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1.1.1 Historischer Überblick

Bereits im 16. Jahrhundert benutzte der Alchimist Paracelsus (1493-1541) den Begriff „Cho-rea“ (griech. „choreia“, Tanz), um die für Chorea Huntington (Huntington Disease; HD) symptomatischen tanzartigen und unkoordinierten Bewegungen zu beschreiben. Ein Jahrhun-dert später beschrieb der englische Arzt Thomas Sydenham die von ihm benannte „Chorea Minor“. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Komplikation des rheumatischen Fiebers und nicht um eine angeborene, vererbte Krankheit wie bei der HD. Die in der folgenden Ar-beit im Zentrum stehende erbliche Form der HD wurde erst 1872 durch George Huntingtons Veröffentlichung „On Chorea“ im „Medical and Surgical Reporter“ bekannt (Hunting-ton, 1872). Er vermutete als Erster, die HD sei eine eigene Krankheitsentität. Als Haupt-merkmale beschrieb er die Vererbung, die Neigung zu Geisteskrankheit und zum Suizid so-wie die Manifestation im Erwachsenenalter. Der Gendefekt, der zur HD führt, wurde 1983 auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4 beim Menschen lokalisiert. Erst 1993 konnte das bei der HD veränderte Huntingtin-Gen isoliert werden (Huntington’s Disease Collaborative Research Group, 1993).

1.1.2 Epidemiologie, Genetik und Todesursachen

HD ist eine mit vollständiger Penetranz autosomal dominant vererbte, chronisch neurodege-nerative Erkrankung. Neumutationen sind äußerst selten. Bei maximal 3 % der Patienten mit einer gesicherten HD liegt eine Neumutation vor. HD betrifft Männer wie auch Frauen glei-chermaßen und bricht meistens im mittleren Alter zwischen 35 und 40 Jahren aus (Ridley et al., 1991). Nur 4,5 % der HD-Patienten erkranken vor ihrem 20. Lebensjahr. Nach dem 60. Lebensjahr erkranken 8 % (Walker et al., 1981). Die Prävalenz der HD liegt bei Mitteleu-ropäern bei 40-80 Betroffenen pro 1 Mio. Einwohner. Ausnahmen mit einer niedrigeren Inzi-denz stellen Japaner (4:1 Mio.), Finnen (5:1 Mio.) und Afrikaner (6:1 Mio.) dar (Har-per, 1992).

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Pathogenetisch ist eine Mutation des IT-15-Gens mit einer verlängerten Cytosin-Adenosin-Guanin (CAG)-Trinukleotid-Sequenz identifiziert worden. Das Gen befindet sich auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 (4p16.3) und kodiert für ein Protein-Produkt namens Hunting-tin. Exprimiert wird es sowohl im Zentralnervensystem (ZNS) als auch im restlichen Körper (Sharp et al., 1995; Luthi-Carter et al., 2002). Das (CAG)n-Repeat des Huntingtin-Gens ko-diert für die Aminosäure „Glutamin“, so dass man bei der HD auch von einer Polyglutami-nerkrankung spricht. Das Protein Huntingtin findet man in intranukleären Aggregaten zu-sammen mit z.B. Hitzeschockproteinen und Ubiquitin in striatalen Neuronen von HD-Patienten. Entscheidend für die Manifestation eines HD-Phänotyps ist das Vorhandensein von n > 37 CAG-Repeats, was eine höhere Repeatzahl bei HD-Patienten im Vergleich zur Nor-malbevölkerung darstellt (Harper et al., 1996). Nachgewiesen ist, dass steigende Repeatzahlen mit einem früheren Erkrankungsbeginn korrelieren. Telenius et al. (1993) stellten in ihrer Un-tersuchung bei Patienten mit juveniler HD (Erkrankungsbeginn < 20 Jahre) CAG-Repeat-Zahlen von bis zu 120 fest. Zur Frage, ob eine höhere Anzahl an CAG-Repeat-Sequenzen einen schwereren Krankheitsverlauf zur Folge hat, gibt es widersprüchliche Ergebnisse. Eini-ge Studien stellen einen Zusammenhang fest (Currier et al., 1982; van Dijk et al., 1986;

Myers et al., 1991; Illarioshkin et al., 1994; Brandt et al., 1996; Jason et al., 1997; Penney et al., 1997; Foroud et al., 1999), andere nicht (Kieburtz et al., 1994; Feigin et al., 1995; Siesling et al., 1998; Marder et al., 2000). Ebenfalls keine eindeutige Korrelation in Bezug auf die Re-peatanzahl fand man bei anderen Merkmalen der HD, wie neurologischen bzw. psychiatri-schen Symptomen oder auch neuropathologipsychiatri-schen Befunden (zur Übersicht siehe Harper et al., 1996).

Häufigste Todesursachen bei HD-Patienten stellen Pneumonien (42 %), kardiovaskuläre Ereignisse (33 %) und Suizid (6 %) dar (Haines und Conneally, 1986). Die HD scheint von selbst nicht tödlich zu sein, jedoch führt die von der Krankheit verursachte Kombination von Immobilität, Auszehrung und Aspirationsneigung zu einer höheren Anfälligkeit für Infektio-nen und damit zum Tod (Harper, 1996). Die Überlebenszeit, gemessen vom Krankheitsbe-ginn, beträgt etwa 10-17 Jahre. Das Todesalter liegt zwischen 51 und 57 Jahren (Har-per, 1996). Zurzeit ist keine kurative Therapie der stets letal verlaufenden Krankheit bekannt.

