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3 Spanien und Amerika: Eine Begegnung in Briefen

4.1 Das Procedere der Emigration

4.1.3 Die Beamten und die Briefe

Bei der familiären Emigration waren Briefe das entscheidende, manchmal ex-klusive Dokument, auf dem Anträge aufbauten. Sie nahmen einen wichtigen Platz bei der Beurteilung des Falles durch die Beamten ein. Der Antrag von María Antonia de Mendieta aus dem Jahr 1708 beginnt folgendermaßen:

„Doña María Antonia de Mendieta, gebürtig aus Mexiko Stadt und legitime Ehe-frau von Don Pedro de León, wohnhaft in besagter Stadt; in der besten nur denk-baren Form erscheine ich vor Eurer Herrschaft und sage, dass wie aus dem Send-schreiben hervorgeht, das mir besagter mein Mann geschrieben hat, dass daraus

embarcación. Aora se titula v[ezi]no y comerciante en Montev[ide]o y quiere llevarse la muger, a lo que no deve concederse, y antes si hacer venir a su marido“. AGI, Bu-enos Aires 568, Jacinta Romero e hija de tierna edad (3.4.1790).

365 Brief Nr. 1102.

366 „[...] a mejorado su fortuna y puede asistir a su muger e hija“; „Concedida sin exem-plar, y por las justas consideraciones, que se tienen presentes“. Ibidem.

367 AGI, Buenos Aires 568, Josefa de Bouzas (22.3.1788), Brief Nr. 1088; AGI, Buenos Aires 568, Josefa Fernández (16.2.1790).

368 Siehe Anhang 1, Nr. 3.

hervorgeht, dass ich und Doña Phelipa de León, meine [...] legitime Tochter, uns in jene besagte Mexiko Stadt begeben mögen [...]“.369

Die meisten in Amerika befindlichen Emigranten waren über die Emigrati-onsprozeduren sehr gut informiert. Nicht erst am Ende der Kolonialzeit, son-dern ziemlich bald nach der Einführung der Praxis, Briefe als Belege zu ver-langen, waren sich viele Briefschreiber dieser Möglichkeit bewusst und passten Darstellungsform und Inhalt an diesen pragmatischen Verwendungszweck an:

„Für die Lizenz wird nicht mehr notwendig sein als diesen [Brief] dem Rat vorzu-legen, dann wird Euch bald stattgegeben und ausgestellt“ (Lima, 1582).370

„Bezüglich dessen, was Ihr mir in eurem Brief sagt, dass Ihr nicht kommt, weil Ihr die zum Kommen nötige Lizenz nicht beantragt habt, weiß ich nicht, warum Ihr sie nicht beantragt, denn da ihr nicht zu den durch Seine Majestät Verbotenen gehört und Angehörige habt, um hierher zu kommen, weshalb man Euch mit diesem meinem Brief, Euch einigen jener Herrn Richter empfehlend, keine Gunst abschlagen wird“ (Panama, 1572).371

Viele Briefschreiber wussten also genau, dass ihre Verwandten Briefe als Be-lege verwenden würden. Neben der daraus erwachsenden Vorsicht der Brief-schreiber bei der Wortwahl hat auch der Empfänger in Spanien wesentlichen Einfluss darauf, welcher Brief aus der Korrespondenz den Behörden vorgelegt wurde und folglich erhalten blieb. Aufgrund der Begutachtung des Inhaltes sahen sich die Empfänger gut beraten, den „richtigen“ Brief aus der Korres-pondenz auszuwählen. Die Selektion am europäischen Ende der Korrespon-denz erweist sich als ebenso wichtig oder gar noch wichtiger als die Über-legungen, welche die Briefschreiber selbst beim Verfassen der Briefe gehabt haben mögen.

In vielen Briefen finden sich von den Beamten unterstrichene Textpassa-gen, die jene Teile kennzeichnen, in denen direkt eine Einladung, Zustim-mung oder Anwerbung zum Ausdruck gebracht wurde. Briefe mit eventuell kompromittierenden Inhalten wurden den Beamten aus verständlichen Grün-369 „D[oñ]a María Antonia de Mendieta, natural de la ciu[da]d de México, muger

lexítima de D[o]n Pedro de León, rezidente en la d[ic]ha ciu[da]d en la mejor forma que aya lugar paresco ante VS y Digo que como consta de la carta missiba que me escrivió el d[ic]ho mi marido consta el que yo y D[oñ]a Phelipa de León, mi hija lexítima [...], pasemos a la d[ic]ha ciu[da]d de México [...]“. AGI, Contratación 5464, María Antonia de Mendieta (30.4.1708), f. 3r; vgl. Brief Nr. MP1.

