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Calvinismus und Reformiertentum im Heiligen Römischen Reich

1. Einführung

Das deutsche Reformiertentum hat das Luthertum mit dem Augsburger Be-kenntnis zur Voraussetzung. In dieser Entstehungsprämisse liegt ein wichti-ger Unterschied, der die Entwicklung im Reich von den calvinistischen Kir-chen und Gemeinden in der Schweiz, in Frankreich und in den Niederlanden abhebt. Die reformierten Fürsten und Magistrate mit ihren Theologen und Juristen begriffen ihren Konfessionsstand gemeinhin nicht – wie in Westeu-ropa – als Bruch mit dem bisherigen Kirchenwesen, sondern als Weiterent-wicklung der lutherischen Tradition im Sinne einer Höherqualifizierung von Lehre und Kirchenorganisation. Vom westeuropäischen Calvinismus unter-schied sich das deutsche Reformiertentum theologisch durch das weitgehen-de Fehlen weitgehen-der Präweitgehen-destinationslehre (vor allem im Heiweitgehen-delberger Katechismus), organisatorisch durch das landesherrliche Kirchenregiment, allerdings mit teilweise beträchtlichen synodal-presbyterialen Elementen1. Die deutschen Reformierten bezeichneten sich selbst nicht als Calvinisten – »Calvinistae«,

»Calviner« war vor allem eine polemische Fremdbezeichnung, deren sich die konkurrierenden Großkonfessionen bedienten, um die eigene Glaubensge-meinschaft deutlich von der reformierten Konfession abzugrenzen.

Calvinismus bzw. Reformiertentum blieb im Heiligen Römischen Reich eine deutliche Minderheitskonfession – um 1600 lassen sich von etwa 16 Mil-lionen Einwohnern des Reiches ca. 1 Million dem Reformiertentum zurech-nen (davon 300.000 bis 400.000 allein in der Kurpfalz und weitere 200.000

1 Allgemein zum deutschen Reformiertentum vgl. Henry J. COHN, The Territorial Princes in Germany’s Second Reformation, 1559–1622, in: Menna PRESTWICH (Hg.), International Cal-vinism 1541–1715, Oxford 1985, S. 135–165; Heinz SCHILLING (Hg.), Die reformierte Kon-fessionalisierung in Deutschland. Das Problem der »Zweiten Reformation«, Gütersloh 1986;

Meinrad SCHAAB (Hg.), Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993; Johannes MERZ, Cal-vinismus im Territorialstaat? Zur Begriffs- und Traditionsbildung in der deutschen Histori-ographie, in: ZBLG 57 (1994), S. 45–68; Werner TROSSBACH, Volkskultur und Gewissensnot.

Zum Bilderstreit in der »zweiten Reformation«, in: ZHF 23 (1996), S. 473–500; Philip BENE

-DICT, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven / Lon-don 2002; Eike WOLGAST, Reformierte Territorien und Dynastien im Alten Reich, in: Ansgar REISS / Sabine WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Aus stellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco-Bibliothek Emden, Dresden 2009, S. 204–212. Vgl. auch E. F. Karl MÜLLER (Hg.), Die Bekenntnisschrif-ten der reformierBekenntnisschrif-ten Kirche, Leipzig 1903 (ND Zürich 1987).

