei Keller eindeutig. Die Herr-Knecht-Problematik ist nur in der Ideologie aufgehoben, existiert aber tatsächlich in verschärfter Form weiter. Gleichheit aller besteht laut dem Großvater nur insofern, als „alles krepiert“. Die Enteig-nung des Einzelnen und seine daraus folgende Verelendung sind für die Kinder sichtbar und materiell greifbar. Die Enkel fungieren als Augenzeugen von Armut, Unterdrückung und Angst. Der Großvater erzählt von Nachbarn, die verschwun-den sind und betont, dass niemand die Jungen finverschwun-den dürfe, da sonst ihre Ver-schickung in ein Lager oder eine russische Schule drohen würde. Er zeigt große Angst vor den Kommissaren, die ‚überall‘ seien. Der einzig gangbare Weg führt für die drei Figuren über die ‚Mordgrenze‘ (vgl. Kapitel 1: Die Grenze) zurück nach Österreich.

Die Rhetorik der Augenzeugenschaft

‚Augenzeugenschaft‘ in kommunistischen Propagandatexten

Das Konzept der Augenzeugenschaft gewann im Diskurs um die Wirklichkeit hinter dem Eisernen Vorhang im Kalten Krieg enorme Bedeutung, was sich in zahlreichen Artikeln und Broschüren ebenso zeigen lässt wie in der fiktionalen

Literatur der Zeit. So entstanden in Österreich unterschiedliche Reise- und Migrationserzählungen, die auf je spezifische Weise dieses Motiv aufgreifen. Die zeitgenössische Bedeutung der Augenzeugenschaft ist freilich erst vor dem Hin-tergrund der Grenzpolitik der Sowjetunion und später des gesamten Ostblocks zu verstehen. Schon das zaristische Russland schottete sich gegen ausländische Reisende stärker ab als andere Länder. Ebenso kontrollierte das nach der Okto-berrevolution etablierte Sowjetsystem die politische Gesinnung Einreisender mit Misstrauen. In den 1930er-Jahren wurde ein rigides Kontrollsystem für Ein-reisende installiert, das nach einer totalen Aufhebung von touristischen Einrei-sebewilligungen ab 1941 im Jahr 1954 wiederaufgenommen wurde.16 Die stren-gen Grenzkontrollen wurden nach 1945 auf die sowjetisch kontrollierten Länder ausgedehnt, wobei auch die Grenzbefestigungen des Eisernen Vorhanges ent-standen. Die Abgeschlossenheit des Raumes jenseits des Eisernen Vorhanges bewirkte im Westen dessen Mythisierung17 und seine Aufladung mit Imagina-tionen. Er wurde zum Projektionsraum für politische wie literarische Utopien und Dystopien, für Wünsche und Ängste, Propaganda und Gegenpropaganda.

Literatur der Zeit. So entstanden in Österreich unterschiedliche Reise- und Migrationserzählungen, die auf je spezifische Weise dieses Motiv aufgreifen. Die zeitgenössische Bedeutung der Augenzeugenschaft ist freilich erst vor dem Hin-tergrund der Grenzpolitik der Sowjetunion und später des gesamten Ostblocks zu verstehen. Schon das zaristische Russland schottete sich gegen ausländische Reisende stärker ab als andere Länder. Ebenso kontrollierte das nach der Okto-berrevolution etablierte Sowjetsystem die politische Gesinnung Einreisender mit Misstrauen. In den 1930er-Jahren wurde ein rigides Kontrollsystem für Ein-reisende installiert, das nach einer totalen Aufhebung von touristischen Einrei-sebewilligungen ab 1941 im Jahr 1954 wiederaufgenommen wurde.16 Die stren-gen Grenzkontrollen wurden nach 1945 auf die sowjetisch kontrollierten Länder ausgedehnt, wobei auch die Grenzbefestigungen des Eisernen Vorhanges ent-standen. Die Abgeschlossenheit des Raumes jenseits des Eisernen Vorhanges bewirkte im Westen dessen Mythisierung17 und seine Aufladung mit Imagina-tionen. Er wurde zum Projektionsraum für politische wie literarische Utopien und Dystopien, für Wünsche und Ängste, Propaganda und Gegenpropaganda.

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