370 Brief Nr. EO473. Vgl. auch Brief Nr. EO439.

371 Brief Nr. EO274.

Das Procedere der Emigration | 113 den vorenthalten, auch politische Aussagen kann man aus diesem Grund in den Briefen kaum erwarten, es sei denn, es handelte sich um eine ausdrückli-che Lobpreisung des Königs und seiner Vertreter, die sich um ihre „geliebten Vasallen“372 sorgten:

„Im angekommenen Nachrichtenschiff haben wir die plausible Nachricht der Entsendung des Vizekönigs erhalten, seiner Exzellenz, dem Conde Revillagigedo, Generalleutnant der Heere Seiner Majestät, die Gott schütze, dessen Ankunft hier, wie man sagt, im Laufe des Juli sein wird. Wir hoffen, dass es bei seiner Ankunft an diesem Hof ein großes Fest geben wird, zur Feier der Krönung unseres Katho-lischen Königs, dem Herrn Don Carlos 4., den Gott erblühen lasse“ (Mexiko, 1789).373

Besonders in den letzten Jahren der Kolonialzeit, zunächst in den Wirren der Napoleonischen Kriege und dann als die Unabhängigkeitsbewegungen be-reits in Gang waren, häufen sich die Loyalitätsbekundungen für Ferdinand VII. Für den Vogt (corregidor) Anastasio Ladrón de Guevara, der allem An-schein nach ein vehementer Verteidiger der spanischen Sache während der Unabhängigkeitskriege war,374 mag es tatsächlich normal gewesen sein, seinen

„geliebten Tanten, Onkeln, Schwestern, Cousinen, Cousins und Freunden“

zu berichten, dass „wir alle hier den Wahlspruch Es lebe Ferdinand der Sie-bente am Hut haben, und in jedem von uns hat S.M. einen wertvollen Sol-daten“ (Barinas, 1808).375 Man muss aber auch bedenken, dass die Behörden in diesen turbulenten Jahren sicherlich besonderen Wert darauf legten, dass Emigranten die eigenen Reihen stärkten und keine Frankophilen (afrancesa-dos) beziehungsweise von liberalem Gedankengut infizierte Unruhestifter den Atlantik überquerten. Daher kann es nicht verwundern, dass auch in den Brie-fen von Emigranten ohne politisches Amt immer stärker patriotische Töne angestimmt wurden:

„Wir befinden uns hier in regelrechtem Konflikt mit dem Vizekönig, weil er Fran-zose ist und den Ideen der Schurken anhängt, aber Montevideo gehorcht ihm 372 Domingo de Urue an seinen Bruder, 17.4.1802: AGI, Ultramar 326, Miguel Antonio

de Insausti, unediert.

373 Brief Nr. 170.

374 In der Literatur ließ sich nichts über diesen Vogt finden, er wird auf der Internet-Seite der kolumbianischen Biblioteca Luis Ángel Arango als „Feind“ der Unabhängigkeit in der Stadt Neiva genannt. Rodrigo Llano Isaza, „Hechos y gentes de la Primera República Combiana, 1810–1816“, online (14.8.2011): http://www.lablaa.org/blaa-virtual/historia/primera/vistazo.htm .

375 Brief Nr. 807.

nicht im Mindesten, sondern verteidigt die Sache Unseres Königs Ferdinand VII und der Nation“ (Montevideo 1809).376

„Die Dinge hier bessern sich von Tag zu Tag, dank der siegreichen Waffen mit sichtbarer Unterstützung des Himmels und der Treue ganzer Völker, die unserem Souverän Ferdinand dem 7ten treu geblieben sind“ (Real de Cuencamé, 1818).377 In einigen wenigen Briefen kann man erkennen, dass einzelne Teile nachträg-lich gelöscht wurden, um den Inhalt vor den Augen Fremder, also wohl der Beamten, zu schützen.378 Dass man mit den vorgelegten Briefinhalten vor-sichtig sein musste, kann man an abschlägigen Bescheiden erkennen, die als Begründung auf Textpassagen der Briefe zurückgriffen. Luis Eugenio Bustio legte seinem Antrag einen Brief seines am Hof in Madrid befindlichen Cou-sins bei, in dem dieser die Perspektiven von Luis in Amerika positiv schilderte:

„Ich habe Euch schon geschrieben, dass Ihr diesen Sommer die Reise von Luis nach Buenos Aires vorbereiten könnt, wohin Herr Arredondo als Vizekönig be-stellt wurde, und nun wird er sich mehr um ihn kümmern als er zuvor in der Regierung von Charcas versprochen hatte, da es ein besserer Posten ist. Und mir hat er geschrieben, er wird für ihn tun, was er kann“ (Madrid, 1789).379

Für die Beamten war diese Versicherung der Anlass, die Lizenz zu verweigern, da man vage Versprechungen eines Vizekönigs für unzureichend erklärte.380

Entscheidend war für die Beamten die Existenz eines Verwandten, der im Falle eines Scheiterns als soziales Netz dienen konnte und seine Unterstüt-zung explizit und persönlich bestätigte. Ähnlich wie Luis Bustio erging es Francisco Javier de Teresa, dem von seinem Schwager in Mexiko im Brief nur zugesichert war, ihn bei „einem Onkel in Querétaro“ unterzubringen.381 Die Folge war ein ablehnender Bescheid, „da das Anliegen, auf dem sein Antrag aufbaut, illegitim ist“.382 Der Verweis auf Dritte wurde also nicht als angemes-sen betrachtet, was die Vermutung zulässt, dass man die im Brief zugesicherte Unterstützung (theoretisch) als verbindliche Verpflichtung ansah, die nicht für eine andere Person gegeben werden konnte. Auch mussten alle „eingela-denen“ Personen namentlich erwähnt sein. Der Lizenzantrag von Rosa María 376 Brief Nr. 1146.

377 Brief Nr. 379.

378 Brief Nr. 143 (Mexiko, 1786).

379 Brief Nr. 1197.

380 AGI, Buenos Aires 568, Luis Eugenio Bustio (6.10.1789).

381 Brief Nr. 500 (Veracruz, 1790).

382 AGI, México 2494, Francisco Xavier de Teresa (26.4.1791).

Das Procedere der Emigration | 115 Polo, Schwester von Antonio Figueroa, „Gouverneur“ von La Jagua, Provinz Pinos del Río, Kuba, wurde abgelehnt, da „er zwar sie zu sich ruft, nicht aber ihre beiden Kinder“.383 Und Baltasar Aristondo schrieb seinen Brief nur an seine Schwester María Esperanza, weshalb die Lizenz für diese ausgestellt, ih-rer Schwester María Antonia aber verweigert wurde.384 Besonders genau arbei-tete der Rat im Fall von Martín Noriega Nieto, dessen Lizenzantrag ebenfalls abgelehnt wurde. Zwar forderte ihn sein Vater Francisco Noriega auf, zu ihm zu kommen, doch in einem anderen Anwerbebrief eines zur selben Zeit emi-grierenden Verwandten, Juan Santos Gutiérrez, fand sich die Textstelle, dass Francisco Noriega in Veracruz auf seine Einschiffung nach Spanien warte.

Da die Behörden nun annahmen, dass der Bursche in Mexiko auf sich allein gestellt wäre, wurde ihm die Lizenz verweigert:

„Bei der Begutachtung der Dokumente [...] wurde festgestellt, dass in seinem Brief [von Juan de Cantero] vom 30. April dieses Jahres davon die Rede ist, dass Don Francisco Noriega, der mit Sicherheit der Vater von Don Martín ist, sich in Vera-cruz befand um schnellstmöglich die Rückreise nach Spanien anzutreten. Und da der Brief, in dem Francisco seinen Sohn zu sich ruft, sechs Monate zuvor geschrie-ben wurde, erscheint es angemessen, die Lizenz auszusetzen [...]“.385

Im Laufe der Zeit schlug sich dieses Wissen, dass jedes Wort gegen einen verwendet werden konnte, in immer kürzer werdenden Anwerbebriefen nie-der.386 Viele cartas de llamada nahmen immer stärker formalen, standardisier-ten Charakter an. Ein kurzer Brief sagt es deutlich, wie unzählige andere auch:

383 „[...] q[u]e la llama a su compañ[í]a pero no a los dos hijos“. AGI, Santo Domingo 2198, Rosa María Polo (10.2.1789); vgl. Brief Nr. 609. „Gouverneur“ steht unter Anführungsstrichen, da Figueroa zwar so angesprochen wird, der Titel eines Gouver-neurs jedoch nicht für so kleinräumige Einheiten Anwendung fand.