in Hessen-Kassel)2. Das Reformiertentum wurde im Reich repräsentiert durch reichsständische Territorien und Städte, aber auch durch Einzelperso-nen, Einzelfamilien, Einzelgemeinden, städtische Minderheiten und Flücht-lingsgemeinden. Ihre zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber Katholiken und Lutheranern glichen die Reformierten durch besondere politische Akti-YLWlWDXV(LQHQHUVWHQ+|KHSXQNWHUUHLFKWHQGLHVH$NWLYLWlWHQ௘௘DOV sich nach der Pfalz mit Sachsen ein zweites Kurfürstentum dem Calvinis-mus zuwandte. Schon 1586, nach dem Regierungsantritt Christians I., hatte der Pfälzer Kuradministrator Johann Casimir unter den Punkten, die er mit seinem Freund verhandeln wollte, notiert: »Union en la religion« und Verbot aller Schmähschriften. »Dadurch geben mir den Bapisten zu erkennen, das wir einander fur glieder in Christo erkennen«3, was bisher kaum je gesche-hen war. 1591 gelang es der Pfalz, mit Sachsen, dem sich Brandenburg und andere lutherische Reichsstände anschlossen, die Torgauer Union zu verein-baren. Damit hatten die evangelischen Stände – mit dem Kern der beiden reformierten Kurfürstentümer – erstmals seit dem Schmalkaldischen Bund 1531 ein scheinbar schlagkräftiges Instrument zur Wahrung und Durchset-zung ihrer Interessen geschaffen. Nach dem Tod Christians I. im Oktober 1591, dem der Tod Johann Casimirs im Januar 1592 folgte, löste sich die Union jedoch wieder auf. Welche Hoffnungen damit für die reformierte Par-tei versanken, beschrieb Abraham Scultetus, der frühere Heidelberger Theo-loge und damalige Pfarrer in Emden im Rückblick 1624: »Quid nos igitur?

Aureum saeculum imaginabamur. Stultissime«! Innerhalb eines Jahres seien der sächsische Kurfürst, der Pfälzer Administrator und der hessische Land-graf gestorben; kurz darauf habe der französische König durch seine Konver-sion die wahre Religion verraten4.

2. Die reformierten Fürsten, Territorien und Städte5

Zum ersten reformierten Territorium des Reiches wurde die Kurpfalz, in der das deutsche Reformiertentum als Bestandteil des internationalen

Cal-2 Zahlenangaben nach BENEDICT, Churches, S. 224f. und 589f., Anm. 38.

3 Friedrich von BEZOLD (Hg.), Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir mit verwandten Schrift-stücken, Bd. 2, München 1884, S. 355f.

4 Vgl. Gustav Adolf BENRATH (Hg.), Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hof-predigers Abraham Scultetus (1566–1624), Karlsruhe 1966, S. 30.

5 Im Folgenden kann es nur darum gehen, einen kompakten Überblick zu geben; ausgeklam-mert bleibt die Entwicklung in den habsburgischen Gebieten sowie in Schlesien. Auch die Li ter aturangaben erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Vgl. allgemein Anton SCHINDLING / Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Kon fessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 7 Bde., Münster 1989–1997; BENEDICT, Churches, S. 202–229.

vinismus mit eigener Dogmatik, Zeremonialordnung und Kirchenverfassung begründet wurde6. Von der Fläche und der Geschlossenheit des Territori-ums her weit weniger eindrucksvoll als Sachsen und Brandenburg, war die Pfalz nach der Reichsverfassung der vornehmste weltliche Kurstand, Rich-ter des Kaisers und mit Sachsen Reichsvikar während des InRich-terregnums. In der Pfalz war erst von Kurfürst Ottheinrich (1556–1559) definitiv die Re-formation eingeführt worden – der Zustand der ungeordneten Vorreforma-tion hatte fast vier Jahrzehnte gedauert, außer im Nebenland Oberpfalz, in dem sich das Luthertum schon seit den dreißiger Jahren etabliert hatte. In der unteren Pfalz fehlte dagegen bei Beginn der reformierten Reformation ein längerer lutherischer Vorlauf. Friedrich III. (1559–1576) führte nach intensi-vem Bibelstudium und unter dem Eindruck des Heidelberger Abendmahls-streits ab 1560 in seinem Land eine zweite Reformation durch – 1563 wurden die Kirchenordnung und der Heidelberger Katechismus publiziert. Die Pfalz blieb während der Regierungszeit Friedrichs III. der einzige evange lische Reichsstand mit vom Luthertum abweichendem Bekenntnis. Ihre konfessio-nelle Sonderstellung wurde allerdings – nach der Phase einer Relutheranisie-rung unter Ludwig VI. (1576–1583), die der Kuradministrator Johann Casi-mir beendete – um die Jahrhundertwende noch zweimal gefährdet: 1592, als nach dem Tod Johann Casimirs der lutherische Pfalzgraf Reichard von Sim-mern die Vormundschaft für Friedrich IV. beanspruchte, und 1610, als dem luthe rischen Pfalzgrafen von Neuburg Philipp Ludwig die Vormundschaft für den vierzehnjährigen Friedrich V. zukam. 1592 erklärte sich Friedrich IV.

