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Das Generationenkonzept

Im Dokument Textilzirkel in der DDR (Seite 75-87)

Obwohl das textil/künstlerische Interesse und die größtenteils positive Erinnerung an das textile Laienschaffen als Gemeinsamkeit der Befragten festgestellt werden kann, welches diese zu einer Erinnerungs- und Interes-sen-gemeinschaft verbindet, lassen sich gleichzeitig wesentliche Unter-schiede in Abhängigkeit zum Alter der Befragten feststellen. Die Erinnerung der einzelnen Personen an die Textilgestaltung in der DDR, das Agieren innerhalb dieser Gemeinschaft und der Umgang mit dem textilen Erbe nach der Wiedervereinigung ist dabei abhängig von dem Zeitpunkt, zu welchem die Beteiligten mit den textilen Aktivitäten begannen sowie von der Zugehö-rigkeit zu einer bestimmten Generation.178 Denn der Zeitpunkt des Beitritts in die Textilzirkelgemeinschaft und die Generationenzugehörigkeit stellen den sozialen Rahmen dar, innerhalb dessen die individuelle Erinnerung in einen kollektiven Zusammenhang gebracht und interpretiert wird. So hat die Textilgemeinschaft für die Beteiligten der ersten Textilzirkel eine andere Bedeutung als für jene der jüngeren Generation.

178 Generationen im eigentlichen Sinne sind nach Ahbe und Gries: „Gemeinschaften, die gemeinsa-me Überzeugungen, Wertvorstellungen und ‚vitale Akzente’ oder ‚Intensivseggemeinsa-mente’, die typische Lebensstile und einen generationstypischen Habitus teilen.“ Ahbe, Thomas & Gries, Rainer: „Gesell-schaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR.“ In: Ahbe, Gries & Schüle (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Per-spektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 475-571. Hier S. 485.

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Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Generationentypologie nach Thomas Ahbe und Rainer Gries179 sowie nach Bernd Lindner180. Ahbe und Gries unterscheiden sechs verschiedene, idealtypische 181 DDR-Generationen, nämlich:

Die Generation der misstrauischen Patriarchen (Jahrgang 1885 – 1918)

Die Aufbaugeneration (Jahrgang 1925 – 1935)

Die Funktionierende Generation (Jahrgang 1936 – 1948) Die Integrierte Generation (Jahrgang 1949 – 1959) Die Entgrenzte Generation (Jahrgang 1960 – 1972) Die Wende-Kinder (Jahrgang 1973 – 1985)

Da für die Auswertung der Interviews die erste und letzte Generation keine Rolle spielt, sollen diese hier ausgeklammert werden. Vor allem die vier Generationen, welche ihre Jugend und ihr Erwachsenenalter in der DDR erlebten, sind für die weiterführende Analyse relevant. Dementgegen nimmt Bernd Lindner eine Unterteilung in drei prägende Generationseinheiten vor, welche in ihrer groben Einteilung und Begrifflichkeit eng an dem Konzept von Ahbe und Gries liegen. Er unterscheidet:

Die Aufbaugeneration (Jahrgang um 1930 – ca. 1940) Die Integrierte Generation (Jahrgang um 1945 – 1960) Die Distanzierte Generation (Jahrgang 1961 – 1975)

Der wesentliche Unterschied bei Lindner besteht darin, dass er die bei Ahbe und Gries betitelte Funktionierende Generation nicht als separate Generati-oneneinheit auffasst, sondern diese in die angrenzenden Generationen einordnet. Die große Nähe der Funktionierenden Generation zur Aufbauge-neration (Nachkriegserfahrung und Agieren im Sinne der Politik bei gleich-zeitiger innerer Distanz) sowie die bei Ahbe und Gries beschriebene

179 Ebd. sowie Ahbe, Thomas & Gries, Rainer: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama. Erfurt 2011.

180 Lindner, Bernd: „‚Bau auf, Freie Deutsche Jugend’ - und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR." In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 187-216. Lindner, Bernd: "Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende - ein generationsspezifisches Analysemodell." In:

Schlegel, Uta & Förster, Peter (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger.

Opladen 1997, S. 23-37.

181 Die Idealtypen der Generationen sind verallgemeinerte Biografien, welche in ihrer Reinform so kaum auffindbar sind. Vielmehr muss nach Ahbe und Gries eine Auseinandersetzung und ein Abgleich mit jedem Einzelfall stattfinden, der mal mehr und mal weniger diesem Idealtyp ent-spricht. Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 491.

