• Keine Ergebnisse gefunden

Der anDere BlIcK

Im Dokument Materialien Nr. 173 (Seite 93-96)

KURZBESCHREIBUNG

Wir beschäftigen uns mit den Juden, wir stecken sie in eine Schublade, aber zugleich wissen wir nichts über sie. (…) Darf ich das Wort Jude überhaupt aussprechen? Die Auseinanderset-zung mit dem Thema hat mit meiner eigenen Identität zu tun. Wir sehen uns als Nachfolgege-neration der anderen Deutschen und sind im Konfliktfeld zwischen Schuld und Verantwortung gefangen. Wir sind quasi die, die sich selbst verteidigen müssen und gleichzeitig erinnern wollen.“41

In der regel verfügen nur wenige teilnehmer/-innen über persönliche Begegnungen mit dem Judentum. Dafür ist jedoch der Bezug zu den überlieferten Bildern von Juden – holocaust-Opfern, jüdischen Kommunisten oder israelischen soldaten – im Übermaß präsent. hinzu kommt der Umstand der nahezu vollständig fehlenden per-sönlichen Kontakte, dem eine unverhältnismäßige mediale Präsenz sowohl im historischen als auch im politischen Kontext gegenübersteht. Das anliegen dieser Übung ist die sensibilisierung der adressaten/-innen für die existenz und Wirksamkeit des latenten antisemitismus, aber auch die reflexion der eigenen haltung zu diesem thema.

ZIELGRUPPE UND SETTING:

Die Übung eignet sich zur auseinandersetzung mit aktuellem antisemitismus. häufig kommt es in den seminaren zu einer indifferenten resonanz auf die rollen. erst im zweiten schritt oder bei wiederholter nachfrage kann der zugang zu den spezifischen erfahrungen durch den rollenwechsel „freigemacht“ gemacht. Die anfänglichen re-aktionen auf die fremde rolle und auf die damit einhergehenden Gefühle ergeben sich zum einen aus der ganz selbstverständlichen „Blindheit“ für andere Perspektiven, zum anderen sind sie eine Folge der im seminar aufge-setzten Brille, die eventuell noch nicht ganz vertraut ist.

arbeitsform: stuhlkreis und ausreichend raum für die arbeit in Kleingruppen

Materialien: Je ein Merkmal für jede/n teilnehmer/in sowie visualisierte oder als arbeitsblatt ausgeteilte leitfragen

zeitumfang: 90 bis 120 Minuten je nach Gruppengröße und zeitkapazitäten ABLAUF

Schritt 1: Anleitung der Übung

Die seminarleitung verteilt die rollen an die teilnehmenden. Die aufgabe lautet: Das neue Merkmal soll für eine kurze und definierte zeit zum Bestandteil der eigenen Identität werden. Die Übung vollzieht sich in der einzelar-beit, in der Phase der Kleingruppenarbeit und anschließend im Plenum.

LISTE DER NEUEN ROLLEN (BEISPIELE) ÌIch BIn JUDe / JÜDIn

ÌMeIn/e Partner/In KOMMt aUs Israel

ÌMeIne tOchter WIll eInen JÜDIschen Mann heIraten Ì MeIn Mann / MeIne FraU Ist zUM JUDentUM ÜBerGetreten ÌMeIne OMa Ist IM Kz GestOrBen. sIe War JÜDIn

ÌMeIn/e Partner/In Ist JUDe

ÌMeIn/e cheF/In Ist eIn/e OrthODOXe/r JUDe/JÜDIn ÌIch BIn eIn JÜDIsche/r zUWanDer/In aUs rUsslanD ÌIch BIn zUM JUDentUM ÜBerGetreten

_______________

41 zitat aus dem schülerinterview. „Juden in Deutschland: selbst- und Fremdbilder. eine ausstellung von Jugendlichen für Jugendliche“. „Perspektivwechsel“, 2009, s. 33.

Ü

Schritt 2: Die Phase der Einzelarbeit

Die aufgabe der Beteiligten in dieser arbeitsphase besteht darin, sich auf die neue rolle einzustimmen. Folgende Fragen können helfen, eigene reaktionen, aber auch die eventuellen reaktionen des Umfeldes wahrzunehmen und zu reflektieren.

EINFÜHLUNGSFRAGEN:

ÌWie geht es Ihnen mit diesem neuen Merkmal?

ÌWas denken sie, wie würde Ihre Familie darauf reagieren?

ÌWas würden Ihre Freunde dazu sagen?

Ìrechnen sie eventuell mit veränderungen an Ihrem arbeitsplatz?

