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Calvinismus und Reformiertes Bekenntnis als Existenzgrundlagen für den Staat?

Betrachtungen zur frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte Anhalts

Vorbemerkung

Bei einem internationalen Kolloquium über Calvin und Calvinismus. Euro-päische Perspektiven sollte ein Blick auf das kleine Fürstentum Anhalt in Mitteldeutschland nicht fehlen. Das heute ca. 120 km südlich von Berlin ge-legene Gebiet war um 1800 etwa 2.400 Quadratkilometer groß1 und zählte ca. 118.000 Einwohner.

In den letzten 20 Jahren, die auch etwas mit der Entfaltung von Landes- und Kirchengeschichte im Osten Deutschlands nach der politischen Wende zu tun haben, ist dazu erfreulich Essentielles geschrieben worden. So sind wir dank der wichtigen Untersuchungen von Volker Press über Christian I. von Anhalt-Bernburg (reg. 1586–1630) als Reichsstatthalter der Oberpfalz und Haupt der evangelischen Bewegungspartei2 sowie weiterer Arbeiten3 recht gut unterrichtet. Das Teilfürstentum Anhalt-Köthen wurde mit Blick auf die Etablierung des Reformierten Bekenntnisses4 in Studien von Ulla Jablo-nowski5 und Günther Hoppe6 tiefgründig behandelt. Hinzu kommt die

Mo-1 Zum Vergleich: Das Territorium des heutigen Saarlands umfasst ca. 2.570 km2.

2 Volker PRESS, Fürst Christian I. von Anhalt-Bernburg, Statthalter der Oberpfalz, Haupt der evangelischen Bewegungspartei vor dem Dreißigjährigen Krieg (1568–1630). Bearb. von Franz BRENDLE / Anton SCHINDLING, in: Konrad ACKERMANN / Alois SCHMID (Hg.), Staat und Verwaltung in Bayern. Festschrift für Wilhelm Volkert zum 75. Geburtstag, München 2003, S. 193–216.

3 Ernst-Joachim WESTERBURG, Fürst Christian I. von Anhalt-Bernburg und der politische Calvi-nismus. Zur Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, Thalhofen 2003; Hartmut ROSS, Die Beziehungen Christians I. von Anhalt-Bernburg zu den Hohenzollern. Versuch einer ersten Zusammenfassung, in: Friedrich BECK / Klaus NEITMANN (Hg.), Brandenburgische Landesge-schichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders zum 70. Geburtstag, Wei-mar 1997, S. 127–137; ders., Für ein anderes Europa. Fürst Christian von Anhalt-Bernburg, Oranien baum 2003.

4 Vgl. auch Hans Helmut ESSER, Art. Reformierte Kirchen, in: TRE 28 (1997), S. 404–419.

5 Ulla JABLONOWSKI, Der Einfluß des Calvinismus auf den inneren Aufbau der anhaltischen Fürsten tümer Anfang des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Anhalt-Köthen, in:

Meinrad SCHAAB (Hg.), Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S. 149–163.

6 Günther HOPPE, Zur anhaltischen Behördengeschichte im frühen 17. Jahrhundert und zum »per-sönlichen Regiment« des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen in der Frühzeit seiner Regierung

nographie von Michael Rohrschneider zu Johann Georg II. (reg. 1660–1693) als Reichsfürst und Ehemann der Oranierin Henriette Catharina7. Detailrei-che Studien liegen seit kurzem auch zu Georg III. (reg. 1530–1553) und zur Identitätsbildung Anhalts im Vorfeld des Übergangs zum Reformiertentum YRU௘8. Auf die jüngst erschienene Studie von Irene Dingel9 sei hier besonders verwiesen. Das für die personelle Ausstattung des Territorialstaates Anhalt so wichtige Gymnasium Illustre in Zerbst ist Gegenstand der verdienstvol-len Arbeit von Joachim Castan10. Die Edition der Dokumente der mit An-halt-Köthen verbundenen »Fruchtbringenden Gesellschaft«, der ersten deut-schen Akademie, durch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig schreitet gut voran11. Vor wenigen Jahren ist endlich das Standard-werk zur Dessau-Wörlitzer Aufklärung von Erhard Hirsch erschienen12. Die literaturgesättigte Überblicksdarstellung der Dynastie- und Herrschaftsge-schichte Anhalts von Jan Brademann und Michael Hecht13 stellt einen siche-ren Kompass durch die Jahrhunderte dar und liefert mit hohen methodischen

(bis zur sogenannten Cabinetsordnung von 1612), in: MVAL 4 (1995), S. 113–142.

