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Ein-Individuum -Ökonomie

1.4. Die erweiterte Kapitaltheorie: Human- und Sozialkapital

Kern der Kapitaltheorie ist, aus den Kapital- und Güterbeständen eines Individuums sein Verhalten in ökonomischen Wahlsituationen abzuleiten. Die erweiterte Kapitaltheorie hat dabei das ökonomische Konzept des individuellen Verhaltens in dreierlei Weise erweitert.

Zunächst wurde klar gestellt, dass Präferenzen nicht direkt auf Güter abzielen, sondern allgemeinerer menschliche Bedürfnisse reflektieren, wie Nahrung, Wasser, Schutz, Wärme, sozialen Kontakt, etc. Diese nun auch Meta-Präferenzen (ultimate z, Haushaltsgüter oder commodities) genannten Präferenzen sind primäres Ziel menschlichen Verhaltens und werden vom Individuum produziert, indem Marktgüter konsumiert und Zeit für Nichtmarktgüter

aufgewendet wird6. Anders als im herkömmlichen Modell werden Unterschiede in der Konsumstruktur von Individuen bei gleichen Einkommen mit unterschiedlichen Präferenzen erklärt. Hier geht die erweiterte Kapitaltheorie ebenfalls einen anderen Weg. Im Beckerschen Ansatz wird von identischen und stabilen Präferenzen gegenüber den verschiedenen Haus-haltsgütern ausgegangen. Sämtliche Unterschiede in der Konsumentscheidung von Menschen werden auf Unterschiede in deren Gesamteinkommen und deren Produktionsmöglichkeiten für die Haushaltsgüter zurückgeführt. Die Annahme der Stabilität und der Identität bezieht sich auf die erweiterten Präferenzen, d. h. auf die Präferenzen, die u. a. Entscheidungen der Vergangenheit und die Einflüsse Dritter als Argumente der Nutzenfunktion einer Person berücksichtigen. Letzten Endes wird in der erweiterten Kapitaltheorie auch der Faktor der Zeit aufgewertet, indem vergangene Ereignisse und Erfahrungen ebenfalls als verhaltensrelevante Kapitalstöcke beschrieben werden und so die Vergangenheit die gegenwärtigen Entscheidun-gen mitbeeinflusst7.

Zunächst sollen die verschiedenen neu eingeführten individuellen Kapitalstöcke der erweiter-ten Kapitaltheorie beschrieben werden. Gary S. Becker hat, aufbauend auf den Arbeierweiter-ten von T. W. Schultz durch die Einführung des Konzepts des Humankapitals die Erklärungswirkung der Ökonomie erheblich ausgeweitet (Becker 1993: 392, Habisch 1998: 32). Scheinbar nicht rational handelnde, weil nicht ihren offensichtlichen ökonomischen Vorteil nutzende Indivi-duen brachten die neoklassische Ökonomie in Erklärungsschwierigkeiten. Schultz, der ursprünglich als Agrarökonom Entwicklungsrückstände der armen Bevölkerung von Entwick-lungsländern untersuchte und sich hierbei mit der Frage befassen musste, warum breite Bevölkerungsschichten die Entwicklungsperspektiven der modernen Technik und der grünen Revolution nicht einsetzten, wies darauf hin, dass die ökonomische Wissenschaft zu sehr auf

6Um Widersprüche des ökonomischen Verhaltensmodells zu verarbeiten, differenzieren Stigler und Becker Bedürfnisse in (letzten Endes) menschliche Bedürfnisse (ultimative z, Meta-Präferenzen, Haushaltsgüter) und instrumentelle Güter (Zielgüter), die auf diese Bedürfnisse hin ausgerichtet sind. Später hat Becker (1996) das Modell Stigler/ Becker (1977) begrifflich klargestellt und dabei die Begriffe Meta- und Sub-Präferenzen eingeführt (siehe auch Abb. 1.2.). Metapräferenzen sind bei allen Menschen ähnlich, es sind die elementaren Bedürfnisse nach Ernährung, Fortpflanzung, Gesundheit und Sozialkontakten. Die Sub-Präferenzen werden kulturell und durch Erziehung geprägt. Dies ist aber insofern irrelevant, da die Ökonomie Präferenzen nur indirekt über Verhalten erfasst und sie aus methodologischen Gründen (Stigler/ Becker 1977, Becker 1993) als konstant annimmt.

7Das Forschungsprogramm „Humankapital“, das Schultz, Becker, Becker et al. und andere initiiert haben (Schultz 1973, Stigler/ Becker 1977, Becker 1962), hat Auswirkungen auf die Mikro- und Makroebene.