Funktion als „Brückengeneration“182 erklären, warum Lindner diese nicht als separate Generationeneinheit definiert. In seinem Modell fallen die Jahrgänge bis ca. 1940 noch in die Aufbaugeneration, während er die Jahr-gänge um 1945 bereits bei den Integrierten einordnet. Seiner Ansicht nach lässt sich die Grenze zwischen der Aufbaugeneration und der Integrierten Generation „entwicklungsbedingt leider nicht trennscharf bestimmen“, sodass die Generationen nahezu nahtlos ineinander übergehen würden.183 Die von ihm als Distanzierte Generation bezeichnete Einheit entspricht im Grunde genommen der Entgrenzten Generation bei Ahbe und Gries und unterscheidet sich vor allem in der Begrifflichkeit.184

Die Generationeneinteilungen verweisen auf die historischen und gesell-schaftlichen Umstände, durch welche die Generationen geprägt wurden.

Jede Generation zeichnet sich durch spezifische Eigenschaften und Verhal-tensweisen aus. Während Lindner stärker die besonders prägende Phase von Kindheit und Jugend fokussiert, gehen Ahbe und Gries in ihrer Generati-onenbetrachtung über das Jugendalter hinaus. Sie gehen explizit auf die Entwicklung und den generationsspezifischen Umgang mit der Wiederver-einigung ein, welcher jedoch auch bei Lindner anklingt. Im Hinblick auf die Textilgemeinschaften ist vor allem das Erwachsenenalter und die Entwick-lungen nach der Wiedervereinigung relevant. Zudem sind die Schilderungen der Generationeneinteilung bei Ahbe und Gries besonders prägnant. Mit Blick auf die geführten Interviews erscheint jedoch eine Einteilung entspre-chend dem Modell von Lindner als sinnvoll. Daher beziehen sich die folgen-den Ausführungen sowohl auf die Erläuterungen bei Lindner als auch bei Ahbe und Gries. Ihre Erkenntnisse stimmen weitestgehend überein bzw.

ergänzen sich gegenseitig.

Die Generationeneinteilung lässt sich auf das textile Laienschaffen übertra-gen. Die Erinnerungen an und das Agieren in der Textilgemeinschaft wurden wesentlich von den kulturpolitischen Rahmenbedingungen und Erfahrungen in der jeweiligen Zeit mitbestimmt. Die Einteilung in Generationen zielt vor

182 Laut Ahbe und Gries konnte die Funktionierende Generation als „Brückengeneration“ einerseits mit der Aufbaugeneration kooperieren und andererseits mit den folgenden, jüngeren Generationen besser umgehen als die älteren Generationen. Ahbe und Gries 2006, S. 518.

183 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 205, Fußnote 59.

184 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR. In einer früheren Publikation setzt Lindner die zeitliche Einteilung der drei Generationen noch etwas anders. Hier wird die Aufbaugeneration auf die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1949 und die integrierte Generation zwischen 1950 und 1960 festgelegt. Siehe hierzu Lindner 1997, Sozialisation und politische Kultur.

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allem auf den Erfahrungshorizont und weniger auf eine kalendarische Un-tergliederung. So erklären sich teils fließende Übergänge zwischen den definierten Generationen, wie bereits im Vergleich der beiden geschilderten Generationentheorien deutlich wird.185 Die Generationenunterteilung dient als Grundlage der Analyse der Schilderungen der InterviewpartnerInnen.

Hierdurch lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie die Zirkel in den jeweiligen Generationen funktionierten, inwiefern sie sich veränderten und wie die persönliche Bedeutung für die AkteurInnen im Kontext ihrer Generationen-zugehörigkeit variiert. Im Folgenden soll ein Überblick über die Generatio-nen und ihr Agieren im textilen Laienschaffen gegeben werden. Hierauf wird im folgenden Kapitel über die historische Entwicklung zurückgegriffen.