7 Michael ROHRSCHNEIDER, Johann Georg II. von Anhalt-Dessau (1627–1693). Eine politische Biographie, Berlin 1998.

8 Vgl. nur Achim DETMERS / Ulla JABLONOWSKI (Hg.), 500 Jahre Georg III. Fürst und Christ in An-halt. Beiträge des Wissenschaftlichen Kolloquiums anlässlich des 500. Geburtstages von Fürst Georg III. von Anhalt, Köthen 2008. Zum 16. Jahrhundert vgl. auch Werner FREITAG, Das Kon-zept der Konfessionalisierung und seine Anwendungsfelder. Das Fürstentum Anhalt im 16.

Jahrhundert, in: Christof RÖMER (Hg.), Evangelische Landeskirchen der Harzterrito rien in der IUKHQ1HX]HLW:HUQLJHURGHX௘D6±GHUV.RQIOLNWIHOGHUXQG.RQIOLNWSDUWHLHQ im Prozess der lutherischen und reformierten Konfessionalisierung – das Fürstentum An-halt und die Hochstifte Halberstadt und Magdeburg im 16. Jahrhundert, in: ARG 92 (2001), S. 166–194.

9 Irene DINGEL, Die Ausprägung einer regionalen konfessionellen Identität im Fürstentum An-halt: Einflüsse und Wirkungen, in: Dies. / Günther WARTENBERG (Hg.), Kirche und Regionalbe-wusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Ter-ritorien, Leipzig 2009, S. 113–127.

10 Joachim CASTAN, Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illus-tre des Fürstentums Anhalt in Zerbst, 1582–1652, Halle / Saale 1999.

11 Klaus CONERMANN (Hg.), Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen. Werke. Die ersten Gesellschafts-bücher der Fruchtbringenden Gesellschaft (1622, 1624 und 1628), Tübingen 1992; ders. / Die-ter MERZBACHER (Hg.), Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650, 1. Bd.: 1617–1626, Tübingen 1992; ders. / Andreas HERZ / Dieter MERZBACHER (Hg.), Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen:

Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650, 2. Bd.: 1627–1629, Tübingen 1998;

ders. / Gabriele BALL / Andreas HERZ (Hg.), Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Bei-lagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650, 3. Bd.: 1630–1636, Tübingen 2003; ders. / Gabriele BALL / Andreas HERZ (Hg.), Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650, 4. Bd.: 1637–1638, Tübingen 2006.

12 Erhard HIRSCH, Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Perso-nen – Strukturen – Wirkungen, Tübingen 2003.

13 Jan BRADEMANN / Michael HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1919. Eine integrative Dynastie- und Herrschaftsgeschichte, in: BDLG 141 / 142 (2005 / 2006), S. 531–575.

An sprüchen ein solides Fundament für weitere spezielle Untersuchungen.

Schon die hier nur kursorisch genannte Literatur zeigt an, dass die entschei-denden Weichenstellungen für den konfessionellen Sonderweg Anhalts im 16. und frühen 17. Jahrhundert erfolgten. Nach den Wirkungen dieser Ent-wicklungen im Verlauf der weiteren Konsolidierung und Fortexistenz des Staates Anhalt ist im bisherigen Schrifttum kaum gefragt worden. Das ver-wundert aus verfassungsgeschichtlicher Sicht etwas, war es angesichts der politischen Entwicklungen in der frühen Neuzeit sowie im 20. Jahrhun-dert keinesfalls selbstverständlich, dass »Anhalt« als Gebietsbezeichnung im Text des Grundgesetzes der Bundesrepublik als Zusatz zu »Sachsen«

(ge meint ist die ehemalige preußische Provinz Sachsen)14, also als Teil des Bundeslandnamens »Sachsen-Anhalt«, 1990 aufscheinen würde. Lippe und Braunschweig etwa haben das nicht geschafft; sogar die Franken blieben auf der Strecke. Am ehesten könnte man den zweiten Teil des Landesnamens

