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3. Biographietheoretische Rahmung:

3.5 Datenerhebung: Narratives Interview

Ich habe acht narrative Interviews mit drei Frauen und fünf Männern geführt und elektronisch aufgezeichnet. Zwei der befragten Männer leiteten landwirtschaftliche Betriebe, ein Mann hatte sich dagegen entschieden. Ein weiterer Mann hatte sich gegen die Übernahme eines ehemaligen landwirtschaftlichen Betriebes entschieden, den sein Vater in einen Viehhandel umgewidmet hatte. Ein anderer Mann übernahm den landwirtschaftlichen Betrieb, verpachtete die Flächen und nutzte die Hofstelle als Standort eines kleinen Dienstleistungsunternehmens: Mit einer mobilen Saftpresse fuhr er auf Anfrage zu seinen Kunden, um ihr Obst zu verarbeiten. Eine Frau leitete einen handwerklichen Betriebe (Maler- und Lackierer), eine andere Frau leitete einen Garten- und Landschaftsbaubetrieb und eine weitere Frau leitete eine Reiterpension. Ihre Eltern hatten den ehemals landwirtschaftlichen Betrieb umgestellt. Kontakt zu den InterviewpartnerInnen habe ich über private und berufliche Bekanntschaften bekommen. Auch die oben erwähnten Personen, mit denen ich Vorgespräche über Generationswechsel in Familienbetrieben geführt habe, waren mir bei der Suche behilflich.

54 Die Globalanalyse basiert auf einer groben Sichtung des Interviewmaterials anhand der unten genannten fünf Auswertungsschritte.

Ich habe mich für diese Erhebungsmethode entschieden, weil Erzählungen eine ganz besondere Art von Daten sind, die häufig im Rahmen biographischer Forschungsansätze erhoben werden. Die Vertreter dieser Methode sehen darin die Möglichkeit, einen besonders umfassenden Zugang zur Erfahrungswelt der InterviewpartnerInnen zu bekommen, weil sie den Befragten Raum für eine ausführliche Erzählung bietet, ohne dass die dabei sich entwickelnde Gestalt durch vorab festgelegte Fragefolgen der Interviewerin zerstört würde. Diese Daten enthalten daher mehr Informationen, als einzeln abgefragte bzw. berichtete Tatsachenschnipsel und eignen sich zur Rekonstruktion der inneren Logik von (biographischen) Verläufen (Flick 1998: 116ff).

„Wenn wir rekonstruieren wollen, was Menschen im Laufe ihres Lebens erlebt haben, und wie dieses Erleben ihre heutige biographische Gesamtsicht bestimmt, das heißt, ihren heutigen Umgang mit ihrer Vergangenheit und ihre gegenwärtigen Handlungs-orientierungen konstitutiert, dann müssen wir Erinnerungsprozesse und deren sprachliche Übersetzung in Erzählungen hervorrufen“ (Rosenthal 1995: 205).

Ende der 70er Jahren entwickelte Fritz Schütze (1977, 1983, 1987) die Untersuchungs-methode des narrativen Interviews im Kontext einer Gemeindestudie. Die Methode wurde weiterentwickelt und ist inzwischen ein zentraler Bestandteil biographischer Forschungsansätze. Im Sinne dieser Methode habe ich zu Beginn der von mir geführten Interviews eine „erzählgenerierende Eingangsfrage“ gestellt: „Ich interessiere mich für die Lebensgeschichte von Menschen, die einen Familienbetrieb übernommen haben, oder hätten übernehmen können. Ich möchte Sie daher bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Ereignisse die Ihnen dazu einfallen. Sie können sich dazu soviel Zeit nehmen, wie Sie möchten. Ich werde Sie auch erst einmal nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen machen, und später noch einmal darauf zurückkommen“. Anschließend folgte eine mehr oder weniger umfangreiche Haupterzählung der InterviewpartnerInnen. Ich habe in dieser Phase möglichst wenig eingegriffen. Vielmehr habe ich aufmerksam zugehört und mich vor allem nicht bewertend zu dem Erzählten geäußert. Eine zustimmende Gestik und Mimik hat dies unterstrichen. Erst im Anschluss daran habe ich entlang der während der Haupterzählung notierten Stichpunkte erzählgenerierende Nachfragen gestellt.

