• Keine Ergebnisse gefunden

Die aussagenlogische Schlussfolgerung

Im Dokument SCHLUSSFOLGERN 02 (Seite 140-146)

4. Synthesistheorie des Schließens

4.2 Die aussagenlogische Schlussfolgerung

Es scheint auf den ersten Blick so, als könnten aussagenlogische Schlussfolge-rungen nicht so einfach auf der Grundlage der Synthesistheorie erklärt wer-den, da es keinen Mittelbegriff gibt, durch den die Verbindung der Prämissen hergestellt werden kann. Aber auch der Vollzug einer Schlussfolgerung, de-ren Gültigkeit durch einen aussagenlogischen Zusammenhang begründet ist,

198 Vgl. Kant 1988, 604.

199 Vgl. ebd., 602.

200 Vgl. ebd., 608ff.

besteht in der synthetischen Aktivität, die Prämissen in einem Bewusstsein zu verbinden, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

Bisher habe ich mich sehr eng an Kant und seiner Bestimmung des Ver-nunftschlusses orientiert. Für die Erklärung der aussagenlogischen Schluss-folgerung werde ich hingegen nur an seiner allgemeinen Idee eines syntheti-schen Bewusstseins festhalten, systematisch jedoch zusätzlich einigen weiterführenden Überlegungen folgen, die Irad Kimhi dazu vorbringt.201Als Beispiel für die aussagenlogische Schlussfolgerung dient mir der Modus Po-nens:

1. Prämisse: Wenn Max über Silvester in Portugal war, dann kann er nicht der Mörder sein.

2. Prämisse: Max war über Silvester in Portugal.

Konklusion: Max ist nicht der Mörder.

Die erste Prämisse des Modus Ponens ist ein hypothetisches Urteil. Mit Kant haben wir das hypothetische Urteil als eine Verbindung zweier problemati-scher Urteile bestimmt. Das Fällen des gesamten hypothetischen Urteils be-deutet, sich eines Urteils als bedingt durch ein anderes bewusst zu sein. Im Urteil «Wenn p, dann q» stelle ich mir also das Urteil «p» als hinreichende Bedingung des Urteils «q» vor. Kant drückt dies wiederum so aus, dass mir damit eine Regel bewusst ist.202Er bezeichnet in diesem Fall das Antezedens – das problematische Urteil «p»– als die Bedingungder Regel.203Ist sie er-füllt, so ist eine Person berechtigt, das Konsequens aus dem Konditional zu trennen, oder, wie Kant sagt, die Modalität des Urteilsaktes «q» wandelt sich von «problematisch» zu «assertorisch».204 Wenn ich mir demnach bewusst bin, dass die Tatsache, dass Max über Silvester in Portugal war, seine

Un-201 Irad Kimhis Ausführungen über die Natur des Schlusses und der Logik im Allge-meinen, die er inThinking and Beingvorbringt, gehen weit über den Anspruch der hier vorliegenden Untersuchung hinaus. Ich gebrauche im Folgenden lediglich einige seiner Überlegungen, um meinen Ansatz zu formulieren, unabhängig von der Frage, ob er selbst diesem zustimmen würde oder nicht.

202 Vgl. Kant, JL, A 201/202.

203 Vgl. ebd.

204 Vgl. ebd.

schuld bedingt, und mir zugleich bewusst ist, dass er tatsächlich Silvester in Portugal verbracht hat, dann sehe ich unmittelbar ein, dass er unschuldig ist.

Intuitiv scheint diese Beschreibung stimmig. Es geht aber gerade darum zu verstehen, was «unmittelbar einsehen» hier bedeutet und wieso die Verbin-dung der Prämissen zugleich die Umwandlung der Modalität des Konse-quens ist. Es muss also noch genauer gesagt werden können, wieso das Ver-binden der Prämisse «Wenn p, dann q» mit der weiteren Prämisse «p» auch in diesem Fall bedeutet, unmittelbar zu urteilen, dass q. Um diese Frage be-antworten zu können, müssen wir zuerst noch einmal einige grundsätzliche Überlegungen zur Natur des Urteils anstellen.