Die Aufbaugeneration (*um 1930 – ca. 1940)

Sie wurde geprägt durch die Kriegs- bzw. Nachkriegszeit in ihrer Kindheit und Jugend. Diese war gezeichnet von Zerstörung, Flucht, Vertreibung und Mangel im bzw. nach dem zweiten Weltkrieg. Mit dem Aufbau des neuen Staates in der Gründungsphase der DDR verbanden sie große Hoffnungen, weshalb sie sich aktiv daran beteiligten (daher Aufbaugeneration). In der DDR erlebten sie einen steigenden Wohlstand und sozialen Aufstieg durch das Wahrnehmen der Bildungsangebote in den 1950er und 60er Jahren.

Unter der Bedingung der politischen Positionierung für den Sozialismus wurde ihnen das Versprechen auf eine sichere Zukunft gegeben sowie die Chance auf sozialen Aufstieg mittels Bildung. Die ihnen ermöglichten Chan-cen resultierten in „ideologischem Wohlverhalten“, wobei sich die Meisten eher mit dem System arrangierten, als dass sie engagierte ParteigängerIn-nen waren.186 Sie passten sich dem politischen System an, wahrten gleich-zeitig jedoch eine innere Distanz. Anerkennung verschafften sie sich vor allem über Leistung und Erfolg. In den 1970er Jahren, mit der von Erich Honecker propagierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und dem damit steigenden Wohlstand, fühlten sie sich für ihre Mühen entlohnt. Mit dem Ende der DDR waren sie meist im Rentenalter und konnten vor allem von den neuen Möglichkeiten profitieren. Nach Ahbe und Gries ist diese

185 Zur Problematik der Einteilung von Generationen nach Jahreszahlen siehe Bohnenkamp, Björn:

„Vom Zählen und Erzählen. Generationen als Effekt von Kulturtechniken.“ In: Bohnenkamp, Man-ning & Silies (Hg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmus-ter. Göttingen 2009, S. 72-88. Bohnenkamp verweist auf die fließenden Übergänge von

Generationen, die v.a. durch bestimmte Erfahrungen geprägt sind, und die Problematik der kalen-darischen Einteilung.

186 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 201-204. Zitiert S. 204.

Generation am engsten verbunden mit der DDR, da wesentliche Parallelen zwischen der Lebensentwicklung und der Entwicklung der DDR – Aufstieg, Stabilisierung und Zerfall – festzustellen sind.187 „Ausdauernd, arbeitend, freilich aber niemals rebellisch, versuchte der größte Teil von ihnen im alltäglichen Leben die Balance zwischen Eigensinn, Anstand und Vernunft einerseits und Disziplin und Konformismus andererseits zu finden.“188 Die befragten Textilzirkelmitglieder der Aufbaugeneration beginnen ihre Aktivitäten in den späten 1950er und 1960er Jahren. Die Nachkriegszeit war oftmals verbunden mit Hindernissen in der schulischen Ausbildung und dem Erlernen des Wunschberufes. Die Tätigkeit in den Textilzirkeln bietet ihnen die Möglichkeit, nach dem erfahrenen Mangel der Nachkriegszeit, ein materielles Bedürfnis durch das Gestalten schöner Dinge zu befriedigen.

Viele von ihnen kommen zunächst als einfache Zirkelmitglieder hinzu. Durch den Bedarf an anleitenden Kräften können sie Ausbildungs- und Aufstiegs-chancen in diesem Bereich nutzen und werden selbst zu ZirkelleiterInnen.

Verhältnismäßig viele von ihnen werden so im Kulturbetrieb hauptberuflich oder als ehrenamtlich arbeitende Hausfrauen tätig. Als solche sind sie we-sentlich am kulturellen Aufbau der neuen Gesellschaft beteiligt und legen den Grundstein für die Textilzirkel sowie deren Ausbau und Verbreitung.

Diese Generation ist entscheidend an der textilen Ausbildung der folgenden beiden Generationen beteiligt. Sie sind geprägt von einem starken Zusam-mengehörigkeitsgefühl und identifizieren sich besonders stark mit der Gruppe sowie den vermittelten Werten von kollektiver Gemeinschaft und gesellschaftlicher Verantwortung. Die Tätigkeit sowie die damit verbundene öffentliche Bestätigung verleiht ihnen zunehmendes Selbstvertrauen außer-halb des familiären Umfeldes. Nach der Wiedervereinigung sind viele von ihnen bereits in Rente, sodass sie ihre Zeit und Energie in den Erhalt der Textilgruppen investieren können. Da diese einen wesentlichen und um-fangreichen Teil ihres Lebens ausgemacht haben, ist ihnen die Anerkennung dieser Leistungen besonders wichtig. Die textile Gemeinschaft fungiert zudem als sozialer Anker und Beschäftigungsmöglichkeit in der Umbruch-phase sowie im Alter. Diejenigen, die 1990 noch im Berufsleben stehen reagieren wiederum – im Sinne der bei Ahbe und Gries beschriebenen funk-tionierenden Generation – pragmatisch auf die neuen Gegebenheiten.