für volljährig und wehrte damit die Vormundschaftsansprüche ab; 1610 wur-de entgegen wur-der Erbfolge und wur-der Golwur-denen Bulle wur-der reformierte Pfalz-graf Johann II. von Zweibrücken mit Vormundschaft und Regentschaft be-traut. Die Kurpfalz konnte daher weiterhin Rückhalt für alle reformierten und übertrittsbereiten Fürsten und zugleich die Anführerin der antihabsbur-gischen Partei im Reich bleiben.

Gegen Ende der siebziger Jahre – und damit gerade während der luthe-rischen Zwischenphase in der Pfalz – wandten sich mehrere kleinere Reichs-stände dem Reformiertentum zu, vor allem 1578 Nassau-Dillenburg7 und

6 Zur Kurpfalz vgl. Volker PRESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbe-hörden der Kurpfalz 1559–1619, Stuttgart 1970; SCHINDLING / ZIEGLER, Kurpfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: Dies., Territorien, Bd. 5, S. 8–49; Eike WOLGAST, Reformierte Kon-fession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformations-zeitalter, Heidelberg 1998; die kirchenordnenden Texte in: EKO 14 (Nachtrag in EKO 19 / 2, S. 675–973).

7 Zu Nassau-Dillenburg und den anderen reformierten Grafschaften vgl. Georg SCHMIDT, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Refor-mation und Westfälischem Frieden, Marburg 1989; ders., Die zweite ReforRefor-mation in den Reichsgrafschaften. Konfessionswechsel aus Glaubensüberzeugung und aus politischem

Kal-Pfalz-Zweibrücken8. Andere Grafen in den Gebieten zwischen der Pfalz und den Niederlanden (Wetterau, Westerwald, Niederrhein) folgten im nächs-ten Jahrzehnt (darunter Bentheim-Tecklenburg9, Sayn-Wittgenstein, Solms-Braunfels, Hanau-Münzenberg). Die Grafschaft Wied hatte schon 1564 den Heidelberger Katechismus übernommen und 1575 eine synodal verfasste Kir-che organisiert. Die Führungsfigur der calvinistisKir-chen Grafen war Johann VI.

von Nassau-Dillenburg (1560–1606), der ältere Bruder Wilhelms von Orani-en, der zusammen mit Konrad von Solms-Braunfels (1581–1592) und Lud-wig I. von Sayn-Wittgenstein (1560–1605) das Westerwälder »Triumvirat«10 bildete. Einen genuinen Machtfaktor stellten die Grafschaften zwar nicht dar, die Grafen waren aber für die größeren reformierten Länder zur Besetzung von Hof- und Verwaltungsämtern wichtig.

Folgten die Grafschaften offensichtlich dem konfessionellen Vorbild der Pfalz, verliefen andere Entwicklungen im Reich eigenständig. Das traf vor allem auf die Grafschaft Ostfriesland zu11. Dank der traditionell starken Au-tonomie der Einzelgemeinden konnte in Emden frühzeitig eine evange lische Theologie, die konfessionell nicht festgelegt war, Fuß fassen. 1543 wurde Johannes a Lasco von der Regentin Anna zum Superintendenten bestellt, 1544 ein Kirchenrat und ein Coetus der Prediger eingerichtet. Bei

Einfüh-rung des Interims wich a Lasco nach London aus, kehrte aber 1553 zurück.

