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3 Spanien und Amerika: Eine Begegnung in Briefen

3.2 Hermeneutik der Briefe und Korrespondenzen

3.2.1 Der Brief als juristisch relevantes Dokument, oder:

Der Fall Francisco Alberto

Como cartas del Perú, matrimonios duplicados Tirso de Molina, „No hay peor sordo“

Eine wichtige Rolle bei der Interpretation der Texte spielt auch die Frage nach dem legalen Wert von Briefen, wenn man sich den Gebrauch von privaten Briefen als Beweismittel im Rahmen von Prozessen in Erinnerung ruft. Nicht wenige Prozesse drehten sich um die Interpretation von Briefen. María de la Pascua Sánchez sagt über einen Brief aus ihrer Sammlung von Briefen aus Ehezusammenführungsverfahren:

„Der Brief der Ehefrau, Margarita Oliver, ist der Pfeiler, der den Prozess trägt. Er ist das Beweismittel, um das der Richter die Befragung konstruiert. Die Erklärun-221 Hausberger, „La red social“, S. 890.

Hermeneutik der Briefe und Korrespondenzen | 71 gen des Angeklagten zielen darauf, die darin gemachten Aussagen zu entkräften oder zu erklären. Schlussendlich sind die restlichen Zeugenaussagen darauf ge-richtet, den Wahrheitsgehalt der Briefe und der Erklärungen des Angeklagten zu beleuchten.“222

Rechtliche Verbindlichkeiten an sich konnte ein Privatbrief hingegen nicht herstellen. Rafael de Sopranis, der bereits bekannte adelige Emigrant aus Cá-diz, hatte lange Jahre Probleme, seine offenen Angelegenheiten in Spanien zu regeln. Ein Mitgrund dafür war die offensichtlich falsche Vorstellung, diese mit Hilfe von privaten Briefen in den Griff zu bekommen. Um einen Ver-wandten aus seinen Häusern zu entfernen, schrieb er 1672 an seinen Bruder:

„[...] vor sechs Jahren habe ich Euch geschrieben, dass er die besagten Häuser zurückübergeben sollte. Und diese Briefe habt Ihr erhalten, da Ihr mir antwortet, dass als Ihr dies umsetzen wolltet Don Jácome Fantoni aus dem Haus kam und forderte, dass Ihr Vollmachten von mir vorbringen solltet, und dass man eine sol-che Übergabe nicht auf Basis eines Sendbriefes masol-che“.223

Erst nach dieser Ernüchterung machte er sich daran, vollständig legitimierte Dokumente für diese Angelegenheiten heranzuziehen:

„[...] nie dachte ich mich daran zu machen, das, was ich dort besitze, einzutrei-ben, ohne mehr Instrumente als nur meine Briefe dafür zur Verfügung zu haeinzutrei-ben, weshalb ich es so viele Jahre dabei belassen habe, ohne Euch Bestätigungen dafür zu schicken. Aber nachdem mir die letzte Verfehlung, die man mit meinen Dingen getrieben hat, zu Ohren gekommen ist, habe ich Euch mit den Galleonen sehr weitreichende Vollmachten geschickt, damit er meine Häuser übergibt, gemein-sam mit allem anderen, [...] in zwei Duplikaten. Zuerst an Euch, zweitens an meinen Bruder Don Juan und drittens an den Herrn General Don José Centeno.

Ich vertraue Gott, dass beide in Eure Hände gelangen“.224

222 „La carta de la esposa, Margarita Oliver, será el pilar estructurador del proceso. Es la prueba documental con la que el juez construirá el interrogatorio. Las declaraciones del encausado responderán a un intento de desmentir/explicar las afirmaciones que en ella se contienen. Finalmente, el resto de los testimonios están encaminados a di-lucidar dónde está la verdad, si en la carta o en las declaraciones del acusado.“ De la Pascua Sánchez, Mujeres solas, S. 172, und Brief Nr. 3 im Anhang ihrer Arbeit.

223 Rafael de Sopranis an seinen Bruder Jácome de Sopranis, Chucuito, 21.5.1672: So-lano, „Elites y calidad“, S. 263, Brief Nr. 7.