Mikrotheoretisch erfolgte eine wesentliche Komplexitätssteigerung der Rational-Choice-Analyse durch Berücksichtigung intertemporaler Aspekte (Überblick z. B. in Becker 1993). Makrotheoretisch entsteht eine Verbreiterung der theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik (Habisch 1998: 34). Aus diesem Grund ist insbesondere im Entwicklungszusammenhang das Thema Humankapital sehr wichtig geworden (siehe z. B. den Forschungsschwerpunkt Humankapital der Weltbank) und hat zu einer neuen Entwicklungstheorie geführt (Habisch 1998: 35). Die Notwendigkeit bestand hier darin, das Scheitern der Finanzspritzen z. B. des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu erklären. Diesen Teil der politologisch motivierten Human- und Sozialkapital-Diskussion nimmt Becker selbst jedoch explizit nicht zu Kenntnis, da er an Theoriebildungsfragen und nicht an Implikationen interessiert ist (Habisch 1998: 44).

die Akkumulierung von Sachkapital fixiert sei (Schultz 1980: 640). Der Ausschluss zentraler menschlicher Lebensbereiche wie Ehe, Familie und Familienhaushalt aus den Wachstums- und Produktionsprozessen und deren alleinige Bewertung als Konsumsektor einer Volkswirt-schaft führten zu erheblichen Erklärungsdefiziten und blinden Flecken der neoklassischen Theorie (Habisch 1998: 33).

Deshalb erweiterten Schultz, Becker und andere das ökonomische Handlungsmodell8. Dafür hielten sie bei abweichendem, zunächst nicht rational wirkendem Verhalten an der elementa-ren ökonomischen Logik der Rationalität fest und suchten nach objektiven und subjektiven Nebenbedingungen (Restriktionen), die das beobachtete Verhalten rational machten. Dazu stellten sie den klassischen Kapitalarten Arbeitskraft, Geld und Sachmittel das Humankapital als individuelles Wissen und individuelle Fähigkeiten zur Seite. Über das Humankapital können Komponenten wie Wissenserwerb, Ausbildung, Familien- und Bekanntschaftspflege in das ökonomische Rationalitätskonzept eingefügt werden. Personen, die nicht in die Maximierung ihrer Geld- und Sachmittel investieren, stecken ihre Ressourcen in die Maxi-mierung ihres Humankapitals, investieren also z. B. in eine Ausbildung oder in die Familie (z. B. Becker/ Murphy 1996: 220). Dabei verwendet Becker den Begriff des Humankapitals als Überbegriff für die nichtmateriellen individuellen Ressourcen, unter die er das individuelle Wissen und die Fähigkeiten (Humankapital in engeren Sinne), vergangenen Konsum, persön-liche Erfahrungen der Vergangenheit, Erziehung und Angewohnheiten (persönpersön-liches Kapital) sowie Beziehungen bzw. das individuelle Beziehungsnetzwerk (Sozialkapital) subsumiert (Becker 1996: 4).

Becker führt das persönliche Kapital (Pt) ein, um eine Lösung für das Problem der nicht gleichartigen und größenähnlichen Reaktion auf zwei entgegengesetzte Preisänderungen bzw.

die verschiedenartige Anpassungen der Menschen verschiedener Landesteile auf ein Opportu-nitätskosten änderndes Gesetz zu finden (z. B. Akerlof 1970, Tversky/ Kahneman 1974, Kahneman/ Tversky 1979, Kahneman/ Tversky 1984). Dieses auch als Problem der homoge-nen Restriktiohomoge-nen bezeichnete Modell geht darauf zurück, dass eine Verhaltensänderung durch das methodologisch bedingte Konstanthalten der Präferenzen allein auf der Änderung der Restriktionen beruhen kann9. Um zu erklären, warum Menschen bei gleicher Güteraus-stattung und somit gleichen offensichtlichen individuellen Restriktionen auf eine einheitliche Änderung von externen Restriktionen (z. B. Preise oder Gesetze) verschieden reagieren, muss

8 Im Folgenden wird ein zusammengesetztes Modell vorgestellt, das überwiegend auf Beckers zahlreichen Publikationen aus den Jahren 1962 bis 1996 beruht. Dabei ist zu beachten, dass Becker Ansichten sich verändert haben und er bestimmte Aussagen früherer Texte später verändert oder relativiert hat.

9 Bei ∆V= f (Pconst., ∆R) mit Verhaltensänderung (∆V), konstanten Präferenzen (Pconst.), Restriktionen (∆R).

er das persönliche und das Sozialkapital als individuelle interne Restriktionen einführen. Die sich im Zeitverlauf ändernden und individuell verschiedenen Einflussfaktoren der individuel-len Vergangenheit und des individuelindividuel-len soziaindividuel-len Umfeldes können nur als Bestandsgrößen (Kapitalstöcke), als interne Restriktionen, verhaltensrelevant werden (Habisch 1998: 41).