»Rheinland-Pfalz« ähnlich hinterfragen. Warum also gerade Anhalt? Und was hat das mit dem Calvinismus und dem Reformiertentum zu tun? Die Hy-pothese, Anhalt verdanke seine eigenstaatliche Existenz bis in das 20. Jahr-hundert und als verfassungsrelevante Verwaltungseinheit darüber hinaus sei-ner konfessionellen Entwicklung, ist gewiss sehr gewagt. Ein Nachdenken darüber ist keinesfalls müßig, handelt es sich doch um eine einzigartige Kul-turlandschaft, die sich unter bestimmten historischen Bedingungen, gewiss auch kirchlich-konfessionellen, herausgebildet hat15. Die Wahl der heutigen staatsrechtlichen Situation Anhalts ist freilich nicht unproblematisch, doch stellt auch Rudolf Joppen in seinem Artikel Anhalt für die Theolo gische Re-alenzyklopädie die Zustände des 20. Jahrhunderts an den Anfang seiner Aus-führungen16.

In den folgenden drei Abschnitten dieses Beitrages sollen einige Überle-gungen vorgetragen werden, die zur weiteren Diskussion über »Calvinismus und Territorialstaat«17 anregen könnten. Ferner können sie möglicherweise als Bausteine für eine moderne Verfassungsgeschichte Anhalts dienen. In einem ersten Abschnitt sollen kursorisch einige Etappen der Verfassungsge-schichte Anhalts, soweit sie für unsere Betrachtungen von Bedeutung sind, vorgestellt werden. In einem zweiten Abschnitt ist auf die Einführung des Reformierten Bekenntnisses in Anhalt und die verantwortlichen

Hauptak-14 Vgl. auch Heiner LÜCK, Zur Geschichte des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, in: Michael KILIAN

(Hg.), Verfassungshandbuch Sachsen-Anhalt, Baden-Baden 2004, S. 64–92.

15 Anhalt stellt im Selbstverständnis des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalts eine kultur- und verfassungshistorisch wichtige Konstante dar. Vor diesem Hintergrund fasste der Landtag YRQ6DFKVHQ$QKDOWDP௘௘HLQHQ%HVFKOXVV$QKDOWDQOlVVOLFKVHLQHVMlKUL -gen Jubiläums entsprechend zu würdi-gen.

16 Rudolf JOPPEN, Art. Anhalt, in: TRE 2 (1978), S. 734–743, hier: S. 734.

17 So der programmatische Titel der Münchner Dissertation von Volker PRESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619, Stuttgart 1970.

teure einzugehen. In einem dritten Abschnitt soll versucht werden, mutmaß-liche Nachwirkungen des konfessionellen Sonderweges Anhalts bis in die Gegenwart auszumachen.

1. Anhalt in der deutschen Verfassungsgeschichte

Als Stammvater des Fürstentums Anhalt gilt der Askanier Albrecht der Bär (†1170)18. Seinem Sohn Bernhard (†1212) fiel 1180 im Gefolge des Prozesses gegen Heinrich den Löwen (†1195) der südöstliche Teil des alten Herzogtums Sachsen, an den die Kurwürde gebunden war, zu. Ein relativ geschlossenes Territorium der Askanier ist jedoch erst im 13. Jahrhundert greifbar. Nach dem Tode des Fürsten Heinrich im Jahre 1252 erfolgten mehrere Teilungen.

Die Existenz diverser Linien des anhaltischen Fürstenhauses mit entspre-chenden Gebietszuteilungen ist seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ein her-vorstechendes Merkmal anhaltischer Verfassungsgeschichte bis in die Neu-zeit. Erst 1570 gelang unter Fürst Joachim Ernst (reg. 1561–1586) die Wie-dervereinigung aller anhaltischen Linien. Nach seinem Tode konnten seine Söhne zwar vorübergehend eine gemeinsame Regierung gewährleisten, doch folgte schon 1603 eine erneute Landesteilung, diesmal in nunmehr fünf Li-nien: Anhalt-Dessau, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Köthen, Anhalt-Zerbst und Anhalt-Plötzkau.

Für die Einführung der Reformation in Anhalt zwischen 1521 und 1534 steht Fürst Georg III. (reg. 1530–1553)19, welcher als treuer Anhänger Mar-tin Luthers (1483–1546) die Augsburger Konfession von 1530 zur Grund-lage seines Handelns machte, und zwar in enger persönlicher Verbindung zu Philipp Melanchthon (1497–1560)20. Im Bewusstsein Anhalts erscheint Ge-org »als im regionalen Kontext gleichberechtigte Leitfigur neben [...] Luther und Melanchthon«21.