224 Rafael de Sopranis an seinen Bruder Jácome de Sopranis, Chucuito, Jänner 1673:

ibidem, S. 267, Brief Nr. 9.

Zwillingshaft verbunden mit der Bedeutung des Briefs als legales Instru-ment ist die Frage nach der Echtheit der DokuInstru-mente selbst, denn in juristi-schen Belangen war die Fälschung von Dokumenten eine Konstante. Da den Briefen in vielen Fällen entscheidende Bedeutung in einem Prozess zukam, war der Anreiz, sie für den eigenen Nutzen zu fälschen, stets präsent. Für die Interpretation von Briefen ist diese Frage ebenso bedeutend wie jene nach der literarischen oder publizistisch/propagandistischen Funktion von Briefen. Für die private transatlantische Korrespondenz von Emigranten kann Dokumen-tenfälschung an etlichen Beispielen gezeigt werden, obwohl die Untersuchun-gen zu Emigrantenbriefen, mit Ausnahme von Pérez Murillo, diese Problem-lage konsequent ignoriert haben.

Das interessanteste und komplizierteste Beispiel betrifft neun Briefe, die in der Dokumentation eines Bigamiefalles – dem eines gewissen Francisco Alberto vor der Inquisition in Mexiko in den Jahren 1661 bis 1664 – auf-bewahrt wurden. Sieben Stück davon wurden von Sánchez/Testón in ihre Sammlung von Briefen aus Prozessen der mexikanischen Inquisition aufge-nommen, ohne dass dabei aber weiter auf den Kontext eingegangen wurde, in dem diese Briefe standen.225 Da der Prozess von Francisco Alberto auch in Kopie aus Mexiko an den Inquisitionsrat von Aragón gesandt wurde, dessen Bestände heute im Archivo Histórico Nacional in Madrid aufbewahrt und weitgehend digitalisiert sind, war es möglich, einen direkten Blick in die etwas mehr als 250 Seiten umfassenden Akten zu werfen. Dabei ist es gelungen, weit mehr zu Tage zu fördern als einfach zwei weitere Briefe, die offensichtlich von Sánchez/Testón übersehen worden waren.226 Der Inhalt der Briefe erlangt eine ganz andere Bedeutung, wenn man ihre Rolle im gesamten Prozess bedenkt, für den sie Anlass und entscheidende Beweisstücke zugleich waren.

Der Angeklagte Francisco Alberto war ein Italiener aus Dolce Acqua, ei-nem kleinen Ort bei Ventimiglia, heute ganz nahe der Grenze zwischen Ita-lien und Frankreich, dessen Leben sich vor der Reise nach Mexiko zwischen Nizza und Genua abspielte, wo er sich der Erhaltung seiner umfangreichen Familie widmete: Seine Frau gebar nicht weniger als 24 Kinder, von denen etwa die Hälfte das Säuglingsalter überlebte.227 Ob er die Familie verließ, um schlicht dieser Verantwortung zu entkommen, kann man nur vermuten, da seine Geständnisse darüber keine genaue Auskunft geben. Zudem muten all seine Aussagen im gesamten Prozess bis zuletzt als von überzeugter Unauf-richtigkeit geprägt an und müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden.

225 Sánchez/Testón, El hilo que une, Briefe Nr. 168–174.

226 AHN, Inquisición 1733, exp. 12: „Proceso de fe de Francisco Alberto“, 1661, PA-RES.

227 Ibidem, f. 57r.

Hermeneutik der Briefe und Korrespondenzen | 73 So gestand er, um die Wahrheit seiner Schutzbehauptungen im Bigamiefall glaubwürdiger zu machen, ohne Bedrängung aus eigenem Antrieb zur Gewis-sensbereinigung eine moralische Schuld am bestialischen Mord an einem für den Marquis von Doria arbeitenden Richter im Jahr 1649.228 Auch die von ihm vorgespiegelten hohen Positionen seiner Söhne in Rom – einer sei Sekretär des Kardinals Antonio Barberini (des Jüngeren), ein anderer Vikar von Santa Maria Maggiore229 – erwiesen sich als frei erfunden.