Individuelle Bestandsgrößen sind dabei Angewohnheiten, Sichtweisen und Habitualisierun-gen, die Becker „persönliches Kapital“ nennt. So kann er das scheinbar zeitinkonsistente Verhalten als unterschiedliche Habitualisierung des Diskontierungsverhaltens beschreiben. Im Lebensverlauf auftretende verschiedene Bestände persönlichen Kapitals beeinflussen das Verhalten bei ansonsten gleichartigen Entscheidungssituationen mit ähnlichen Nebenbedin-gungen und können so gegensätzliches Verhalten zwischen Personen und unterschiedliches Verhalten einer Person zu verschiedenen Zeitpunkten bei ansonsten ceteri paribus-Bedingungen erklären. Formal wird der Kapitalstock des persönlichen Kapitals P zum Zeitpunkt t von Becker wie folgt angegeben:

Pt+1 = xt + (1-dp) * Pt (Gleichung 1.4.1)

mit x als Investition in persönliches Kapital und dp als konstante Abschreibungsrate (Becker 1996: 7).

Stabiler ist nach Becker der Einfluss sozialer Netzwerke auf das Verhalten. Zum sozialen Kapital sensu Becker (S) gehören Freunde, Kultur und Tradition, Milieu und Ideologie.

Formal drückt er dies aus als:

Sit+1 = Xi + (1-ds) * Sit (Gleichung 1.4.2)

mit der konstanten Abschreibungsrate ds und Xi = ∑ xj als Effekt der Entscheidungen der j Mitglieder in i’s Netzwerk auf sein Sozialkapital (Becker 1996: 12).

Der Ansatz des sozialen Kapitals trägt der soziologischen Kritik Rechnung, dass Interaktionen nicht frei, sondern situativ gebunden sind und von verschieden Faktoren – nicht nur vom Preis – determiniert werden.

"Der einzelne entscheidet unter Abwägung von Kosten und Nutzen über seine Bildung, Berufsausbildung, medi-zinische Versorgung und andere Verbesserungen seiner Kenntnisse und seiner Gesundheit. Zu den Nutzen zählen kulturelle und andere nicht-pekuniäre Vorteile sowie die Verbesserung der Einkommens- und Berufssituation, wäh-rend die Kosten vor allem vom entgangenen Wert der Zeit abhängt..." (Becker 1996 (1993): 29)

Somit ergibt sich für Beckers erweiterte Kapitaltheorie zum Zeitpunkt t folgende Nutzenfunk-tion, die nicht nur von den konsumierten Gütern y, z abhängt, sondern auch vom Bestand an

persönlichem (P) und Sozialkapital (S) abhängt:

U = U (yt, zt, Pt, St) (Gleichung 1.4.3)

Becker hat ein Modell, das sog. Haushaltsproduktionsmodell, entwickelt, dass das Individuum (bzw. dessen Haushalt) vom volkswirtschaftlichen Konsumenten zum Produzenten weiter-entwickelt. Das Individuum optimiert und akkumuliert nicht ausschließlich Sach- und Geldkapital, sondern kann dieses, zusammen mit anderen Ressourcen wie Zeit und seiner Arbeitskraft, in die Erstellung und Erhaltung von Humankapital (persönlichem und Sozialka-pital) investieren.

In diesem ökonomischen Modell ist es – anders als in einfachen ökonomischen Modellen – nicht mehr irrational, seine Zeit mit Freunden und Bekannten, der Pflege der eigenen Ge-sundheit oder in der Schule zu verbringen, anstatt die Zeit zu nutzen, um durch den Einsatz seiner Arbeitskraft Geld zu verdienen. Die Präferenzen bzw. Zielgüter des erweiterten homo oeconomicus sensu Becker führen dazu, dass nur ein Teil seiner Ressourcen (Zeit, Arbeits-kraft, Kapitalstöcke) für Konsum (Sachkapitalaufbau) und Lohnarbeit (Geldkapitalaufbau) eingesetzt wird. Ein anderer Teil dieser Ressourcen wird in die Entwicklung des Humankapi-tals investiert. Erst mithilfe der Erweiterung der ökonomischen Kapitaltheorie um die Hu-mankapitalkomponente wird erklärbar, warum individuelles Sach- und Geldkapital zugunsten der eigenen Ausbildung, der eigenen Gesundheit oder für eine Feier mit Freunden und damit in die Bildung von Humankapital investiert wird. Becker erkennt so dem „privaten Sektor“

und dem Familienhaushalt eine zentrale Funktion insbesondere im sozialen und sozialisieren-den Bereich zu (Habisch 1998: 35).