Zu urteilen, dass p der Fall ist – ich spreche im Folgenden nur über das assertorische Urteil –, bedeutet, die normative Frage «Ist es richtig zu urtei-len, dass p?» positiv zu beantworten. Durch unsere positive Antwort legen wir uns darauf fest, dass p der Fall ist, oder wie ich manchmal auch gesagt habe: wir übernehmen einen Standpunkt. Es ist durchaus möglich, die Frage unbeantwortet zu lassen, unmöglich hingegen ist, dass ich die Frage, ob p der Fall ist, zugleich positiv und negativ beantworte. Ich kann nicht zugleich zwei sich widersprechende Standpunkte einnehmen. Diesen Gedanken bringt Aristoteles in seiner Formulierung des Satzes vom Widerspruch als psycho-logisches Prinzip zum Ausdruck: «Es [ist] unmöglich […], daß jemand an-nehme, dasselbe sei und sei nicht.»205Wieso ist es aber unmöglich, anzuneh-men, dasselbe sei und sei nicht? Es ist durchaus möglich, dass eine Person zwei sich widerstreitende Überzeugungen hat. Unmöglich hingegen ist, dass siezugleichbewusst urteilt, etwas sei der Fall und sei nicht der Fall. Wie Irad Kimhi schreibt, bedeutet «zugleich» hier, dass es unmöglich ist, zwei sich wi-derstreitende Urteile oder Überzeugungen in einem Bewusstseinzu verbin-den:

The terms used in the psychological principle of non-contradiction (PPNC) to ex-press a conjunction of beliefs as «simultaneous» or «together» must be understood to mean together in one consciousness. Otherwise it will be easy to imagine narra-tives in which it is correct to say that someone believes something and its opposite.

205 Aristoteles 1998,Metaphysik, Buch IV, 1005b, 23.

[…] Kant has called the togetherness of several representations in one conscious-ness «synthesis».206

Kimhi erläutert den Satz des Widerspruchs in seiner psychologischen For-mulierung durch Kants Begriff der Synthesis. Urteilt eine Person, dass p, so ist sie sich des Urteils «p» in einer Weise bewusst, die es unmöglich macht, dieses mit dem Urteil «nicht-p» zu vereinen. Kimhi spricht in diesem Sinn davon, dass die beiden Urteile miteinander unvereinbar (incompossible) sind.207

Kimhis Interpretation des Satzes vom Widerspruch ist zugleich eine Be-stimmung des Urteils. Wenn ich das Urteil «p» fälle, bin ich mir des Urteils

«p» als eines Urteils bewusst, das unmöglich mit dem Urteil «nicht-p» ver-eint werden kann. Ein Urteil zu fällen beinhaltet ein Verständnis davon, dass sein kontradiktorisches Gegenstück falsch sein muss. Dieser Gedanke wird gleich von Bedeutung sein, wenn es darum geht, die aussagenlogische Schlussfolgerung zu verstehen. Eine Konsequenz dieses Verständnisses des Urteilsaktes ist, dass eine Person, die von «p» überzeugt ist, in dem Moment, in dem sie erkennt, dass p falsch ist, ihre Überzeugung «p»unmittelbar auf-gibt. Wenn ich erkenne, dass p falsch ist, und damit meine Überzeugung «p»

aufgebe, so vollziehe ichnicht zwei voneinander getrennte Akte, sondernein und denselben Akt.Ich beantworte die Frage «Ist p wahr?» negativ und lege mich damit unmittelbar darauf fest, dass p falsch ist. Eine weitere Konse-quenz besteht in einer spezifischen Auffassung des hypothetischen Urteils

«Wenn p, dann q». Dieses Urteil ist ein Bewusstsein davon, dass das Urteil

«nicht-q» unmöglich mit dem Urteil «p» in einem Bewusstsein vereint wer-den kann.

206 Kimhi (Manuskript, TB). Vgl. dazu auch Kimhi 2018, 28. Einige Zitate, die ich im Folgenden verwende, stammen aus einem früheren Manuskript zu Irad Kimhis Buch Thinking and Being.Das Manuskript war Grundlage für einen öffentlichen Workshop an der Universität Leipzig im Juli 2017.

207 «I shall say that a consciousness that is incompossible with p is one that cannot include the judgment p.» Kimhi (Manuskript, TB). Der Satz des Widerspruchs wird von Kimhi also gerade nicht so verstanden, dass es unmöglich ist, den propositionalen Gehalt

«p und nicht-p» für wahr zu halten, sondern dass es unmöglich ist, die beiden Urteile

«p» und «nicht-p» miteinander in einem Bewusstsein zusammenzuhalten.