Laut seiner eigenen Aussage verließ der etwa 50-jährige seine – wieder einmal – schwangere Frau im Dezember 1657 in Richtung Sevilla und machte sich von dort auf unbekannten Wegen nach Neuspanien auf, wo er 1659 an-kam230 und sogleich schwer krank wurde.231 Mehr oder weniger mittellos ging er nach Mexiko, wo er sich unter andere Genuesen mischte. Unter Vorspie-gelung verwandtschaftlicher Verhältnisse kam er bei einem gewissen Honorio Genossio unter und ließ sich von einer Ana de Mata gesundpflegen. „Vom Teufel angestachelt“ reifte in ihm der Plan, diesen Zustand zu perpetuieren und Ana zu heiraten. Doch wie sollte er das anstellen, wussten doch offen-sichtlich einige Personen von seiner ersten Ehe?

Nach eigenen Angaben erhielt er etliche Briefe von seinem Sohn, in denen dieser vom Tod seiner Mutter im Kindbett berichtete. Drei davon übergab er einigen Jesuiten, die deren Echtheit bestätigen lassen sollten, um ihm die Eheerlaubnis zu erteilen. Ein herangezogener Experte wollte sich jedoch „in so 228 Die filmreife Beschreibung der Szenerie – nichts für sensible Gemüter – verdient es, wenigstens auf Spanisch wiedergegeben zu werden: „[...]si no pudiere justificar sus defenssas se le dé la pena q[u]e merece, q[u]e el la llevara <%> no por este casso sino por sus pecados y que se le dé licencia para volverse a su tierra = Y que dice q[u]e por sus pecados estando estando <sic> en Dulçagua el año de mill y seiscientos y quarenta y nuebe por el mes de mayo le sucedió q[u]e el oydor del marqués Doria le pusso en la carcel [...] yendo por el lugar para ir a la feria de Piña encontró en la calle al d[ic]ho oydor y le dixo a vecco fotudo me la paguerás, que en su tierra es palabra de mucha afrenta [...] Y assí, passados algunos días tenía este un harriero q[u]e se llamaba Pedro, criado de este, y diciéndole este Pedro, no seré contento hasta q[u]e yo me quité una mosca q[u]e tengo sobre la nariz a que le respondió, calle y tenga paciencia q[u]e ya lo entiendo y se la quitaré, a que le responió este, si tu me la quitas no te seré ingrato [...]

y assí [...] se fue a esconder el d[ic]ho Pedro en una cassa fuera del lugar [...] y por la mañana [...] d[ic]ho oydor iba con su criado al comb[en]to q[u]e está fuera del lugar [...] y le tiró desde una bentana con una escopeta [...] y haviendo muerto, el d[ic]ho Pedro le cortó su miembro viril y de alli se emboscó sin que ninguno lo viesse en un castañal y se lo puso en la boca y de allí se emboscó sin que ninguno lo viesse en un castañal q[u]e ay, y a la noche vino a cassa de este y le dixo alegresse q[u]e ya le he quitado la mosca de las narices“. Ibidem, f. 64v-65r.

229 Ibidem, f. 57v.

230 Ibidem, f. 55v.

231 Ibidem, f. 83r.

etwas nicht hineinziehen lassen“, und einer der Jesuiten, fray Bernabé Muñoz, verlor die drei Briefe. Erst mit Hilfe eines Notars gelang es ihm dann doch noch, zu einer Bestätigung zu gelangen.232 Möglicherweise aufgrund des Ver-lusts der ersten Briefe verfasste Francisco weitere Briefe seines Sohnes und ließ, so eine Zeugin, nichts unversucht, um die Authentizität dieser Schriftstücke glaubhaft zu machen. Er inszenierte den Erhalt der Briefe auf theatralische Weise. Der Ankläger der Inquisition meinte dazu:

„16. Dass der Gefangene, um den Betrug und die Fälschung glaubhaft zu machen, anscheinend eines Morgens einen Neger ins Haus der besagten Person schickte, die allerdings nicht zu Hause war, wohl aber eine Mitbewohnerin, die er nach dem Gefangenen fragte und sagte, er bringe ihm besagte Briefsendung und wo er wohnte, und nachdem die Mitbewohnerin von besagter Person den Weg zum Haus des Gefangenen beschrieben hatte, ging der Neger ihn suchen und kurz nach Verlassen des Hauses kam dieser Gefangene zum besagten Haus mit dem Brief in der Hand zurück, in Gesellschaft jenes Negers, dem er einen Peso gab und der dann ging, und danach setzte er sich und begann die Briefe in Gegenwart der Mitbewohnerin der besagten Person zu lesen, die bemerkte, wie der Gefangene während des Lesens unter Tränen sagte, dass seine Frau verstorben sei und nach dem Schließen der Briefe verschwand er sehr hastig, was neben dem am Beginn des Kapitels gesagten jene besagte Person argwöhnen ließ, dass dieser Gefangene in dieser Stadt heiratete, während seine Frau in Nizza noch lebte und dass das mit den Briefen alles Fälschung und Vorspiegelung sei, wovon man überzeugt ist.“233 Es waren also Briefe, die Francisco dazu verwendete, um den Tod seiner ersten Frau vorzutäuschen, und es waren ebenfalls Briefe, die den Prozess ins Rollen brachten. In Punkt eins der Anklage heißt es:

232 Ibidem, fs. 56v-57r.

233 „16. De que para hacer este reo mas verosimil el embuste y fingimiento de d[ic]has cartas parece q[u]e cierto negro entró una mañana en la cassa de d[ic]ha una persona, no estando ella allí, aunq[u]e sí otra su conjunta a quien preguntando por este reo diciendola como la traia d[ic]ho pliego y que adonde vivía y haviéndole dado las señas de la cassa de d[ic]ho reo la persona conjunta con d[ic]ha una, el cierto negro lo fue a buscar, y después de la salida de d[ic]ho cierto negro brevem[en]te volvió a d[ic]ha cassa este reo llevado <sic> en la mano d[ic]ho pliego y en su comp[añí]a a d[ic]ho cierto negro, a quien dió un pesso y se fue, y después se sentó d[ic]ho reo y se puso a leer las cartas, pressente d[ic]ha persona conjunta de la d[ic]ha una, la qual reparó como iendo leiendo d[ic]ho reo dixo llorando q[u]e su muger era muerta y cerrado las cartas se salió a toda priessa lo qual además de lo avissado al principio de este cap[ítul]o hiço maliciar a la d[ic]ha una persona q[u]e este reo se cassó en esta ciu[da]d estando viva en la de Nissa su primera muger y que lo de las cartas fue fingimiento y simula-ción como se convince“. Ibidem, f. 74v.

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„1. Dass eine Person aus den spanischen Königreichen sich im Monat März des vergangenen Jahres 1661 in einer bestimmten Hafenstadt dieser Provinzen [Vera-cruz] befand und sich daran machte, dem Gefangenen einige Briefe zu überbrin-gen, die ihm in jenen Königreichen eine Person übergeben hatte, die sich in einem jener Häfen [Cádiz] befand, und dass ihm zu Ohren kam, dass der Gefangene in dieser Stadt [Mexiko] verheiratet war, worüber er sich wunderte, da er wusste, dass der Gefangene in Nizza, im Herzogtum Savoyen, verheiratet war und dass einer der Briefe, die er überbringen sollte, von der Frau stammte, mit der der Gefangene in jener Stadt und Herzogtum verheiratet war“.234

Um die Echtheit der Briefe, die Francisco unter Tränen vorgelesen hatte, drehte sich dann der Großteil der Beweisführungen und Zeugenaussagen.

Wie die meisten Briefe im Prozess war auch dieser in „lengua toscana“ verfasst und wurde von Übersetzern ins Spanische übertragen. Laut Vermerk in der Kopie des Prozesses befinden sich die Originale von zumindest zwei Briefen in den eigentlichen Prozessakten in Mexiko.235 Tatsächlich waren die Originale für den Prozess bedeutsam, da deren Analyse einen wichtigen Punkt bei der Feststellung ihrer Echtheit darstellte. Mehrere Experten verglichen jene vier, mit dem Namen Honorato Alberto – dem ältesten Sohn Franciscos – firmier-ten Briefe und stellfirmier-ten unterschiedliche Autorenschaft fest. Zu dieser Aussage gelangten sie einerseits durch graphologischen Vergleich:

„Es gibt einen Unterschied jenes dritten mit dem vierten Brief darin, dass das L von Alberto im dritten mit dem B verbunden ist und dass die Unterschrift am Ende einen Schnörkel besitzt. Und beim vierten sind L und b getrennt und die Unterschrift weist keinerlei Schnörkel am Ende auf“. 236

234 „1o De que estando una persona de los Reynos de Hespaña en cierta ciu[da]d y puerto de estas provincias por el mes de março del año passado mill seiscientos y sessenta y uno, haciendo dilig[enci]a para remitir a este reo unas cartas q[u]e le dio en d[ic]hos reinos una persona que asiste en un puerto dellos supo como este reo estaba cassado en esta ciu[da]d de lo qual se admiró porq[u]e savía q[u]e d[ic]ho reo estaba cassado en d[ic]ha ciu[da]d de Nisa de el Ducado de Saboya y que una de las cartas q[u]e hacía dilig[enci]a para remitir era de la muger con quien en d[ic]ha ciudad y ducado estava cassado este reo [...]“. Ibidem, f. 72r.

235 „En los autos originales desde la fox. 34 hasta la 37 inclusive estan dos cartas originales en lengua toscana q[u]e adelante irán traducidas en castellano“. Ibidem, f. 23v.

236 „[...] se halla diferencia en la firma de d[ic]ha carta tercera de la quarta en q[u]e en la L donde dice Alberto en la tercera carta está trabada en la B. Y además tiene un rasgo al remate de la firma. = Y la quarta carta está distinta la L de la b y no tiene rasgo ninguno al remate de la firma [...]“. Zeugenaussage von Alonso de Escobar und Juan de Tapia: ibidem, f. 31r.

Daneben griff man auch auf linguistische Elemente und inhaltlichen Ver-gleich zurück:

„Und im fünften Brief scheint es, als habe man beim Datum Mexiko geschrieben, und zum Ausmerzen hat man Striche darüber gezogen, das Wort gelöscht und vorne Genua hingeschrieben. Das Schreiben von September mit einer Sieben, wie es in diesen Briefen steht, entspricht nicht dem Stil in Italien, denn er kennt das nur als spanischen Gebrauch, und einige Wörter, die im einen und anderen Brief vorkommen, müssen von Personen stammen, die schon in Spanien gewesen sind, da jene sie verwenden, weder aber Genuesen noch Italiener, die ihr Land nie ver-lassen haben. Und was in diesen beiden Briefen geschrieben steht, ist vollkommen verdreht oder im Widerspruch zu dem, was im zweiten und dritten steht, denn im zweiten und dritten scheinen seine Frau und sein Sohn von den Nöten zu spre-chen, in denen sie sich aufgrund der Abwesenheit von Francisco Alberto und ihrer Armut befinden. Und im vierten und fünften Brief, von denen hier die Rede ist, ist alles ganz anders [...]“.237

Andere Zeugen bemerkten weitere Unstimmigkeiten: So spreche man in Ita-lien nicht von den „padres de la compañía de Jesús“ sondern einfach von

„padres jesuitas“.238 Die hermeneutische Analyse der Briefe durch den An-kläger ging sogar noch weiter als jene der Experten und glänzt durch überzo-gen wirkende Unterstellunüberzo-gen. Wie schon über die vielfältiüberzo-gen Strategien von Briefschreibern ausgeführt wurde, kann eine Abweichung des Briefinhaltes von tatsächlichen Umständen weit mehr Erklärungen haben als eine einfache Fälschung des Briefes. Der fiscal der Inquisition sah das jedoch anders. Er meinte in der Tatsache, dass der im Brief erwähnte jüngste Sohn Franciscos nicht in der Lage gewesen sein könne, die Worte zu sprechen, die ihm der Brief in den Mund legte, ein deutliches Indiz für dessen Fälschung erkennen zu können und sich selbst für diese intellektuelle Leistung loben zu müssen:

237 „Y en la d[ic]ha quinta carta parece q[u]e escribieron por fecha México y que después para enmendarlo le echaron algunos rasgos y testaron d[ic]ha palabra y pussieron adelante Génoba. = Y el escrebir septiembre con un siete como esta escrito en d[ic]has cartas no se estila en manera alguna en tierra de Italia que sólo a conocido ser estilo de España, y algunos vocablos q[u]e ay en la una y otra carta son de personas q[u]e ayan estado en España, que essos los suelen ussar, pero no los genobesses ni italianos q[u]e no aian salido de aquellos reinos. = Y lo que se dice en d[ic]has dos cartas es totalmente muy disimulo o muy contrario a lo que se dice en la segunda y tercera porq[u]e en la segunda y tercera parece q[u]e muger y hijo le refieren las miserias con q[u]e se hallan en su cassa por la aussiencia de Fran[cis]co Alberto y por su pobreça.