„Erzählgenerierend“ bedeutet, dass die Antwort auf meine Frage möglichst im

Sprachmodus einer Erzählung formuliert werden sollte. Und die Art, in der eine Frage gestellt wird, hat einen wesentlichen Einfluss darauf. Besonders erfolgversprechend ist in dieser Hinsicht die Frage: „Und wie ging es dann weiter“? (Fischer-Rosenthal, Rosenthal 1997: 144). Außerdem könnte eine Lebensphase angesteuert und ein temporaler Rahmen eröffnet werden, z.B.: „Sie erwähnten Ihre Ehe, können Sie einmal erzählen, wie sie Ihren Mann kennengelernt haben, und wie sich die Beziehung zu ihm entwickelte bis Sie sich getrennt haben“. Oder die Frage kann eine vom Erzähler erwähnte Situation wieder aufgreifen: „Sie erwähnten vorhin den Tag Ihrer Meister-prüfung, können Sie mir noch einmal genauer erzählen, wie dieser Tag verlaufen ist?“

Eine besondere Herausforderung für die Interviewerin ist es, den Interviewpartner dazu anzuregen, eine Erzählung zu einem Argument zu präsentieren. Hat der Interviewer beispielsweise argumentiert, dass er keine gute Beziehung zu seinem älteren Bruder hatte, weil dieser sehr aggressiv gewesen sei, wäre eine vielversprechende Nachfrage:

„Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Ihr Bruder Ihnen gegenüber aggressiv war?“ Nachdem ich zu allen zunächst undeutlich gebliebenen oder besonders wichtigen Interviewpassagen Nachfragen in diesem Sinne gestellt habe, wurde das Interview mit einer Bilanzierungsphase abgeschlossen. Erst in dieser Phase habe ich auch abstraktere Fragen gestellt, die auf eine Bilanzierung der Geschichte abzielten, wie z.B.: Wie bewerten Sie diese Entscheidung im Nachhinein? Warum haben Sie das getan?

Zum Führen narrativer Interviews ist es wichtig, über „Kompetenzen der Gesprächs-führung“ zu verfügen (Rosenthal 1995: 186). Dazu gehört die Berücksichtigung des oben skizzierten „Prinzips der Offenheit“ sowie des ebenfalls oben erwähnten „Prinzips der Kommunikation“. Darüber hinaus entwirft Rosenthal (1995: 186-207) sieben gestalttheoretisch fundierte Prinzipien, die im narrativen Interviews berücksichtigt werden sollten: Die Interviewerin soll der befragten Person „Raum zur Gestalt-entwicklung“ geben. In diesem Sinne war ich bemüht, „die Regie bei der Gestaltung der Erzählung dem Biographen“ zu überlassen (Rosenthal 1995: 189). „Wie der Auto-biograph seine Präsentation gestaltet, worüber er erzählt, was er auslässt und in welche thematischen Felder er welche biographischen Erlebnisse einbettet, gibt uns Aufschluss über die Struktur seiner biographischen Selbstwahrnehmung und die Bedeutung seiner

Lebenserfahrungen“ (Rosenthal 1995: 193). Als weitere Prinzipien nennt Rosenthal die

„Förderung von Erinnerungsprozessen“, die „Förderung der Verbalisierung heikler Themenbereiche“, „eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung“,

„aufmerksames und aktives Zuhören“, „sensible und erzählgenerierende Nachfragen“

sowie „Hilfestellung beim szenischen Erinnern“. So weit wie möglich habe ich versucht, diese Prinzipien während der Interviewführung zu berücksichtigen. Besonders unterstützt wurde mein diesbezüglicher Anspruch dadurch, dass ich an Interviewer-schulungen bei Rosenthal teilnehmen konnte. Diese erfreuliche Erfahrung – die bezüglich der Auswertung der Interviews glücklicherweise in der „Forschungs-werkstatt55“ Fortsetzung fand – unterstützte mich nicht nur wesentlich bei der Entfaltung der erforderlichen kommunikativen Kompetenzen, sondern half mir darüber hinaus, die Kluft zwischen Methodenliteratur und Alltagsrealität empirischer Sozial-forschung zu überbrücken.

Erfreulicherweise hatte sich meine anfängliche Befürchtung, dass diese Interview-methode eine ganz besondere Form des Aushorchens ist – ich gehe zu den Interviewpartnern, nehme ihre Geschichte und gehe, ohne im Austausch etwas zu geben – nicht bestätigt56. Vielmehr entstand der Eindruck, dass sich die Befragten nach einer kleinen Unsicherheitsphase in Schwung redeten und eher gerne einer aufmerksamen Zuhörerin ihre Geschichte erzählten. Dabei traten auch schlimme und aufwühlende Themen zu Tage. Wir sind ihnen so offen wie möglich begegnet. Manchmal wurde eine Erzählung für eine Weile von Tränen unterbrochen. Es war mein Anspruch, die Befragten dabei zu begleiten, zum Abschluss des Interviews von bedrückenden Gefühlszuständen wieder Abstand zu bekommen. Um sie zu unterstützen, kam ich auf frohe Lebensphasen oder Erfolgserlebnisse zu sprechen. Nachdem ich das Aufnahmegerät ausgeschaltet hatte, haben wir noch ein wenig Small Talk ausgetauscht, der von der erzählten Lebensgeschichte wegführte. Es war mein Wunsch, dass wir uns langsam vom Interview verabschieden, um den dabei angeregten Gefühlen Zeit zu geben, zur Ruhe zu kommen.