187 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 502-518.

188 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 512.

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Die Integrierte Generation (*um 1945 – 1960)

Sie repräsentiert die erste in der DDR aufgewachsene Generation. Keine andere Generation sei integrierter in das Staatssystem gewesen als diese.189 Ihre Erziehung wurde geprägt durch die Personen der Aufbaugeneration, deren Werte sie übernahmen. Sie profitierten von der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik Honeckers nach 1971. Als diese Generation Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre „die jugendtypische Formierung mora-lischer und politischer Grundüberzeugungen durchliefen, befand sich die DDR auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen, politischen und moralischen Reputation.“190 Dies führte zu einer besonderen Identifikation mit der DDR und deren sozialistischen Werten und Idealen auf gesellschaftlicher Ebene.

Zudem sei ihnen „ein Gefühl des Gebraucht- und Gefördertwerdens“ vermit-telt worden.191 Gleichzeitig stieg durch die wachsende Bedeutung und Ver-fügbarkeit elektronischer Medien der Einfluss des Westens, dessen Stile übernommen wurden. Dies führte zu einem „mentalen Bruch“ mit der El-terngeneration, welcher sich „in der Art, wie die Integrierte Generation Individualismus, Selbstreflexivität und Hedonismus erprobte, zeigte“.192 Damit verbunden war ein kultureller Bruch mit der DDR der 1950er und 60er Jahre und ein Wandel wesentlicher Grundwerte der DDR-Gesellschaft.

Zur Zeit der Wiedervereinigung sind sie zwischen 30 und 45 Jahre alt und stehen noch am Anfang oder der Mitte ihrer beruflichen Karriere. Die Ver-änderungen waren für sie enorm und mit erheblichen Anpassungsleistun-gen verbunden. Viele VertreterInnen dieser Generation wagten den Schritt in die Selbstständigkeit und wurden Teil einer „ostdeutschen Gründerwel-le“.193

Die befragten Textilzirkelmitglieder der Integrierten Generation beginnen ihre Tätigkeit im textilen Laienschaffen in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Sie treten in einer Zeit bei, als das Zirkelsystem bereits etabliert und ausgebaut ist. Im Gegensatz zur Aufbaugeneration sind sie nicht vom Kriegsende geprägt und können beispielsweise in der Berufswahl von dem etablierten Ausbildungssystem profitieren. Zusätzlich hierzu können sie die

189 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 205.

190 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532f. Hierauf ver-weist auch Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 206. Dies zeigt wie eng die Analysen von Ahbe und Gries sowie Lindner beieinander liegen.

191 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S.205-209. Zitiert S. 206.

192 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532f. Zitiert S. 533.

193 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 544f.

Möglichkeiten im künstlerischen Volksschaffen nutzen – nun jedoch vor allem auf nebenberuflicher Ebene. Das textile Schaffen hat sich seinen Platz im künstlerischen Volksschaffen zu dieser Zeit bereits behauptet. Nun kön-nen sie von den etablierten Möglichkeiten wie der Spezialschule für Textil-gestaltung profitieren. Auch gibt es bereits diversere, teils offenere Formen der Beteiligung, zum Beispiel als Einzelschaffende oder Fördergruppenmit-glied. Stärker als die vorherige Generation entwickelt diese eigene Ansprü-che und EntfaltungswünsAnsprü-che, agiert weniger konform und stärker eigensinnig. So treten neben den kollektiven Werten die individuellen Inte-ressen vermehrt in den Vordergrund, müssen verhandelt und abgewägt werden. Gerade bei den Beteiligten der Leistungsspitze etabliert sich der Wunsch nach Professionalisierung, der teils unterbunden, teils über Umwe-ge möglich wird. Hier äußert sich bereits der zuneh-mende Wunsch nach Individualismus und eigenen Lebensstilen, die im Rahmen der etablierten Ordnung umzusetzen versucht werden. Auch materielle und finanzielle Interessen treten stärker in den Vordergrund. Im künstlerischen Schaffen wird der Einfluss westlicher Stile und professioneller Kunst zentraler. Nach der Wiedervereinigung kann diese Generation besonders von den tex-til/künstlerischen Kenntnissen profitieren und sie zur beruflichen Neuori-entierung nutzen. Dadurch entwickeln sich neue textil/künstlerische Angebote im soziokulturellen Bereich194 unabhängig von den vorherigen Gruppen. Viele von ihnen bleiben zudem mit ihren textilen Verbündeten in Kontakt. Treibende Kraft hierbei ist jedoch oft die Aufbaugeneration.

