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Teil II: Theoretische Analyse

5 Darstellung der deutschen Bankenlandschaft

5.2 Kreditgenossenschaften

5.2.1 Das deutsche Genossenschaftswesen

Historisch betrachtet haben die Genossenschaften weltweit eine lange Tra dition.90 In Deutschland sind die Genossenschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts ent-standen.91 Dabei fand die Gründung der ersten Genossenschaften durch zwei Per-sonen unabhängig voneinander statt. Initiatoren des Genossenschaftswesens waren Schulze-Delitzsch und Raiffeisen, welche als Gründer der ersten Genossenschaften für Handwerker und Landwirte gelten. Im Jahr 1847 entstand durch Initiative von Friedrich Wilhelm Raiffeisen der erste Verein zum Beistand der Not leidenden ländlichen Bürgerschaft. Während der Hungersnot rief er einen Brotverein in Le-ben, in dem er Brot für die Hilfsbedürftigen backen ließ. Im Jahr 1864 initiierte er schließlich mit dem Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein die erste ländliche Kreditgenossenschaft. Hermann Schulze-Delitzsch gründete 1849 Rohstoffasso-ziationen für Tischler und für Schuhmacher, da er die Hilfe des Staates ablehnte.

Dieser Zusammenschluss diente der Erlangung von Preisvorteilen durch gemeinsa-me Beschaffung von Rohstoffen, ohne dass die Mitglieder ihre wirtschaftliche Selb-ständigkeit aufgeben mussten. Kurz darauf entstanden die Vorgänger der heutigen Kreditgenossenschaften durch die Gründung der Vorschussvereine (BVR, 2011).

Unter rechtlichen Gesichtspunkten existiert die Rechtsform der Genossen-schaft seit über 100 Jahren. Rechtliche Grundlage ist das GenossenGenossen-schaftsgesetz (GenG) vom 20. Mai 1889, welches durch das Bundesgesetz vom 9. Oktober 1973 geändert wurde. Im Jahr 2006 wurde das GenG nochmals einer grundlegenden Reform unterzogen. Nach §1 GenG sind Genossenschaften „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb

90 In der Literatur wird unter historischen Gesichtspunkten zwischen traditionalen (12–

18. Jhd.) und modernen Genossenschaften (19.–21. Jhd.) unterschieden. Der zeitliche Übergang von der traditionalen zur modernen Genossenschaft, welcher bis dato noch nicht vollendet ist, vollzieht sich dabei nicht als Bruch. Es handelt sich vielmehr um einen langfristigen Prozess, welcher durch zeitversetztes Einsetzen der Industrialisie-rung in Europa ebenfalls unterschiedliche Übergangszeiten zur Folge hatte (Kluge, 2007).

91 In Europa existiert hinsichtlich der Entwicklung der Genossenschaften keine Ein-heitlichkeit. Die Philosophie ist von stark von nationalen Aspekten geprägt (DGRV, 2010d). Gemäß Zerche et al. (1998) existiert eine Vielfalt der Ideen und Akzente der genossenschaftlichen Wirtschaftsform, welche sich hinsichtlich der genossenschaftli-chen Prinzipien in unterschiedligenossenschaftli-chen Selbstverständnissen und Schwerpunkten zeigt.

So unterscheidet die politische Neutralität die Genossenschaften von bspw. Deutsch-land, den Niederlanden, Griechenland etc. von politisch orientierten Genossenschaften in u. a. Belgien und Italien.

oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern [...]“. Die normativen Ge-nossenschaftsprinzipien geben den eingetragenen Genossenschaften (eG) „or-ganisatorische Regelungen vor, die sich an den genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung ausrichten“ (Zerche et al., 1998, S. 10). Eine Niederschrift dieser Prinzipien ist in den Satzungen, Gesellschaftsverträgen und Organisationsregeln zu finden (Zerche et al., 1998).

Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist die Genossenschaft eine Form der Funktionsauslagerung, wobei die Mitglieder ihre individuelle Selbständigkeit er-halten und das Gemeinschaftsunternehmen nach den Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung organisiert wird (DGRV, 2010c). Das Prinzip der Selbsthilfe beinhaltet, dass die Mitglieder einer Genossenschaft sich freiwillig zusammenschließen, um gemeinsam zu wirtschaften. Dabei soll die wirtschaftliche Förderung aller Mitglieder aus eigener Kraft und nicht durch Un-terstützung Dritter bzw. des Staates gelingen. Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung kommen darin zum Ausdruck, dass eine Genossenschaft von Personen geführt wird, die selbst Mitglied der Ge-nossenschaft sind. Insofern sind etwa der Vorstand und der Aufsichtsrat einer Genossenschaft aus dem eigenen Mitgliederkreis zu besetzen. Die Mitglied schaft begründet nicht nur die Rechtsform der „eingetragenen Genossenschaft“ (eG), sie gibt der Kreditgenossenschaft zugleich den konkreten Auftrag der Mitglie-derförderung und dem Mitglied ein Mitbestimmungsrecht. Dies unterscheidet Kreditgenossenschaften von allen anderen Kreditinstituten (DGRV, 2010a).

Theorie der Genossenschaften

Nach erfolgter Beschreibung der Entstehungsgeschichte wird nachfolgend die Genossenschaftstheorie betrachtet.

Hinsichtlich der Form der Genossenschaft existieren Vor- und Nachteile. Kräkel (2010) führt als Gründe für die Existenz von Genossenschaften die „Verhinderung negativer externer Effekte92 und die „Sicherung von Quasi-Renten“93 an. Zentralisie-rungs- und Dezentralisierungsvorteile haben die Genossenschaften ihrer hybriden 92 Bsp. Gründung einer Genossenschaft zur Qualitätssicherung der Produkte. Durch Qualitätskontrollen werden negative externe Effekte verhindert (Kräkel, 2010). Siehe auch Abschnitt 4.1.3.

93 Dies betrifft überwiegend Verwertungsgenossenschaften. Quasi-Renten bezeichnen

„die Differenz aus dem Wert einer transaktionsspezifischen Investition in der aktuellen Verwendung abzüglich ihres Wertes in der nächstbesten Verwendung“ (Kräkel, 2010, S. 355).

Organisationsform94 zuzuschreiben. Diese bietet durch den Zusammenschluss vie-ler kleiner Nachfrager eine größere Marktmacht zur Erzielung günstiger Konditio-nen. Gleichfalls betreiben die einzelnen Genossen Geschäfte auf eigene Rechnung, wodurch Leistungsanreize und effiziente Entscheidungen möglich sind. Demnach sind auch die ursprünglichen Leistungsanreize des Unternehmertums gegeben (Kräkel, 2010). Organisationsprobleme von Genossenschaften sind gemäß Kräkel (2010) in den Punkten der Überbeanspruchung gemeinsamer Ressourcen, Tritt-brettfahrerproblemen, Mehraktionenproblematiken, Problemen aufgrund hoher Gegenwartspräferenzen, heterogenen Zielen, Mehrprinzipal-Problematiken und Koalitionen zu finden. Er kommt hierbei zu dem Schluss, dass die Genossenschaften in bestimmten Wirtschaftsbereichen (z. B. in der Landwirtschaft) charakteristische Stärken besitzen und in ihrer Form der Unternehmung dominieren. In unmittel-barem Wettstreit zu anderen Organisationsformen stehen die Genossenschaften hingegen in einigen Wirtschaftsbereichen z. B. in der vorliegenden Arbeit die Kre-ditgenossenschaften mit den Sparkassen oder Privatbanken.

Mit der Frage der Eigenarten der Genossenschaften und der Abgrenzung der Genossenschaften von erwerbswirtschaftlichen Unternehmen beschäftigt sich die moderne Genossenschaftstheorie (Fehl, 2007). In der Literatur wird die Frage der Genossenschaft als Unternehmungstyp diskutiert. Damit in Bezug auf Genos-senschaften von einer eigenen Unternehmensform gesprochen werden kann, be-darf es präziser Abgrenzungskriterien (Hettlage, 1987), auf welche im Folgenden eingegangen wird. Zur Abgrenzung der Genossenschaften über den genannten

§1 GenG hinaus lässt sich eine Vielzahl an weiteren Merkmalen der Genossen-schaft nennen (Stork, 2007). Die wissenGenossen-schaftliche Diskussion der Frage der Ab-grenzung zu anderen Unternehmensformen gelangt zu folgenden Erkenntnissen:

• Nach Hettlage (1987) werden „je nach Blickpunkt, Interesse und Methode die Aspekte der Personenvereinigung, des Gemeinschaftsbetriebes, des Förde-rungsverbandes, der Kooperationsgesinnung oder der demokratischen Orga-nisation […] in den Vordergrund gehoben“ (Hettlage, 1987, S. 184).