Nach Luthers Tod wurde Anhalt, gekennzeichnet durch eine spürbare To-leranz in Glaubensfragen, zum Zufluchtsort für viele Melanchthonanhänger, die sogenannten Philippisten, die insbesondere aus Kursachsen, speziell aus

18 Das Folgende nach Heiner LÜCK, Zur Verfassungsgeschichte Anhalts, in: ZNR 31 (2009), S. 177–189.

19 Vgl. dazu Peter GABRIEL, Fürst Georg III. von Anhalt als evangelischer Bischof von Merseburg und Thüringen: 1544–1548 / 50. Ein Modell evangelischer Episkope in der Reformationszeit, )UDQNIXUW0DLQX௘DGHUV(YDQJHOLVFKHU%LVFKRIYRQ0HUVHEXUJ)UVW*HRUJ,,,YRQ Anhalt, in: Werner FREITAG (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im Zeitalter der

Re-IRUPDWLRQ.|OQX௘D6±

20 Vgl. dazu im einzelnen Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Verhältnis zu Georg von Anhalt, in:

DETMERS / JABLONOWSKI, 500 Jahre Georg III., S. 81–107.

21 DINGEL, Ausprägung, S. 126.

dem nahen Wittenberg22, vertrieben wurden. Einen kirchenverfassungspoli-tischen Schritt in eine zukunftsträchtige Richtung vollzog Fürst Christian I.

von Anhalt-Bernburg, indem er 1592 zum Calvinismus übertrat und 1603 den Calvinismus zum offiziellen Bekenntnis seines Fürstentums machte23. Ein halbes Jahrhundert später (1659) fand die Eheschließung des Fürsten Johann Georg II. von Anhalt-Dessau mit Henriette Catharina von Nassau-Oranien (1637–1708) statt, welche enge Kulturbeziehungen zwischen Anhalt und den Niederlanden einerseits24 sowie Anhalt und Kurbrandenburg andererseits25 mit sich brachte. Durch die Heirat mit der Oranierin wurde Anhalt-Dessau in ein dynastisch-konfessionelles Beziehungsnetz einbezogen, das schon zwi-schen dem Haus Nassau-Oranien und den brandenburgizwi-schen Hohenzollern bestand. Das kleine Anhalt-Dessau profitierte enorm von niederländischen Einflüssen in Kultur und Wirtschaft. All dieses schlug sich auch in einem be-stimmten Staats- und Verfassungsdenken nieder, das im Anschluss an Ger-hard Oestreich26GULQJHQGGHU$XIKHOOXQJGXUFKGLH)RUVFKXQJEHGDUI௘௘௘27.

Die anhaltischen Fürstentümer waren typische Kleinst-Territorialstaa-WHQPLWHLQHPRGHUPHKUHUHQUHJLHUHQGHQ)UVWHQDQGHU6SLW]H௘28. Als Hö-hepunkte in der allgemeinen Verfassungsentwicklung können die Einfüh-rung des Absolutismus unter Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau, dem »Al-ten Dessauer« (reg. 1693–1747), die bewusste Errichtung eines aufgeklär»Al-ten Staatswesens durch Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1758–1817) und die Verfassungskämpfe 1848 ausgemacht werden. 1807

wa-22 Vgl. dazu auch Ulrike LUDWIG, Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wit-tenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576–1580), Münster 2009.

23 Vgl. Georg SCHMIDT, Die Fürsten von Anhalt. Reformierte Konfessionalisierung und überkon-fessionelle Einheitsbestrebungen?, in: Werner FREITAG / Michael HECHT (Hg.), Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Halle / Saale 2003, S. 173–186; JABLONOWSKI, Einfluß, S. 149–163; CASTAN, Hochschulwesen, S. 27–53; Hartmut ROSS, Aspekte der Geschichte der »Zweiten Reformation«

in Anhalt-Bernburg zu Beginn der Herrschaft Fürst Christians I., in: MVAL 6 (1997), S. 136–

151.