Die Distanzierte Generation (*1961 – 1975)

Sie erlebte ihre Kindheit nach dem Mauerbau. Sie kam zwischen Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der DDR ins Jugendalter hinein und befreite sich innerlich „aus den alten Zwängen“.195 Sie ist die letzte Generation, welche Schule und Ausbildung größtenteils noch vollständig in der DDR absolvierte.

Diese Generation war weitestgehend entpolitisiert, modern und vor allem am Konsum westlicher Kultur interessiert.196 Ein neuer Fokus wurde auf das

194 „Unter Soziokultur verstand man die Summe der sozialen, politischen und gesellschaftlichen Bedürfnisse und Interessen einer Gruppe von Menschen, die sich in Vereinigungen, Zentren und Initiativen zusammenfinden. Es entwickelte sich im Laufe der Zeit ein eigenes Profil der soziokultu-rellen Zentren in den neuen Bundesländern.“ Großmann, Ulf: „Soviel Anfang war nie – Kulturpolitik nach der ‚Wende’. Entwicklung der kulturellen Infrastruktur in den alten und neuen Bundeslän-dern.“ In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. (Hg.): Transformatorische Kulturpolitik (Jahrbuch für Kulturpolitik 2015/16 Band 15). Bielefeld 2016, S. 97-106. Hier S. 102f.

195 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 209.

196 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 545f.

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Ausleben individueller Lebensentwürfe gelegt, wodurch die Lebensverläufe stärker als in den vorherigen Generationen entstandardisiert wurden. Dies führte nach Ahbe und Gries „zu Sozialbeziehungen, die auf neue Art und Weise geknüpft wurden, weiterhin zu entgrenzten Konsumbedürfnissen und zu dem gesteigerten Anspruch, das eigene Leben nach ureigensten Entwür-fen zu gestalten.“197 Somit setzte sich der Wertewandel hinsichtlich der Lebensweise der jungen Erwachsenen fort. Sie strebten nach „individuellem Wohlstand, kultureller (Szenen-) Vielfalt und geistigem Freiraum“, wie Lindner verdeutlicht. Die Orientierung auf Mode, Luxus und Geselligkeit seien laut ihm Reaktionen auf die Defizite des DDR-Alltags gewesen.198 Diese Generation erfuhr eine Art Doppelleben aus offiziellem politischen Diskurs einerseits und privaten Freiräumen andererseits, was zu einer Entfremdung von der DDR und ihren Grundsätzen führte.199 Die Ausreise- und Fluchtbe-wegung in den 1980er Jahren rekrutierte sich vielfach aus dieser Generati-on.200 Der Mauerfall kam für sie zu einem guten Zeitpunkt, da „die Anstrengungen einer beruflichen (Neu)-etablierung“ gut vereinbar waren mit den in dieser Lebensphase typischen Umbrüchen nach Schule und Aus-bildung.201 Zudem hatten sie kaum Schwierigkeiten, sich im neuen System zu etablieren, da sie bereits mit der westlichen Kultur vertraut waren und keine Berührungsängste bestanden.202 Erst rückblickend entwickelte sich bei ihnen eine nostalgische Erinnerung der DDR als Ort ihrer Kindheit und Jugend.203

Die befragten Textilzirkelmitglieder dieser Generation beginnen in den späten 1970er und 1980er Jahren, oft bereits im Kindes- oder Jugendalter, die Zirkelaktivitäten und sind dann insbesondere in der Spätphase der DDR als junge Erwachsene aktiv. Hier wird der steigende Einfluss der westlichen Kultur besonders deutlich – vor allem in den zu dieser Zeit populären Mode-gruppen. Bei dieser Generation zeigt sich mitunter ein direkter Einfluss der Zirkeltätigkeit auf die spätere Berufswahl. Nach der Wiedervereinigung konzentrieren sie sich auf ihren persönlichen Werdegang. Die neuen gesell-schaftlichen Anforderungen und Möglichkeiten (berufliche Orientierung, Umzug, Konsummöglichkeiten etc.) sowie die fehlende staatliche Förderung

197 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 547.