• Bestimmend für die Eigenart des Unternehmenstyps der Genossenschaft ist nach Zerche et al. (1998) das Wirtschaften nach den Wesensprinzipien: För-der-, Identitäts- und Demokratieprinzip.

94 Der genossenschaftliche FinanzVerbund (Abschnitt 5.2.2) ist in die Rubrik der Netz-werke zu kategorisieren. Als hybride Organisationsform ist er in „einem Kontinuum zwischen Markt und Hierarchie als Organisation mit hybriden Strukturen tätig“ (Eim, 2007, S. 231).

• Dülfer (1995) grenzt die Genossenschaften anhand der Merkmale: Personen-gruppe95, Gruppenmäßige Selbsthilfe96, Organbetrieb97 und Förderungs-Ver-bund98 ab, wobei Genossenschaften alle Merkmale gleichzeitig erfüllen.99

• Nach Theurl (2004) sind die Merkmale neuer Genossenschaften ein spezifi-sches Konzept, Kontinuität, Konsistenz, Kooperation, Kompetenz und eine bestimmte Kultur.

• Robotka (1955) konstatiert, dass sich Mitgliederunternehmungen durch die Eigenschaft der Verbundenheit von anderen Unternehmensgruppen unter-scheiden. Durch die horizontale und vertikale Integration von gemeinsamen Aufgaben entsteht eine „Entscheidungen fällende und zugleich alle Risiken tragende neue Einheit“ (Robotka, 1955, S. 164) aus den Mitgliederunterneh-mungen.

• Nach Draheim (1954; 1952) stellt die Genossenschaft aufgrund des Identi-tätsprinzips und des Förderauftrages ein selbständiges Wirtschaftsgebilde mit eigenem Wirtschaftsstil dar (Unternehmung „sui generis“). Im Vergleich zu anderen erwerbswirtschaftlichen Unternehmungen weist die Genossenschaft die Besonderheit der „Doppelnatur“ auf: Sie verfolgt auf der einen Seite öko-nomische Ziele durch das Agieren als Wirtschaftsunternehmung am Markt, während der Zusammenschluss der Mitglieder nicht ausschließlich aus öko-nomisch-rationalen Gründen stattfindet.

95 Bewusster Zusammenschluss mehrerer Personen, die durch mindestens ein gemein-sames Interesse verbunden sind.

96 Gruppenmitglieder beabsichtigen die Verfolgung der gemeinsamen Ziele unter Verbes-serung ihrer wirtschaftlichen Lage durch gemeinsame Aktionen und/oder gegenseitige Unterstützung.

97 Gruppenmitglieder bedienen sich dazu einer gemeinsam errichteten und/oder un-terhaltenen Betriebswirtschaft zur Herstellung oder Bereitstellung von Sach- oder Dienstleistungen.

98 Der Selbsthilfeabsicht entsprechend steht der Organbetrieb mit den Mitgliederwirt-schaften in einem Leistungsverbund, in dem er für diese betriebliche Funktionen er-füllt.

99 Das Merkmal der Kooperation alleine grenzt die Genossenschaften noch nicht von anderen Formen der Unternehmung ab. Nach Dülfer (1995; 1983) ist für das Koope-rativ seitens des Gesetzgebers die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft (eG) implementiert worden. Gleichwohl kann es in weiteren Rechtsformen, wie z. B. der Aktiengesellschaft (AG) oder der GmbH & Co KG betrieben werden. Diese Ansicht findet sich auch bei Zerche et al. (1998). Demnach können auch Unternehmen anderer Rechtsformen zum Genossenschaftssektor gehören. Derzeit existieren in Deutschland schon Kooperative in nicht-genossenschaftlicher Rechtsform (Dülfer, 1995).

• Das Identitätsprinzip, bei welchem die Mitglieder gleichzeitig die Rolle der Kunden und der Lieferanten innehaben, wird in der Literatur als hervorzuhe-bendes Merkmal der Genossenschaften konstatiert (Eschenburg, 1972), dies unterscheidet diese von anderen Kooperativen (DGRV, 2011).

Abbildung 9: Grundprinzipien des Genossenschaftswesens

Quelle: Tolkmitt (2007, S. 63).

Abbildung 9 zeigt ergänzend eine Übersicht der in der Literatur genannten Diffe-renzierungsmerkmale in Form der Grundprinzipien des Genossenschaftswesens.