24 Vgl. dazu Michael ROHRSCHNEIDER, Die Oranier und Anhalt. Verflechtungen und Beziehungen, in: Horst LADEMACHER (Hg.), Onder den Oranje boom. Textband. Dynastie in der Republik. Das Haus Oranien-Nassau als Vermittler niederländischer Kultur in deutschen Territorien im 17.

und 18. Jahrhundert, München 1999, S. 225–235.

25 Vgl. dazu Gerhard OESTREICH, Die Niederlande und Brandenburg-Preußen, Bonn 1970 druck in geringfügig geänderter Fassung in: LADEMACHER, Onder den Oranje boom, S. 187–202, 448–449).

26 Ebd.

27 Zu Johann Georg II. vgl. auch ROHRSCHNEIDER, Johann Georg II.; ders., Möglichkeiten und Grenzen politischer Selbstbehauptung mindermächtiger Reichsstände im 17. Jahrhundert: Das politische Wirken Johann Georgs II. von Anhalt-Dessau, in: FREITAG / HECHT, Die Fürsten von Anhalt, S. 187–201.

28 Vgl. dazu auch den gelungenen wie gut fundierten Überblick von BRADEMANN / HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1919.

ren die anhaltischen Staaten in den Rang von Herzogtümern erhoben wor-den, welche 1863 in einem geeinten anhaltischen Herzogtum aufgingen29. 1918 / 19 entstand der Freistaat Anhalt und gab sich am 18. Juli 1919 eine zeitgemäße Verfassung30. Mit der Etablierung des sogenannten Führerprin-zips im Jahre 1933 durch die Einsetzung eines »Reichsstatthalters in Braun-schweig und Anhalt« mit Sitz in Dessau endete die Eigenstaatlichkeit und da-mit die Verfassungsgeschichte Anhalts, wenn man nicht in der Existenz von Regierungsbezirken in der Zeit von 1945 bis 1952, der Kreise Dessau, Zerbst, Köthen und Bernburg von 1952 bis 1990, sowie wiederum eines Regierungs-bezirks Dessau 1990 bis 2003 eine gewisse Fortsetzung anhaltischer Staat-lichkeit, wenn auch nur als Verwaltungsgebilde, sehen will. Die Landesbe-zeichnung bestand freilich von 1933 bis 1945 weiter bis zur Vereinnahmung durch die sowjetische Militärverwaltungsbehörde für die Provinz Sachsen am 9. Juli 1945. Der entscheidende Rechtsakt war die Unterstellung des ehe-maligen Freistaatsgebiets Anhalt unter die örtliche Zuständigkeit der Sowje-tischen Militäradministration in Deutschland für die Provinz Sachsen.

2. Calvinismus und Reformiertes Bekenntnis in Anhalt (16. und 17. Jahrhundert)

2.1 Tendenzen und Übergang zum Reformierten Bekenntnis

Nach Einführung der Reformation in Anhalt wurden die meisten anhal tischen Pfarrer zunächst im nahen Wittenberg ausgebildet, welches von der philip-SLVWLVFKHQ7UDGLWLRQJHSUlJWZDU௘31. Im Jahre 1574 setzte der sächsische Kur-fürst August (reg. 1553–1586) bekanntlich zum offenen Vorgehen gegen alle des Calvinismus verdächtigen Theologen und Beamten an. Eine zweite Wel-le der Verfolgung in Kursachsen folgte nach dem Tod des calvinistisch ori-entierten Kurfürsten Christian I. (reg. 1586–1591)32. Das mit Kursachsen

be-29 Zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Anhalts im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl.

auch Michael KOTULLA, Deutsches Verfassungsrecht 1806–1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Bd. 1: Gesamtdeutschland, Anhaltische Staaten und Baden, Berlin / Hei-delberg 2006, S. 317–368; Thomas KLEIN (Hg.), Anhalt, in: Ders. (Hg.), Grundriß der deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe B, Bd. 16: Mitteldeutschland (Kleine Länder), Mar-burg / Lahn 1981, S. 93–182.

30 Abgedr. in: Gesetzblatt für Anhalt, Jg. 1919, Nr. 10, S. 79–90.

31 Vgl. dazu jetzt auch LUDWIG, Philippismus. Zu den Berührungspunkten Calvins mit Wittenberg vgl. Herman J. SELDERHUIS, Calvin und Wittenberg, in: Ders. (Hg.), Calvin Handbuch, Tübin-gen 2008, S. 57–63.