384 Brief Nr. 722. Ein Abschnitt eines Briefes mit demselben Datum ist in Pérez Murillo, Cartas de emigrantes, S. 101 (Nr. PM58) ediert. Gemäß der zitierten Passagen, die sich an beide Schwestern richten, handelt es sich aber um einen anderen Brief, der vom Autor nicht ausfindig gemacht werden konnte. Zudem fehlt bei Pérez Murillo im Kommentar der Hinweis auf den abgelehnten Antrag. Möglicherweise stammt die zitierte Briefpassage aus einem weiteren Antrag der Schwestern. In diesem Fall müsste man angesichts des gleichen Datums davon ausgehen, dass es sich im zweiten Fall um ein fingiertes Schriftstück handelt.

385 AGI, México 2496, “Denegando la licencia de embarco que D[o]n Francisco Noriega pide p[ar]a su hijo Dn Martín; y mandando al Juez que no dé curso a semejantes instancias, sin examinarlas con escrupulosidad”, 8.2.1794. Vgl. Anhang 1, Nr. 4.

386 Allerdings trägt auch die höhere Frequenz der Korrespondenzen viel zu diesem Phä-nomen bei (siehe Kap. 5).

„Damit ihm keine Schwierigkeiten bei seiner Einschiffung gemacht werden, tut mir den Gefallen und erbittet die entsprechenden Lizenzen vom Rat, die zweifellos aus-gestellt werden in Hinblick auf diesen Befehlsbrief [carta orden]“ (Veracruz, 1792).387 Zusätzlich gestalteten die Briefschreiber ihre Wortwahl beamtengerecht:

„Und damit dieses mein Ansuchen und meine Bitte vollzogen wird, die ich Euch mit gebührender Untergebung an Euch richte, ist es unumgänglich durch und kraft dieses Briefes die Herrn des Königlichen und Höchsten Rates zu informie-ren, damit unser Souverän, der Herr Don Carlos der Fünfte (den Gott schütze), die Gnade erweist, seine Lizenz zu erteilen“ (Mexiko, 1794).388

Diese Tatsache fand ihren Niederschlag in der amtlichen Dokumentation da-rin, dass die vorgelegten Briefe von den Beamten kaum noch als carta misiva (gewöhnlicher Sendbrief), sondern als carta de llamamiento bezeichnet wur-den. 389 Wir werden im Folgenden diesen Ausdruck ebenfalls verwenden, um damit zweckgebundene, reduzierte und standardisierte Briefe von den ande-ren cartas de llamada zu unterscheiden.

Ein Brief von 1793 zeigt uns klar, dass diese Briefe oft parallel zur eigent-lichen privaten Korrespondenz angefertigt wurden. Der Emigrant sollte das beigelegte Schreiben vorlegen, das nur für die Behörden gedacht war. Aus einem uns unbekannten Grund legte Mariano Guillén dennoch den ausführ-licheren Brief vor, sodass wir die Intention seines Onkels fassen können:

„Damit man ihm die Lizenz zur Einschiffung erteilt, muss er den Brief vorlegen, in dem ich deinen besagten Sohn erbitte, und zu diesem Zweck habe ich den beigelegten Brief angefertigt, den du ihm übergibst, damit er ihn mit nach Cádiz nimmt“ (Guatemala, 1793).390

Nicht selten fügten die Schreiber in die Lizenzanträge nur noch ganz kurze Absätze aus den Briefen ein, und dazu eine Bestätigung der Echtheit, um die Anwerbung formal zu bekräftigen:

„[…] mir wurden verschiedene Briefe vorgelegt, die ihm sein Bruder Don Andrés aus dem Königreich Neuspanien schreibt, in denen er erwartungsvoll auffordert,

387 Brief Nr. 515.

388 Brief Nr. 261.

389 Otte konnte diesen Ausdruck nicht kennen, da er erst in den Anträgen der ausgehen-den Kolonialzeit verwendet wurde, daher der Unterschied in der Bezeichnung.