= Y en la quarta y quinta de que aora ba hablando todo es totalmente contrario [...]“.

Zeugenaussage von Bernardo Alfonso Molinari: ibidem, f. 29r-v.

238 Anonyme Zeugenaussage, cap. 8. Ibidem, f. 101r.

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„Und selbst wenn es wahr sein sollte, dass seine Frau Isabel Planavia ein Kind gebar und sie dieses Francisco genannt haben, so ist es ausgeschlossen, dass das Knäblein Francisco immer nach seinem Vater und seiner Mutter geschrieben hat, ohne den einen noch die andere je gesehen zu haben, wie es im Brief auf fol. 45 heißt, denn die Frau starb an der Geburt und am Ausfluss am 7. Mai [16]58 und der Brief wurde am 16. September [16]59 verfasst, und man weiß ja, wie ein Kind von einem Jahr und vier Monaten seine Eltern nennt, schon gar, wenn es sie nie gesehen oder gekannt hat, wie der Brief anzeigt, so ist sicher, dass der Gefangene davon ausging, dass seine Schwindeleien nicht mit solcher Umsicht und Vernunft begutachtet würden, und daher beschränkte er sich auf die pure Fälschung ohne auf Übereinstimmungen für die weitere Folge zu achten“.239

Tatsächlich war hier wohl der verfolgende Eifer für die Interpretation verant-wortlich. Man findet in den cartas de llamada eine sehr ähnliche Briefpassage, mit der eine kreolische Ehefrau ihren zur Kur nach Spanien gegangenen Ehe-mann zur Rückkehr nach Veracruz zu bewegen versuchte. Auch hier ist nicht zwingend davon auszugehen, dass der weniger als ein Jahr alte Sohn seinen ihm unbekannten Vater gerufen hätte:

„Manuelito geht es im Moment gut, aber in dem Monat, in dem du fortgingst wurde er krank an Fieber und Durchfall, weil ihm die Zähne gekommen sind, von denen er schon drei hat, und den ganzen Tag ruft der Sohn nach seinem Papa

<tata>, denn das kann er schon sagen“ (Veracruz, 1787).240

Es gehörte zum normalen Repertoire der Briefschreiber, in diesen quasi treu-händerisch für ihre Kinder zu sprechen: „Pedrito ist ein Jahr und sechs Mo-nate alt, Mercecita sieben MoMo-nate, und sie schicken Euch herzliche Grüße“

(Mexiko, 1789).241

239 „64. De que aunq[u]e fuera cierto haver parido d[ic]ha su muger Isabel Planavia y que el niño lo hubieran llamado Fran[cis]co no puede ser verdad que el muchachuelo Fran[cis]co siempre llame a su p[adr]e y m[adr]e sin aver visto al uno ni al otro como en la d[ic]ha carta se dice del muchachuelo Fran[cis]co al fol. 45 [...] porq[u]e la muger murió de su parto y fluxo en 7 de mayo de 58 y la carta se escribió en 16 de sept[iembr]e de 59, y ya se conoce si un niño de año y quatro meses poco más o

239 „64. De que aunq[u]e fuera cierto haver parido d[ic]ha su muger Isabel Planavia y que el niño lo hubieran llamado Fran[cis]co no puede ser verdad que el muchachuelo Fran[cis]co siempre llame a su p[adr]e y m[adr]e sin aver visto al uno ni al otro como en la d[ic]ha carta se dice del muchachuelo Fran[cis]co al fol. 45 [...] porq[u]e la muger murió de su parto y fluxo en 7 de mayo de 58 y la carta se escribió en 16 de sept[iembr]e de 59, y ya se conoce si un niño de año y quatro meses poco más o