32 Zum Prozess gegen seinen Kanzler Nikolaus Krell vgl. die umfassende Untersuchung von Hartmut KRELL, Das Verfahren gegen den 1601 hingerichteten kursächsischen Kanzler Niko-laus Krell, Frankfurt / Main 2006.

nachbarte Anhalt nahm viele Vertriebene auf. Darunter befand sich als einer der populärsten sogenannten Kryptocalvinisten Caspar Peucer (1525–1602), der Schwiegersohn Melanchthons sowie Professor der Mathematik und Medizin in Wittenberg, der nach 12-jähriger Kerkerhaft in Kursachsen frei-kam und 1602 in Dessau starb33. Weitere verfolgte und entlassene Persön-lichkeiten waren Johann Brendel (1578–1619), der Superintendent in Des-sau wurde, die Geistlichen Dionysius Dragendorf, Zacharias Polus und Kon-rad Reinhardt, die nacheinander als Superintendenten von Bernburg fun-gierten, Gregor Bersmann, vormals Professor in Leipzig, dann erster Rektor des Zerbster Gymnasium Illustre, Bartholomäus Schönborn und Albert Voit aus Wittenberg, ebenfalls Professoren am genannten Gymnasium34. Andere Verfolgte fanden in der Rheinpfalz, der Oberpfalz oder Bremen Aufnahme,

darunter die Witwe des berühmten, aus Antwerpen stammenden Wittenber-ger Juristen Matthäus Wesenbeck (1531–1586)35. Somit kann Anhalt als stark frequentierte Zufluchtsstätte für religiös Verfolgte im letzten Viertel des 16.

Jahrhunderts angesehen werden. Diese Personen und ihre Familien sollten den Kern einer calvinistisch orientierten Elite in Anhalt bilden.

Die sich entwickelnde anhaltische Landeskirche entfernte sich schrittweise vom orthodoxen Luthertum, welches seinerseits durch die Konkordienformel (1578) eine Einigkeit herbeiführen wollte. Fürst Joachim Ernst unterschrieb sie nicht, auch nicht das Konkordienbuch (1580). Seine Theologen hatten ihm zu dieser Enthaltung geraten. Die Ordinationen der Pfarrer wurden 1578 nach Zerbst verlegt. Einen gewissen Höhepunkt dieser Verselbständigung stellt die Gründung des schon erwähnten Gymnasiums Illustre 1581 / 82 in Zerbst dar, welches fortan die Ausbildung bzw. Rekrutierung des eigenen geistlichen und staatlichen Personals ermöglichte (wie wenige Jahre später 1584 Herborn und Bremen, 1591 Burgsteinfurt)36. Dieses Gymnasium hat-te die Grundzüge einer kleinen Landesuniversität37. Formell war es jedoch keine Universität, wenn man das Promotionsrecht als Kernstück jeder Uni-versität zum Unterscheidungskriterium macht. Als Alternative universitärer

33 Vgl. zu ihm: Zwischen Katheder, Thron und Kerker. Leben und Werk des Humanisten Cas-par Peucer 1525–1602. Ausstellung 25. September bis 31. Dezember 2002. Stadtmuseum Baut-zen, Ausst.-Kat., Bautzen 2002, hier insbes. der Beitrag von Joachim CASTAN, Caspar Peucer in Anhalt, S. 155–161; ders., Caspar Peucers letzte Lebensperiode in Anhalt – eine Wiederent-deckung, in: Hans-Peter HASSE / Günther WARTENBERG (Hg.), Caspar Peucer (1525–1602). Wis-senschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, Leipzig 2004, S. 283–297.

34 Zu den genannten vgl. JABLONOWSKI, Einfluß, S. 149f.

35 Über Wesenbeck vgl. auch Heiner LÜCK, Matthäus Wesenbeck (1531–1586). Professor der Jurisprudenz in Wittenberg, in: FREITAG, Mitteldeutsche Lebensbilder, S. 235–251.

36 Vgl. dazu Gerhard MENK, Das Hochschul- und Schulwesen des reformierten und purita nischen Protestantismus, in: Ansgar REISS / Sabine WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, S. 30–36; ESSER, Reformierte Kirchen, S. 409.