Kehren wir damit zurück zum Modus Ponens. Urteilt eine Person, dass p der Fall ist, im Bewusstsein davon, dass q aus p folgt (verbindet sie die beiden Urteile «Wenn p, dann q» und «q» in einem Bewusstsein), dann kann sie unmöglich zugleich urteilen, dass q falsch ist. Eine Person, die glaubt, dass wenn p, dann q, und sieht, dass p wahr ist, würde sich wider-sprechen, wenn sie zugleich urteilen würde, dass nicht-q. Sie kann also fol-gende Überzeugungen nicht in einem Bewusstsein zusammenhalten: «p»;

«Wenn p, dann q»; «nicht-q». Das bedeutet jedoch nichts anderes, als dass sie in dem Fall, in dem sie die beiden Überzeugungen «p» und «Wenn p, dann q» in einem Bewusstsein vereint, zugleich die Frage, wie es um «q»

steht, beantwortet und das Urteil fällt, dass q.

Es ist also letztlich die Unmöglichkeit, zwei sich widersprechende Über-zeugungen in einem Bewusstsein zu vereinen, die im Falle des Modus Po-nens erklärt, wieso eine Person den Nachsatz des Konditionals unmittelbar bejaht, sobald sie erkennt, dass der Vordersatz wahr ist. Wie Kimhi schreibt, hat der «logische Zwang», die Konklusion zu akzeptieren, wenn man die Prämissen akzeptiert, daher seine Quelle letztlich im Satz des Widerspruchs als psychologischem Prinzip:

Given the incompossibility of contradictory pairs the triad «believesp, believesif p then q, believesnot-p» is incompossible if, and only if, one who believesp andp then qcan only answer yes when asked whetherq?(when he understands the ques-tion.) In other words, the necessity expressed by this psychological version of the Modus Ponens is equivalent to the incompossibility of the triad.208

Verbinde ich mein Urteil, dass Max unschuldig ist, wenn er über Silvester in Portugal war, mit meinem Urteil, dass er in Portugal war, in einem Bewusst-sein, so ist dieses Bewusstsein unvereinbar damit, dass Max schuldig ist. Ich sehe also unmittelbar ein, dass, gegeben die Prämissen sind wahr, es unmög-lich ist, dass Max schuldig ist. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ich, indem ich die beiden Urteile in einem Bewusstsein verbinde, das Urteil fälle, dass Max unschuldig ist. Aus dem Zitat von Kimhi geht bereits hervor, dass durch diese Erklärung der aussagenlogischen Schlussfolgerung eine Antwort auf die Frage der Schildkröte ersichtlich wird, wieso sie gezwungen ist, die

208 Kimhi (Manuskript, TB). Siehe auch Kimhi 2018, 55f.

Konklusion Z zu akzeptieren, wenn sie die Prämissen A und B akzeptiert.

Wichtig ist, dass der Sinn von «psychologischem Zwang» oder «psychologi-schem Prinzip», der hier am Werk ist, nicht mit unserer bloß kontingenten psychischen Beschaffenheit verwechselt werden darf, sondern dass es sich dabei um einen logischen Zwang handelt. Ich werde im nächsten Abschnitt gleich darauf zurückkommen.

Zuvor möchte ich zeigen, dass auf der Grundlage des Gesagten auch an-dere aussagenlogische Schlüsse erklärt werden können, etwa der Modus Tol-lens:

1. Prämisse: Wenn p, dann q 2. Prämisse: q ist falsch Konklusion: Also ist p falsch

Wenn ich meine Überzeugung, dass p aus q folgt, mit meiner Überzeugung, dass q falsch ist, in einem Bewusstsein vereine, so kann ich nicht zugleich glauben, dass p. Ich urteile also unmittelbar, dass p falsch ist, insofern ich meine Überzeugungen zueinander in Bezug setze. Gleiches gilt für die dis-junktive Schlussfolgerung:

1. Prämisse: p oder q 2. Prämisse: q ist falsch Konklusion: Also p

Verstehe ich, dass eine der beiden Überzeugungen «p» oder «q» wahr sein muss, und verbinde ich diese Überzeugung mit meiner Überzeugung, dass q falsch ist, so kann ich unmöglich zugleich urteilen, dass p falsch ist, ohne mir dabei zu widersprechen. Ich urteile also, dass p. Wie wir gleich noch genauer sehen werden, ist auch für diesen Fall entscheidend, dass der Obersatz «p oder q» nicht meine Einstellung gegenüber dem propositionalen Gehalt «p oder q» ausdrückt, sondern eine Verbindung von problematischen Urteilen, die in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Ich verstehe den Satz

«p oder q» nur dann, wenn ich verstehe, dass ich assertorisch urteilen muss, dass p, sobald ich assertorisch urteile, dass nicht-q, oder umgekehrt, dass ich

assertorisch urteilen muss, dass q, sobald ich assertorisch urteile, dass nicht‐p.

4.3 Das Bewusstsein der Schildkröte beim Schließen

Im Dokument SCHLUSSFOLGERN 02 (Seite 140-146)