Im Zuge des Selbst-Managements passen Individuen ihren Lebensstil und ihr Beziehungsnetz ihren Präferenzen an, so dass ihr soziales Netz zur Maximierung ihres Nutzens beiträgt und gleichzeitig zu einer Verstärkung und Stabilisierung ihrer Präferenzen und daraus abgeleiteten Gewohnheiten führt10 (Habisch 1998: 42).

Becker lässt eine endogene Präferenzbildung ebenso wie Kultur, die Abhängigkeit der Präferenzen von vergangenen Erfahrungen, Pfadabhängigkeit und Intertemporalität zu, bleibt dabei aber strenger Anhänger des Rational-Choice-Ansatzes (Habisch 1998: 42f). Er plädiert dafür, Präferenzänderungen nicht leichtfertig als Erklärung heranzuziehen. Er modelliert Werbung z. B. so, dass deren Mechanismus nicht die Änderung von Präferenzen ist, sondern dass es vielmehr um die bessere Information des (potentiellen) Konsumenten über den

10 Becker legt auf diesem Weg z. B. die Grundlage für die ökonomische Interpretation des Verhaltens eines Süchtigen und der individuellen Rationalität dieses Verhaltens (Stigler/ Becker 1977: 77, Becker 1996: 85, Becker/ Murphy 1988 aufbauend auf Ryder/ Heal 1973, Boyer 1978, 1983).

Produktnutzen geht. Bei einer Verhaltensänderung infolge Werbung ändern sich nicht die Präferenzen, sondern die individuelle Abwägung, also die Bilanzierung des Nutzens und der Kosten infolge der zusätzlichen Informationen durch Werbung. Der Konsument erreicht durch den Kauf des beworbenen Zielgutes einen höheren Nutzen, der seinen Präferenzen besser entspricht (Stiegler/ Becker 1977, Becker/ Murphy 1993).

Pies beschreibt den normativen Beitrag von Beckers Forschungsprogramm als Wechsel der Blickrichtung ökonomischer Analyse weg von den Präferenzen hin zu den Restriktionen als

„universale Erklärungsgrammatik sozialer Phänomene“ (Pies 1998: 26).

Individuum

Biol. determinierte Meta-Präferenzen, interpersonell sehr ähnlich:

Ernährung, Fortpflanzung, Gesundheit, Sozialkontakte, Identität/ Persönlichkeit

Ressourcen und Produktionsfaktoren

Zielgüter

Beobachtbares Markverhalten

Finanzkapital Sachkapital Zeit Humankapital incl: sozial. und persönl. Kapital

Beobachtbares Sozialverhalten

Markt (Mengen und Preise)

soziale und physische Umwelt Sub-Präferenzen kulturell und erzieherisch geprägt*

Weltmodell und Entscheidungsroutinen

Abb. 1.2.: Modell des homo oeconomicus sensu Becker: Die Ziele eines Individuums drücken sich in Meta-, Subpräferenzen und schließlich Zielgütern aus. In der akuten Entscheidungssituation entscheiden dann Kosten-Nutzen-Abwägungen unter Berücksichtigung der Kapital-Bestandesgrößen (Geld-, Sach-, Humankapital) und dem Weltmodell über das Verhalten des Individuums. Die Befriedigung der Präfe-renzen, umgangssprachlich die Wünsche eines Individuums, erfolgt über eine entsprechende Anpassung der verschiedenen Kapitalbestände. Dabei ist auch die Umwandlung der Kapitalarten ineinander, also z. B. die Investition von Zeit und Geld in die eigene Bildung möglich.

* Aus ökonomischer Perspektive nicht beobachtbar, werden methodologisch als konstant und zeitstabil gesetzt. Änderungen im Verhalten sind auf Änderungen des Kapitalbestandes und der Produktions-faktoren zurückgeführt: Bildung, Lernen, Moral, Erfahrungen der Vergangenheit (siehe auch Fußnote 7).

Um nachfolgend Begriffsverwirrungen zu vermeiden, sei auf eine Anomalie der Beckerschen Nomenklatur hingewiesen. Becker benutzt den Begriff Humankapital als Überbegriff für persönliches und Sozialkapital. In der übrigen Wissenschaft hat sich überwiegend die Benut-zung des Begriffs Humankapital für die Fähigkeiten und Kenntnisse des Individuums etab-liert, das gleichberechtigt neben dem Sozialen Kapital des Beziehungsnetzwerkes steht. Daher werden im Folgenden, wenn explizit nur die individuellen Kenntnisse, Fähigkeiten und

Fertigkeiten gemeint sind, diese mit dem Begriff Humankapital benannt. Der Beckersche Überbegriff aller immateriellen Ressourcen wird bei Bedarf mit ‚Humankapital im weiteren Sinn’ (i. w. S.) bezeichnet.