198 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 210.

199 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 550-553.

200 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 188.

201 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 548.

202 Ebd.

203 Ahbe & Gries 2006, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 555.

begünstigen das Auseinanderfallen der Gemeinschaft. In dieser Generation zeigt sich somit eine weniger langfristige Gruppenbindung und Identifikati-on mit den Idealen der Textilzirkel. Diejenigen, die einen Beruf im Textilbe-reich erlernten oder besondere Ambitionen aufwiesen, blieben dem Textilen meist auf beruflicher Ebene treu. Diejenigen, welche die Tätigkeit als reines Hobby nebenbei ausübten, geben dieses scheinbar auf oder praktizieren es auf rein privater, nicht öffentlicher Ebene.

Lindner fasst den Generationenunterschied wie folgt zusammen: Während sich die erste Generation durch eine aktive Beteiligung am Aufbau des neuen Staates auszeichnete, war die zweite Generation geprägt von einem anhal-tenden Mitmachen trotz langsam aufkommender Zweifel. Die dritte Genera-tion wiederum vollzog zunächst eine innere, dann zunehmend auch physische Distanzierung vom DDR-Staat.204 Wie Lindner in einem Aufsatz von 1997 aufzeigt und die Typologien von Ahbe und Gries bestätigen, ver-weist die Generationenabfolge nicht nur auf einen Wandel der ostdeutschen Gesellschaft auf politischer und sozialer Ebene, sondern auch im kulturellen Bereich. So lässt sich nach Lindner der kulturelle Wandel der DDR als Pro-zess von der kulturellen Abgrenzung (1955 – 1965) über die kulturelle Anverwandlung westlicher Kultur (1965 – 1975) bis hin zur direkten Über-nahme dieser (1975 – 1990) beschreiben. Die jugendkulturelle Entwicklung der DDR stelle somit einen Prozess der selektiven, verzögerten Modernisie-rung dar.205 Die folgende Auswertungstabelle veranschaulicht die Generati-onenzugehörigkeit der InterviewpartnerInnen und gibt einen stichpunkt-artigen Überblick ihrer Biografie.

204 Lindner 2003, Jugendgenerationen der DDR, S. 188.

205 Lindner 1997, Sozialisation und politische Kultur, S. 31-34.

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Name *-Jahr kindliche PrägungBerufswunschHindernisBerufsweg & Textiltigkeit DDRZirkeleintritt & Grundtigkeit nach 1990Ahbe & Gries

Lind ner RP1926Mutter Handarbeiten; Vater kunst/handwerklich interessiert; Interesse an Zeichnen & Handarbeiten im Unterricht; durch Kindertheater Beziehung zu Kostümen

Modeschule/ Kostümbildnerin fehlendes Ausbildungsgeld in Nachkriegszeit Schneiderlehre; Tanzausbildung; Volkstanzensemble; Beendigung der Tätigkeit mit Geburt des Sohnes; Spezialschule (1960er); Zirkelleitung nach Geburt & Ende im Volkstanzensemble Suche nach Bescftigung Rentnerin; Anleitung v. Kunst/handwerklichen Kursen; Kontakt zu einzelnen Gruppenmitgliedern & Mitglied Textilwerkstatt

Aufba

JL1929Interesse an Kunst; Sammeln von Kunstbttern; guter Kunstunterricht; Unterstzung der Mutter in Kunstinteresse; künstlerisch begabte Freundin Innenarchitektur keinen Studienplatz bekommen (Grund Ostdtl.: Selbstständigkeit des Vaters; Westdt.: Kriegsheimkehrer vorrangig Studienplatz)

JL1929Interesse an Kunst; Sammeln von Kunstbttern; guter Kunstunterricht; Unterstzung der Mutter in Kunstinteresse; künstlerisch begabte Freundin Innenarchitektur keinen Studienplatz bekommen (Grund Ostdtl.: Selbstständigkeit des Vaters; Westdt.: Kriegsheimkehrer vorrangig Studienplatz)

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