1554 erschien der unter seiner Mitwirkung erarbeitete Emder Katechismus, der auf der Theologie Melanchthons und Bucers basierte. In der Folgezeit verstärkten sich die reformierten Tendenzen, 1567 gab sich Emden eine Kir-chenordnung. Spätestens mit der Berufung von Menso Alting, der aus der Heidelberger Theologenschule kam, vollzog sich in den siebziger Jahren in Emden endgültig der Übergang zum Reformiertentum. Der kirchliche Zwie- VSDOW]ZLVFKHQGHPOXWKHULVFKHQ*UDIHQ(G]DUG,,௘௘±XQGVHL-QHPUHIRUPLHUWHQ%UXGHU-RKDQQ௘௘±HUOHLFKWHUWHGLHNLUFKOLFKH Eigenentwicklung in Emden. Als Edzard II. nach Übernahme der Alleinre-gierung versuchte, das Luthertum in der Grafschaft durchzusetzen, schei-terte er und musste in der Konsequenz auf sein ius reformandi und das

lan-kül?, in: SCHAAB, Territorialstaat, S. 97–136. Zu Nassau-Dillenburg vgl. auch Paul MÜNCH, Nas-sau, Ottonische Linien, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 4, S. 235–252.

8 Zu Pfalz-Zweibrücken vgl. Paul WARMBRUNN, Pfalz-Zweibrücken, Zweibrückische Nebenlinien, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 6, S. 170–197; EKO 18, S. 21–444.

9 Zu Bentheim-Tecklenburg vgl. Thomas ROHM / Anton SCHINDLING, Tecklenburg, Bentheim, Steinfurt, Rügen, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 3, S. 182–198.

10 SCHMIDT, Grafenverein, S. 45.

11 Zu Ostfriesland und Emden vgl. Menno SMID, Ostfriesland, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 3, S. 162–181; Heinz SCHILLING, Die »Emder Revolution« als europäisches Ereignis, in:

Hajo van LENGEN (Hg.), Die »Emder Revolution« von 1595, Aurich 1995, S. 113–136; Chris-toph STROHM (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europä-ischer Reformator, Tübingen 2000; REISS / WITT, Calvinismus, S. 264–268. Vgl. EKO 7 / 2,1, S. 307–724.

desherrliche Kirchenregiment zugunsten der kirchlichen Selbständigkeit der Gemeinden verzichten. Ostfriesland wurde bikonfessionell: Landesweit waren die zwei Arten von »exercitio, meinung und verstand Augustanae Confessionis«12 zugelassen, so dass in der Folgezeit in Ostfriesland refor-mierte Gemeinden, v. a. Emden mit den umliegenden Orten im Westen des Territoriums, unter einem lutherischen Landesherrn bestanden. Die Gleich-berechtigung von Reformierten und Lutheranern wurde 1611 im Osterhuser Akkord bestätigt, als Garantiemacht traten die Generalstaaten auf.

Die Reichsstadt Bremen weigerte sich 1577, die Konkordienformel zu un-terschreiben und damit ihren traditionellen Philippismus aufzugeben13. Be-drängt durch den lutherischen Erzbischof, durch Dänemark und die Hanse, suchte die Stadt Anschluss an die niederländischen Reformierten. Die theo-logische Entwicklung fand 1595 ihren Abschluss im Consensus Bremensis, dessen Grundlage das Bekenntnis der Dillenburger Synode von 1578 bildete.

1600 wurde der Heidelberger Katechismus eingeführt.

Für das Fürstentum Anhalt14 ist hier nur festzuhalten, dass sich in der Re-JLHUXQJV]HLW YRQ -RKDQQ *HRUJ ±௘௘ DOOPlKOLFK GHU hEHUJDQJ vom Luthertum zum Calvinismus vollzog. Das sogenannte Reformations-werk (Abschaffung der Bilder und Altäre, Brotbrechen, Verbot der latei-QLVFKHQ *HVlQJH bQGHUXQJ GHU =HKQ *HERWH ZXUGH ௘௘ HLQJHIKUW 1596 feierte Johann Georg erstmals öffentlich das Abendmahl nach

refor-miertem Ritus. Als gemeinsame Lehr- und Ordnungsgrundlage dienten seit der Landesteilung 1603 die Schriften Fürst Georgs III. von Anhalt, die Con-fessio Augustana Variata, der Heidelberger Katechismus und die Pfälzer Kirchenordnung von 1563.