ÌWürde sich Ihre teilhabe am gesellschaftlichen leben dadurch verändern?

Schritt 3: Austausch in Kleingruppenarbeit

nach der Phase der einzelarbeit werden Kleingruppen gebildet. Ihr auftrag besteht darin, sich über die ausge-teilten Merkmale sowie über die damit einhergehenden Gedanken, Gefühle und veränderungen auszutauschen.

Schritt 4: Präsentation der Ergebnisse und Diskussion

Die Gruppen lösen sich auf, die jeweiligen rollen werden mittels einer körperlichen Bewegung oder eines anderen rituals verabschiedet. anschließend findet eine Plenumsdiskussion statt.

REFLEXIONS- UND AUSWERTUNGSFRAGEN:

ÌWie verlief der austausch in den arbeitsgruppen?

ÌKonnten sie Ihren zugang zu der Übung finden?

Ìvon welchen Gefühlen war die arbeit an der Übung begleitet?

ÌWelche aspekte konnten in den arbeitsgruppen reflektiert werden?

ÌWelche vorurteile gehen mit diesen Merkmalen einher?

Ìaus welchen Quellen haben sie das „Wissen“ über die rollen bezogen?

ÌWas waren die häufigen assoziationen zu den rollen?

ÌWelche Fragen zu den rollen sind offen geblieben?

DISKUSSION

„Was damals nicht wahrgenommen wurde, weil man es wahrhaben wollte, konnte später zu keinem Gegenstand der Erinnerung werden. Um mich an etwas erinnern zu wollen, brauche ich eine Gedächtnisspur. Um eine Gedächtnisspur zu haben, muss zuvor etwas wahrgenom-men und gespeichert worden sein.“ (Timm zitiert in Assmann, 2006, 47).

Die Wahrnehmung der Juden bleibt auf der ebene einer entpersonalisierten Begegnung, die sich eher im chat-raum, in zeitungen, Blogs und/oder anderen Medien ereignet. entsprechend fallen die in diesen Diskursen ver-wendeten Bilder aus: sie beschränken sich auf die shoah und den nahostkonflikt. vor diesem hintergrund werden zwangsläufig „alte“ Bilder von Juden aktiviert und neue vorurteile entwickelt, die den abgrenzungsprozess zwi-schen jüdizwi-schen und nicht jüdizwi-schen Deutzwi-schen zu verfestigen scheinen. Beim thema Juden trifft man in Deutsch-land auf Bilder statt auf konkrete Menschen.

Die Bearbeitung von Fragen zum antisemitismus ist eine komplexe aufgabe. Die mit dem thema verbundenen historischen, religiösen, politischen und sozialen Fragestellungen sind außerordentlich umfangreich und kompli-ziert; zugleich sind sie nicht mit der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit gleichzusetzen. vor diesem hintergrund besteht der pädagogisch-präventive auftrag vor allem darin, Motive und ausgangsbedingungen zu verstehen, die es immer noch ermöglichen, Juden als eine fremde Gruppe zu konstruieren.

Ü

angesichts der Kontinuität jüdischen lebens in Deutschland können Juden keiner bestimmten Migrationsgeschich-te zugeordnet werden und fallen damit aus dem „vertrauMigrationsgeschich-ten“ Deutsch-ausländer-Kontinuum heraus. Dennoch werden Juden als Andere konstruiert. Die trennung lässt sich zum Beispiel an der sprachlichen ambivalenz erken-nen, die einerseits die große vorsicht, andererseits jedoch die sprachliche „entgleisung“ zum tragen bringt. Die emotional aufgeladenen sprach- und reaktionsmuster auf jedes „jüdische thema“ lassen das Unbehagen an der Geschichte deutlich sichtbar werden (vgl. schneider, 2001).

Durch eine kurzzeitige Perspektivübernahme im seminarraum wird ein affektiver zugang – das empathische sich-hinein-versetzen in Andere ermöglicht. Das selbstreflexive hinterfragen der eigenen Position im hinblick auf den antisemitismus kann durch reflexive Fragen angeregt werden. Dabei steht die reflexion eigener sowie gesell-schaftsrelevanter vorstellungen von Juden und jüdischem leben in Deutschland im vordergrund.