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1.1.3 Klinische Symptomatik

Die Hauptsymptome der HD lassen sich mit der „klassischen“ Trias aus Bewegungsstörung (choreatische, unfreiwillige, hyperkinetische Bewegungen), organischer Wesensänderung (psychiatrische Auffälligkeiten wie Depressionen und Schizophrenie) und kognitiven Leis-tungseinbußen (Demenz) beschreiben (Garron, 1973; Antal et al., 2003). Auffälligstes und häufigstes Merkmal der HD ist sicherlich die choreatiforme Bewegungsstörung, die der Krankheit ihren Namen gab. Die World Federation of Neurology beschreibt die Chorea als exzessive, spontane, völlig zufällig einsetzende und stoppende Bewegung, deren Ausmaß von verstärktem Gestikulieren bis hin zu schleudernden Bewegungen reichen kann (Barbeau et al., 1981). Dabei sind die Bewegungen immer subjektiv ungewollt. Im frühen Stadium der Krankheit sind die choreatiformen Bewegungen oft noch willkürlich zu unterdrücken und imponieren häufig nur als betonte Gesten bzw. werden durch willkürliche Bewegungen als Gesten kaschiert (Parakinese). Üblicherweise betreffen die choreatischen Bewegungen den ganzen Körper, was an Armen und Händen zu Feinmotorikstörungen und Ungeschicklichkeit führt. An der unteren Extremität ist der tänzelnde, unsichere Gang die Folge. Die Bewegungs-störung kann jedoch auch völlig fehlen und muss nicht schon zu Beginn der Krankheit vor-handen sein (Harper, 1996). Meistens gehen emotionale Störungen und psychiatrische We-sensänderungen diesen Krankheitszeichen um Jahre voraus (Weindl et al., 1996). Ferner ist der diagnostische Wert der choreatiformen Bewegungen durch das Vorkommen bei diversen anderen Erkrankungen gemindert.

Während die choreatischen Bewegungen gegen Mitte der Krankheit ein Plateau erreichen (Folstein et al., 1983), nimmt die Einschränkung der willkürlichen Bewegungen mit der Zeit zu (Penney et al., 1990). Im späteren Krankheitsverlauf gehen die choreatiformen Bewegun-gen zurück und weichen sogar einer Hypokinese oder einem Rigor.

1.1.4 Neuropathologie

Bei Patienten mit HD findet sich neuropathologisch eine Degeneration von Nervenzellen im ZNS, ganz überwiegend in den Basalganglien Corpus caudatum, Nucleus subthalamicus und Putamen. Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit zeigt sich meist eine frontal betonte kortikale Atrophie (Martin und Gusella, 1986). Makroskopisch imponiert dies durch eine Verbreiterung der Sulci, einer Verkleinerung der Gyri und einer Reduktion der

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hirnmasse. Welcher Mechanismus die selektive und progressive Zelldestruktion verursacht und aufrechterhält ist bisher unklar und Gegenstand momentaner Forschungsprojekte.

1.1.5 Diagnostische Methoden

Traditionell wurde die Diagnose einer HD klinisch durch eine positive Familienanamnese, progrediente Störungen der willkürlichen und unwillkürlichen Motorik und/oder durch psy-chiatrische Auffälligkeiten gestellt. Mit Hilfe der Computertomographie (CT) lassen sich heu-te jedoch zusätzlich die Basalganglienatrophien darsheu-tellen. Des Weiheu-teren kann durch Positro-nen-Emissions-Tomographie ein reduzierter Glukose-Stoffwechsel im Nukleus caudatus sich-tbar gemacht werden, bevor ein Zellverlust im CT oder in der Magnetresonanztomographie (MRT) nachzuweisen ist (Kuwert et al., 1989). Trotz dieser Kriterien belaufen sich sowohl falsch-positive als auch falsch-negative Fehldiagnosen auf etwa 10 %. Einen definitiven Aus-schluss oder Nachweis der HD bietet selbst im Frühstadium die DNA-Analyse. Eine CAG-Repeat-Anzahl von mehr als 38 Einheiten im Huntingtin-Gen ist beweisend für die Erkran-kung (von Hörsten et al., 2003).

1.1.6 Therapie

Bis heute steht weder eine ursächliche Therapie zur Verfügung, noch lässt sich der Krank-heitsverlauf beeinflussen. Um die Lebensqualität der HD-Patienten zu verbessern, wird ver-sucht, durch verschiedene Therapieansätze die Symptome der Krankheit zu mildern. Zur Mo-bilitätserhaltung kommen schon in frühen Krankheitsstadien nichtmedikamentöse Maßnah-men wie Krankengymnastik oder Ergotherapie zum Einsatz. Auch die psychosoziale Betreu-ung der Patienten ist ein wichtiger Teil der Therapie. Der Tendenz zu Kachexie, deren Ursa-che bisher nicht bekannt ist, sollte mit einer hochkalorisUrsa-chen Ernährung begegnet werden. Ist der Patient durch die Symptomatik jedoch stark behindert, sollte mit der pharmakologischen Therapie begonnen werden. Je nach Beschwerden werden Medikamente, die sich gegen Cho-rea, Rigor, Depression oder Psychose richten, eingesetzt (Tyler et al., 1998).

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