Wichtiger als Anhalt wurde für den politischen Calvinismus des Reiches die Landgrafschaft Hessen15. Schon auf Wilhelm IV. von Niederhessen

(Hes-12 Ebd., S. 422.

13 Zu Bremen vgl. Hans-Georg ASCHOFF, Bremen, Erzstift und Stadt, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 3, S. 44–57; Irene DINGEL, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskus-sionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996, S. 352–412; Jürgen MOLTMANN, Christoph Pezel (1539–1604) und der Calvinismus in Bremen, Bremen 1958.

14 Vgl. den Beitrag von Heiner LÜCK, Calvinismus und Reformiertes Bekenntnis als Existenz-grundlagen für den Staat? Betrachtungen zur frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte An-halts, in diesem Band. Vgl. Franz SCHRADER, Anhalt, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 2, S. 88–101; EKO 2, S. 530–541; Hermann WÄSCHKE, Geschichte Anhalts im Zeitalter der Reformation, Köthen 1913, S. 471–476; Georg SCHMIDT, Die Fürsten von Anhalt – reformierte Konfessionalisierung und überkonfessionelle Einheitsbestrebungen?, in: Evangelische Lan-deskirche Anhalt (Hg.), Reformation in Anhalt. Melanchthon – Fürst Georg III., Dessau 1997, S. 66–76.

15 Zu Hessen vgl. Gerhard MENK, Absolutistisches Wollen und verfremdete Wirklichkeit – der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels, in: SCHAAB, Territorialstaat, S. 164–238; ders. (Hg.), Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, Marburg 2000;

Manfred RUDERSDORF, Hessen, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Territorien, Bd. 4, S. 254–288.

sen-Kassel) (1567–1592) hatten die deutschen Reformierten große Hoffnun-gen gesetzt; allerdings nahm der Landgraf, um die kirchliche Einheit mit den anderen Landesteilen (Marburg, Darmstadt, Rheinfels) nicht zu gefähr-den, keine auffälligen Veränderungen im Gottesdienstablauf vor. Sein Sohn Moritz (1592–1627) hatte dagegen seine Neigung zum Reformiertentum so deutlich sichtbar werden lassen, dass es 1604 bei der Teilung von Oberhessen (Marburg) zum offenen Streit mit dem lutherischen Landgrafen Georg von Hessen-Darmstadt kam, der das ganze Erbe beanspruchte, weil es nach dem Testament des letzten Marburger Regenten lutherisch bleiben sollte. Nach der dennoch erfolgten Teilung führte Moritz in seinem Herrschaftsgebiet 1605 die sogenannten Verbesserungspunkte ein: Aufnahme des Bilderverbots in die Zehn Gebote, fractio panis, Abschaffung der Bilder, Verbot der abstrak-ten Dispute über die Person Christi (gegen die Ubiquitätslehre). In den nächs-ten Jahren engagierte sich der Landgraf wie kein anderer reformierter Fürst persönlich in Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit unter seinen Unterta-nen und bei Überprüfung der Pfarrer, die den Rückhalt des lutherischen Wi-derstands bildeten. Seine politischen Pläne auf Wiederherstellung der alten Landgrafschaft scheiterten allerdings so eklatant, dass Moritz 1627 abdankte.

Die Grafschaft Lippe war das letzte Territorium des Reiches, das sich dem Reformiertentum anschloss16. Der im Geist des Philippismus erzogene Graf Simon II. (1579–1613) wandte sich Anfang der neunziger Jahre dem refor-mierten Bekenntnis zu. Da er vorsichtig taktierte und nur mit Einzelregelun-gen vorging, dauerte der Prozess der konfessionellen Umorientierung seines Landes verhältnismäßig lange, wobei Simon II. vom Adel gegen die wider-strebenden Städte und Ortschaften unterstützt wurde. Die erste öffentliche Abendmahlsfeier des Hofes nach reformiertem Ritus fand 1605 statt, der Hei-delberger Katechismus wurde erst 1618 eingeführt. Die größte Stadt des Ter-ritoriums, Lemgo, widersetzte sich der Veränderung allerdings erfolgreich und verteidigte ihren bisherigen lutherischen Bekenntnisstand.