Derartige Perspektivübernahmen stoßen jedoch erwiesenermaßen auf „natürliche“ Grenzen der fehlenden per-sönlichen erfahrung und Grenzen der eigenen Perspektivität. Jüdische Identität wird häufig in einer auffallend religiösen Form beschrieben („Juden gehen jeden Freitag in die synagoge“) oder gegebenenfalls wird der traditi-onelle bzw. kulturelle charakter der „jüdischen“ rollen gänzlich weg gelassen („…Die religion spielt für mich doch keine rolle“). nicht zu übersehen ist auch der versuch, die „jüdischen“ Merkmale vor anderen zu verstecken und diese absicht mit rationalen erklärungen zu rechtfertigen („Über mein Judentum muss doch nicht jeder Bescheid wissen“). zugleich wird ganz häufig betont, dass die hinter den rollen stehenden Personen, obwohl sie doch in Deutschland geboren sind, „gut integriert“ oder „gut angepasst“ seien.

hier spiegelt sich die spezifische Wahrnehmung des Jüdischen, die nicht primär antisemitisch, aber doch vorein-genommen sein kann. vielleicht sind deshalb die vorsichtig formulierten Meinungen zu „Juden“ so häufig wider-sprüchlich und wenig konsistent. zum einen sind diese Perspektiven ein bequemes Mittel zum erhalt eigener Iden-titätskonstruktionen, zum anderen ein ausdruck der Differenz, dem die vorstellung einer inneren homogenität und Fremdartigkeit von Juden zugrunde liegt.

Die beiläufige Differenzierung zwischen „Deutschem“ und „Jüdischem“ setzt Gruppenunterschiede voraus. Wer als Jude definiert wird, wird folglich nicht mehr als Individuum wahrgenommen, sondern nur noch als ein typischer Jude. verbunden werden diese Differenzierungen mit stereotypen annahmen und Bewertungen. sowohl im reli-giösen als auch im kulturellen sinne gilt das „Jüdische“ als das primäre Identitätsmerkmal der Juden. alle anderen Facetten, die nicht mit der jüdischen herkunft zusammenhängen, werden oftmals als zweitrangig wahrgenommen (vgl. schneider, 2001).

ausgehend von der „annahme der Differenz“ weist die akzentuierte Gleichsetzung der Juden mit Deutschen oder anderen nationalitäten auf das Bedürfnis hin, die vorhandene Distanz ergründen zu wollen. Indem beispielsweise die religiosität der Juden zum wesentlichen Maßstab ihrer angeblichen andersartigkeit stilisiert wird, werden Ju-den zu einer geschlossenen sozialen Kategorie, deren Mitglieder in der Fremdwahrnehmung per definitionem doch anders sind. Die Internalisierung der Differenz vollzieht sich vorwiegend unbemerkt. erfahrungsgemäß ist auch die strategie der Kontaktvermeidung kein aktiver vorgang, sondern der ausdruck einer historisch überlieferten, tief verwurzelten Differenzkonstruktion, die angesichts ihrer latenz angeblich keine besondere Beachtung erfordert.

Diese Differenzkonstruktionen markieren die Unterschiede zwischen den beiden „Gruppen“ und suchen nach le-gitimation im „tatsächlichen“ verhalten ihrer Mitglieder. auch wenn die annahme der Differenz womöglich nicht an sich als ideologischer antisemitismus gelten kann, ist sie doch ausdruck einer starren, historisch überlieferten abgrenzung zwischen Juden und nichtjuden, die nicht wertfrei, sondern eindeutig vorurteilsbehaftet ist.

Mit hilfe dieser Übung können persönliche Bezüge zum themengegenstand hergestellt werden, indem die eigenen rezeptionen der Geschichte im hinblick auf das „deutsch-jüdische verhältnis“ erkannt und reflektiert werden. ziel ist es, die Kontinuität des „verdeckten“ antisemitismus aufzuspüren und zu thematisieren. Dabei spielt die analyse tief verankerter Differenzmarkierungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen eine zentrale rolle42.

Literatur:

albert scherr / Barbara schäuble. „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“. ausgangsbedingungen und Perspektivengesellschaftlicher Bildungsarbeit gegen antisemitis-mus. amadeu antonio stiftung 2007.

Jens schneider. Deutsch sein. Das Eigene und das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland. Frankfurt/M. 2001.

andreas zick / Beate Küpper / andreas hövermann. Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminie-rung. Berlin 2011.

_______________

42 Mehr dazu in der Broschüre „Juden in Deutschland - selbst- und Fremdbilder. Pädagogisches Begleitmaterial zur schülerausstellung. Im archiv unter:

www.zwst-perspektivwechsel.de; „Perspektivwechsel - theorien, Praxis, reflexionen“.

Im Dokument Materialien Nr. 173 (Seite 93-96)