55 Mehrmals im Semester diskutieren BiographieforscherInnen im Umfeld von Gabriele Rosenthal den jeweiligen Stand ihrer Arbeit.

56 Um zu erfahren, wie es sich anfühlt, Befragte in einem narrativen Interview zu sein, habe ich mich befragen lassen. Mein Kollegin Uta Engels war so freundlich, dieses Interview mit mir zu führen.

Wie oben angeklungen ist, werden im narrativen Interview drei Sprachmodi einer Darstellung unterschieden (Rosenthal 1995: 218). Erstens eine Erzählung: Sie ist nah am damaligen Geschehen. Die Biographin erzählt mit konkreten Ortsbezeichnungen, Zeitangaben, Angaben über die beteiligten Personen, die Rahmenbedingungen sowie die Position des Ichs in dieser Situation. Im Unterschied dazu drückt der zweite Sprachmodus – der Bericht – aus, dass sich die Sprecherin bereits weitgehend von den vergangenen Erlebnissen distanziert, dass sie die Position einer Beobachterin einnimmt und das Erlebte versachlicht. In einer Argumentation – dem dritten Sprachmodus – hat sich der Sprecher noch weiter vom damaligen Geschehen entfernt. Er versucht Abstand von dieser Sache zu bekommen, um sie nachträglich zu bewerten.

Schütze (1977) geht außerdem von der Grundannahme aus, dass jeder, der eine Geschichte erzählt, also nicht berichtet oder argumentiert, in seiner Erzählung dem tatsächlichen Verlauf des Geschehens folgen muss, wenn er in das Geschehen handelnd oder erlebend involviert war. Schütze benennt drei „Zugzwänge des Erzählens“,

„Kräfte, die sich aus dem Erzählen selbst erzählter Geschichten ergeben“, die dafür sorgen, dass erlebte Geschichten von Anfang bis zum Ende erzählt werden und die dadurch dafür sorgen, dass die Möglichkeiten des Verschweigens, der Schönfärberei oder der Täuschung beim Erzählen dieser Geschichte relativ gering sind: Der

„Zugzwang der Gestaltschließung“ sorgt dafür, dass der gesamte Geschehensablauf erzählt wird, dass Teilerzählungen nicht abgebrochen werden und dass das Thema einer Erzählung in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet wird. Der „Zugzwang der Kondensierung“ sorgt dafür, dass für die Erzählung die wichtigen Aspekte des Geschehens verdichtet und andere Aspekte weggelassen werden, sodass der Zuhörer die sogenannten „Ereignisknotenpunkte“ verstehen kann. Der „Zugzwang der Detaillierung“ sorgt außerdem dafür, dass die wesentlichen Punkte und der zeitliche Ablauf des Geschehens genannt werden. Auch wichtige Randbedingungen des Geschehens müssen angeführt werden, um beim Zuhörer Plausibilität zu erreichen.

Wenn der Interviewpartner den Sprachmodus der Erzählung verlässt, wertet Schütze dies als ein Indiz dafür, dass er entweder in das Geschehen von dem er spricht nicht

wirklich involviert war, oder dass er sich nicht erinnern möchte, oder auch, dass er vielleicht ein Täuschungsmanöver einleitet.

Bevor die Interpretation der Daten vertieft wurde, z.B. hinsichtlich der Frage, was es bedeutet, dass der Biograph in diesem oder jenem Sprachmodus spricht, mussten die elektronisch aufgezeichneten Daten transkribiert werden. Die Entscheidung darüber, welche Interviewteile in welcher Detailgenauigkeit verschriftlicht werden, wurde im Zusammenhang mit der im nächsten Kapitel dargelegten Entscheidung für eine bestimmte Analysemethode getroffen. Da ich, wie dort ausgeführt werden wird, „die Sequentialität der Produktion und Reproduktion sozialer Wirklichkeit im Gespräch“

(Hildenbrand 1999: 31) erfassen möchte, habe ich mich für eine sehr genaue Niederschrift entschieden und nicht nur aufgezeichnet, was gesprochen wurde, sondern auch, wie gesprochen wurde. Durch Transkriptionssymbole lässt sich an den so niedergelegten Texten z.B. auch erkennen, ob die Redebeiträge von Interviewerin und Biographin sich überlappen, ob die Biographin kurz im Reden absetzt oder längere Pausen macht. Darüber hinaus geben diese Texte Auskunft über Schnelligkeiten beim Sprechen, Betonung, Stimmlage und parasprachliche Äußerungen.