In der Reichsstadt Colmar war erst 1575 die Reformation offiziell einge-führt worden17. Da sie vom Philippismus geprägt war, lehnte die Stadt die Unterschrift unter die Konkordienformel ab und wandte sich allmählich dem Reformiertentum zu – ab 1600 wurden die Kirchen- und Schulstellen syste-matisch mit Reformierten besetzt; zu ihnen zählte auch Ambrosius Socinus, der in Basel und Heidelberg studiert hatte und nach 21-jährigem Pfarrdienst 1599 die Markgrafschaft Baden-Durlach verlassen musste, weil er sich

be-16 Zu Lippe vgl. Heinz SCHILLING, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Graf-schaft Lippe, Gütersloh 1981; Ernst BÖHME, Lippe, Schaumburg, in: SCHINDLING / ZIEGLER, Ter-ritorien, Bd. 6, S. 152–168.

17 Zu Colmar vgl. Kaspar VON GREYERZ, The late city reformation in Germany. The case of Col-mar 1522–1628, Wiesbaden 1980, S. 124–154.

harrlich weigerte, die Konkordienformel zu unterschreiben. Der Calvinis-mus in Colmar wurde jedoch 1628 durch die Gegenreformation vernichtet, die Wiederherstellung des evangelischen Kirchenwesens nach der schwe-dischen Eroberung 1632 erfolgte dann im Zeichen des Luthertums.

Die Flüchtlingskirchen und Fremdengemeinden auf dem Boden des Hei-ligen Römischen Reiches waren schon von ihrer Herkunft her reformiert geprägt18. Sie definierten sich, wie es im Protokoll der Emder Synode von 1571 hieß, als »Ecclesia[e] Belgica[e], quae sub cruce sunt et per Germaniam et Phrisiam dispersae«19. Ihre Zentren lagen am Niederrhein, insbesondere in dem konfessionell gemischten Herzogtum Jülich-Kleve-Berg und in Ost-friesland. Auch in verschiedenen Reichsstädten, so in Frankfurt am Main, gab es für kürzere oder längere Zeit Flüchtlingsgemeinden, die ihre eige-nen Strukturen und theologischen Vorstellungen bewahrten oder entwickel-ten. Die Emder Synode von 1571, die von 29 Vertretern der niederländischen Exilgemeinden sowie aus den Niederlanden selbst beschickt wurde, erklär-te den Genfer Kaerklär-techismus (für die französischsprachigen Kirchen) und den Heidelberger Katechismus (für die deutschsprachigen Kirchen) zur Bekennt-nisgrundlage und orientierte sich für die Organisation am Kirchenaufbau der französischen Protestanten. In Aachen und Köln gab es zeitweise einhei-mische reformierte Minderheiten.

Einzelpersönlichkeiten, die vom Luthertum zum Calvinismus übergingen, stammten vor allem aus der Gruppe der Juristen und Geistlichen; als Proto-typ für reformierte Adelsfamilien in einem lutherischen Territorium sind die Burggrafen zu Dohna im Herzogtum Preußen und die von Knesebeck in der Mark Brandenburg zu nennen20.

Wie die Situation des deutschen Calvinismus am Vorabend des Dreißig-jährigen Krieges international wahrgenommen wurde, lassen die Einladun-gen zur Dordrechter Synode 1618 erkennen. Aus dem Reich wurden zur Teil-nahme aufgefordert – und damit als bekenntnisidentisch anerkannt – die Kurfürsten von der Pfalz und von Brandenburg, der Landgraf von Hessen, die Grafen der Wetterau (Nassau-Dillenburg), die Kirchen von Ostfriesland (Emden) und von Bremen. Keine Einladung erhielten Pfalz-Zweibrücken,

$QKDOWXQG/LSSH௘21.