37 JABLONOWSKI, Einfluß, S. 151.

geistlicher Bildung schied Wittenberg jedenfalls vorübergehend aus, wäh-rend Heidelberg bevorzugt wurde. Zum Zerbster Gymnasium Il lustre kam auch eine eigene Druckerei, welche für die Ausbildung einer konfessionellen Identität nicht zu unterschätzen ist38.

2.2 Landesordnung von 1572

Als unmittelbare Wirkung dieser Entwicklung auf die territorialstaatlichen Strukturen lässt sich die starke Stellung der Superintendenten, die aus dem bewussten Verzicht auf ein Konsistorium39 folgte, konstatieren40. Diese Posi-tion der Superintendenten lässt deutlich die 1572 erlassene Polizei- und Lan-GHVRUGQXQJ௘41, welche diesen Zustand normativ festschrieb und wohl in das ]HLWW\SLVFK IRUFLHUWH 6WDDWVELOGXQJVSURJUDPP HLQ]XRUGQHQ LVW௘42, erkennen.

Um einige der regelungsbedürftigen Probleme aus der Perspektive des Lan-desherrn zu erfassen, lohnt sich ein Blick in den Text des Regelwerks.

In der Präambel verweist Joachim Ernst darauf, dass er kraft göttlichen Willens nunmehr allein für die Regierung des ganzen Fürstentums zustän-dig sei. Durch Reichsabschiede sei er wie andere Fürsten dazu angehalten,

»christliche gute policei und ordnung in seinen landen und gepieten« he r-zustellen und zu erhalten. Unter anderem gehe es auch um die Beförderung der Ehre Gottes und »fortpflanzunge warhaftiger religion und zu erhaltunge [...] guter sitten«43. In der Ordnung nehmen die Regelungen zu verschiedenen (materiellen) Rechtsbereichen, zum Verfahren und zur Gerichtsbarkeit einen relativ breiten Raum ein.

Am Anfang steht das Gebot, sonntags in die Kirche zu gehen. Damit kor-respondiert das Verbot, während dieser Zeit Gelage, Zechen, Spiele und

»derg leichen« abzuhalten. Bei Übertretungen drohen empfindliche

Geldstra-38 DINGEL, Ausprägung, S. 115.

39 Zur Entstehung der Konsistorien in Sachsen vgl. Heiner LÜCK, Justus Jonas als Jurist und Mit-begründer des Wittenberger Konsistoriums, in: Irene DINGEL (Hg.), Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation, Leipzig 2009, S. 145–162; Ralf FRASSEK, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit. Der Aufbau neuer Rechts-strukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums, Tübingen 2005.

40 So auch JABLONOWSKI, Einfluß, S. 152.

41 Primärdrucke Wittenberg 1572 und Köthen 1666; ND 1725, 1743, 1777, 1853; ferner als Fried-rich Georg August LOBETHAN (Hg.), Die Fürstlich Anhaltisch erneuerte und verbesserte Lan-des- und Proceß-Ordnung, nebst der Gesinde-Ordnung, Köthen 1804, mit erläuternden An-merkungen versehen. Auszug abgedruckt in: EKO I / 2, S. 570–574. Vgl. auch HIRSCH, Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung, S. 116.

42 SCHMIDT, Fürsten von Anhalt, S. 175.

43 Zitiert wird nach EKO.

fen44, Gefängnis45 und Prangerstrafe46. Die Superintendenten und Prediger sollen die weltlichen Amtsträger daran erinnern. Leichtfertigkeit gegenüber dem »heiligen ministerii« ist »nach scherfe der rechte und mit ungnaden zu strafen«.

Die weltlichen Gewalten (Ritter, Räte, Städte) sollen auf die Pfarrer und Kirchendiener Acht geben, damit diese ein vorbildliches Leben führen. Je-GHV-DKUVROOHLQH9LVLWDWLRQGXUFKJHIKUWZHUGHQGLHX௘D]XVLFKHUQKDEH dass »gleichförmige ceremonien in allen unser lande kirchen sollen gehal-ten werden«.

Die weltlichen Gewalten (Ritter, Räte, Städte) sollen auf die Pfarrer und Kirchendiener Acht geben, damit diese ein vorbildliches Leben führen. Je-GHV-DKUVROOHLQH9LVLWDWLRQGXUFKJHIKUWZHUGHQGLHX௘D]XVLFKHUQKDEH dass »gleichförmige ceremonien in allen unser lande kirchen sollen gehal-ten werden«.