390 Brief Nr. 597.

Das Procedere der Emigration | 117 man möge ihm seinen Neffen Don Andrés, Sohn von Don Joaquín schicken, be-sonders in jenem, den er in Hacienda de Abinito am vierten November Siebzehn-hunderteinundneunzig verfasste, in dem er unter anderem Folgendes schreibt: Du kannst Anfang März Zweiundneunzig Vorkehrungen zur Einschiffung meines Neffen Andresito treffen, mit allen Papieren und Sicherheiten, und sieh zu, dass das ohne Verzögerung geschieht. Dieser Abschnitt ist gleichlautend und stimmt überein mit dem Originaltext des Briefes, den Don Joaquín an sich nahm und der in seinem Besitz bleibt [...]“ .391

Damit nähern wir uns wieder der bereits gestellten Frage nach dem verbind-lichen juristischen Wert privater Briefe, die selbstverständlich auch bei den cartas de llamada als öffentlich zur Anwendung gekommene Briefe relevant ist. Ein Element, das uns die Formalisierung und zweckgebundene Anferti-gung von Anwerbebriefen vor Augen führt, ist das Ausschreiben des gesamten Namens des erwünschten Emigranten, selbst dann, wenn es sich um Neffen/

Nichten des Briefschreibers und Kind des Empfängers handelt, oder gar um das eigene Kind, wie es sich in einigen Briefen finden lässt: „Meine geliebte Schwester, wiederholt habe ich dir geschrieben, dass du mir bei erster Gele-genheit eines Postschiffes deinen Sohn und meinen Neffen Marcos Antonio de la Puente y Gallarza schickst, damit er mir hilft [...]“ (Mexiko, 1796).392 Wo immer dieses Phänomen auftritt, kann man die Reflexion einer öffentli-chen Verwendung seitens des Briefschreibers unterstellen, was nicht nur in Hinblick auf die Funktion als carta de llamada zutrifft, sondern bei jeder vom Briefschreiber antizipierten öffentlichen Verwendungsmöglichkeit.393

Ein anderes ins Auge stechendes Element ist die in den Briefen häufig zu findende Floskel „digo que“ („ich sage/stelle fest, dass“). Häufig bezeugt diese Wortwahl nur den der Oralität nahestehenden Stil vieler Briefe – „Don Lucas sage ich, dass Francisca Javiera nicht nur gut erzogen, sondern so pfif-fig und herzig ist, dass sie uns alle umgarnt hat“ (Veracruz, 1818) –394 und leitet manchmal nach der Begrüßung den Inhalt des eigentlichen Briefes ein –„Freund Joseph, hinsichtlich dessen, was Ihr mir mitteilt, sage ich, dass ich solche Feinheit sehr schätze [...]“ (Havanna, 1770)395 –, was auf den Einsatz von Schreibern, die das mündlich diktierte Wort auf diese Weise schriftlich umsetzten, hinweisen kann. Besonders auffällig ist jedoch, wie häufig mit die-sen Worten die explizite Anwerbung eines Emigranten eingeleitet wird. Lange

391 AGI, Arribadas 516, Andrés de Ybarra (23.4.1792).

392 Brief Nr. 282.

393 Z.B. Brief Nr. 130.

394 Brief Nr. 557.

395 Brief Nr. 615.

ist der Stil deutlich ungezwungen und scheint wie im vorhergegangenen Bei-spiel ein Produkt der Quasi-Mündlichkeit des Briefstils zu sein:

„Ich sage nur, dass nachdem alle Schwierigkeiten überwunden sind, die sich wegen der Mitnahme eurer Großmutter ergeben können, ihr mit eurer Mutter, auf ihr Wohlleben aufpassend, mit dieser Flotte kommen mögt [...]“ (Mexiko, 1610).396

„Ich möchte dir sagen, dass wenn du im Gefolge einiger Familien hierher kommen möchtest, denn jeden Moment kommen Familien von dort in jedem Moment

<sic>, dass uns hier an nichts fehlen wird [...]“ (Mexiko, 1754).397

In der ausgehenden Kolonialzeit hingegen wirken die von „digo que“ einge-leiteten Sätze zunehmend formelhaft und kehren in nur leichten Variationen wieder:

„Aber ich sage dir, dass sowie Du Gelegenheit findest, Dich bereitmachst und herkommst“ (Havanna, 1788).398

„In diesem Punkt sage ich Dir, dass es in Ordnung ist, denn Du kannst kommen sobald der Friede geschlossen ist“ (Santiago Ario, 1801).399

„[...] ich sage, dass Ihr mir bei der ersten sich bietenden Gelegenheit meinen Bru-der Juanet schicken möget [...]“ (Santiago de Cuba, 1811).400

Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Phrase in nicht weniger als zwei Dutzend Briefen graphisch besonders hervorgehoben wurde, indem man auf die Verwendung von Großbuchstaben oder das Setzen eines Beistrichs oder Doppelpunktes zwischen beiden Wörtern zurückgriff.401 Es handelt sich hier um ein bekanntes Muster, das in legalen Dokumente der Frühen Neuzeit in Spanien – Zeugenaussagen, Ansuchen, aber auch in dem Brief nahestehen-den Quellen wie Vollmachten (cartas de poder), Mitgiftbriefen (cartas de dote y arras) oder Anweisungen (cartas orden) – häufig Anwendung fand, wie im folgenden Beispiel einer carta de poder:

396 Brief Nr. 111 (= AJ19; Jacobs’ Transkription wies an dieser Stelle eine Lücke auf).

397 Brief Nr. MP32.

398 Brief Nr. 627.

399 Brief Nr. 416.

400 Brief Nr. 794.

401 Briefe Nr. 73, 252, 257, 281, 304, 324, 352, 380, 408, 443, 632, 735, 763, 766, 785, 862, 975, 1006, 1010, 1077, 1090, 1107, 1202.

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„Alle, die diesen Brief <carta> sehen, mögen wissen, dass ich, Catalina Ruiz, Frau von Diego Hernán de Guantero, Bürgerin dieser Stadt Sevilla, Sage, dass besagter mein Mann sich in Mexiko Stadt in Neuspanien in den Indien des ozeanischen Meeres befindet und ich in jene Stadt Mexiko in die Obhut meines Mannes gehen möchte, weshalb ich meine Vollmacht[...] gebe, dass [...]“.402

Neben dem sich immer stärker standardisierenden Element der Anwerbung gibt es noch andere Passagen, die eine bereits vom Briefschreiber berücksich-tigte potentielle öffentliche Verwendung der Briefe belegen und ebenfalls vom Satzelement „digo que“ eingeleitet werden:

„Geliebter [Bruder] und Herr, ich habe Ihren geschätzten [Brief] vom 8. Mai erhalten und eingedenk dessen Inhalts sage ich: dass ich unendliche Freude em-pfunden habe, dass Ihr die 6.000 reales erhalten habt und zu gleichen Teilen unter beiden Brüdern aufgeteilt habt“ (Puerto Cabello, 1799).403

Ich habe die Floskel „digo que“ als Beispiel herangezogen, da es sich dabei um ein sehr häufiges Element sowohl in den Briefen als auch in legalen Doku-menten handelt. Es gibt aber auch andere Phrasen, die der öffentlichen Sphäre entstammen und die auf ähnliche Weise in die Briefe eingebaut wurden. Das ebenfalls in Ansuchen an offizielle Stellen häufige verwendete „suplico que“

(„ich ersuche darum, dass“) begegnet immerhin zehn Mal, davon sechs Mal der Anwerbung voranstehend.404 Wieder ist die Häufung des Phänomens in der ausgehenden Kolonialzeit auffällig, dennoch beweist ein Fall aus dem Jahr 1585, in dem Baltasar González seinen Bruder um etwas „bittet und ersucht“ („pido y suplico que“), dass diese Eigenart auch den Briefschreibern des 16. Jahrhunderts nicht gänzlich fremd war.405 Ein anderer Brief aus dem Jahr 1605 beinhaltet eine weitere Phrase, die in rechtlichen Schriftstücken Verwendung fand. Miguel de Palomares schrieb Lucas de Morales, dem Mann seiner Nichte: „[...] ich werde alles begleichen, was ihr an Schulden für Trans-port oder andere Dinge hinsichtlich der Einschiffung macht, und dazu Binde

402 “Sepan quantos esta carta vieren como yo Catalina Ruiz, muger de Diego Hernandes Guantergo, vez.a desta ciudad de sevylla digo por quanto el dho my marido está en la ciudad de México de la Nueba España de las Yndias del mar océano e porque quyero yr a la dha ciudad de México en poder del dho my marido, por tanto [...] doy e otorgo

402 “Sepan quantos esta carta vieren como yo Catalina Ruiz, muger de Diego Hernandes Guantergo, vez.a desta ciudad de sevylla digo por quanto el dho my marido está en la ciudad de México de la Nueba España de las Yndias del mar océano e porque quyero yr a la dha ciudad de México en poder del dho my marido, por tanto [...] doy e otorgo