18 Vgl. Stefan EHRENPREIS, Hofcalvinismus und Flüchtlingskirchen. Zwei Modelle reformierter Kirchenorganisation und Politik, in: REISS / WITT, Calvinismus, S. 213–218; Heinz SCHINDLING, Peregrini und Schiffchen Gottes. Flüchtlingserfahrung und Exulantentheologie des frühneu-zeitlichen Calvinismus, in: Ebd., S. 160–168.

19 Vgl. J. F. Gerhard GOETERS (Hg.), Die Akten der Synode der Niederländischen Kirchen in Em-den vom 4.–13. Oktober 1571, Neukirchen-Vluyn 1971, S. 14.

20 Vgl. Hans-Jürgen BÖMELBURG, Reformierte Eliten im Preußenland: Religion, Politik und Loya-litäten in der Familie Dohna (1560–1660), in: ARG 95 (2004), S. 210–239.

21 Nach der Vermutung von BENEDICT, Churches, S. 226, wurde Anhalt nicht eingeladen, da sich die dortigen Theologen gegen die Prädestinationslehre ausgesprochen hatten.

Die Durchsetzung der reformierten Konfession hing von der Entschie-denheit und von den Exekutionsmöglichkeiten des Territorialherrn ab so-wie von der Macht der Landstände und dem Widerstandswillen der Unter-tanen. In der Kurpfalz gab es keine Landstände, so dass hier die Entschei-dung des regierenden Fürsten den Konfessionsstand des Territoriums be-stimmen konnte. Dass Kursachsen die Theologie und Kirchenorganisation des deutschen Reformiertentums nicht übernahm, ist auf die nur kurze Re-gierungszeit Christians I. (1586–1592) und die darauf folgende massive lu-therische Reaktion zurückzuführen22. Anderenfalls hätte die trotz der Ver-folgung durch Kurfürst August noch vorhandene philippistische Tradition eine reformierte Konfessionalisierung in Kursachsen erleichtern können, zu-mal es der Kanzler Nikolaus Krell, ein engagierter Calvinist, an Entschie-denheit nicht fehlen ließ; demgegenüber blieb der Protest der Landstände wirkungslos. 1588 erging ein Kondemnationsverbot, 1590 wurde der Exor-zismus bei der Taufe abgeschafft; die Verpflichtung auf die Konkordienfor-mel als Bedingung für die Übernahme eines öffentlichen Amtes entfiel. Die Zahl der säch sischen Pfarrer, die den Gehorsam gegen die kirchlichen Ver-änderungen (v. a. beim Exorzismusverbot) verweigerten, war überraschend klein – in der Regierungszeit Christians I. verloren von etwa 1.400 Pfarrern nur 50 ihr Amt. Zu einer Verwurzelung des reformierten Bekenntnisses kam es dennoch nicht, es blieb wegen der Kürze der Zeit im Wesentlichen eine

»Beamten- und Gebildetenreligion«23, die nach 1592 rasch und vollständig verschwand.

Ohne jede Bedeutung für das politische Gewicht der reformierten Partei im Reich waren die Übertritte von vier Kleinfürsten. Markgraf Ernst Fried-rich (1577–1604), der ein Drittel von Baden-Durlach geerbt hatte, machte sei-nen Bekenntniswechsel 1599 mit der Veröffentlichung des umfangreichen Staffortschen Buches öffentlich24. Trotz der Unterstützung durch den Hei-delberger Hofprediger Abraham Scultetus konnte der Markgraf den Wider-stand in seinem Land, insbesondere in der größten Stadt, Pforzheim, nicht überwinden. Er starb, bevor er Pforzheim gewaltsam zur Annahme des refor-mierten Kirchenwesens zwingen konnte.

Der Regent des Teilherzogtums Mecklenburg-Güstrow, Johann Al-brecht II. (1611–1636), verfügte, da schon seine Vorfahren den Landständen

22 Zu Sachsen vgl. Thomas KLEIN, Der Kampf um die zweite Reformation in Kursachsen

22 Zu Sachsen vgl. Thomas KLEIN, Der Kampf um die zweite Reformation in Kursachsen