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2. Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten

2.2 Blickbewegungen beim Lesen

Eine Vielzahl von Studien stimmt darin überein, dass sich Blickbewegungen von Kin-dern mit einer Lese-Störung im Vergleich zu gleichaltrigen KinKin-dern mit guten Leseleis-tungen unterscheiden (Eden et al. 1994; De Luca et al. 2002; MacKeben 2004). Anfangs

wurde dies als eine Ursache für Lese-Rechtschreib-Störungen diskutiert, mittlerweile wird davon ausgegangen, dass es vielmehr eine Folge der schlechteren Lesefähigkeiten ist (von Suchodoletz 2006, 194 ff.; Klicpera et al. 2010, 181). In diesem Fall könnte die Messung der Blickbewegungen in der Diagnostik von LRS eingesetzt werden.

Im Folgenden werden zunächst zentrale Begrifflichkeiten in Bezug auf Blickbewegun-gen beim Lesevorgang eingeführt. Anschließend folgt eine Darstellung von Besonder-heiten, die bei einem Vergleich von Studienergebnissen zu diesem Themenkomplex zu beachten sind. Schließlich wird ein Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse gegeben.

Lesen ist nicht einfach das Fortschreiten in der Blickrichtung, sondern auch das Verwei-len zur inhaltlichen Verarbeitung des Gelesenen und das Zurückspringen im Text bei Unklarheiten. Nach einer Fixation, dem Verweilen des Blickes auf einer Buchstaben-gruppe, folgt ein Blicksprung zur nächsten Buchstabengruppe. Dies ist erforderlich, weil das Auge nur einen begrenzten Bereich beim Lesen scharf stellt. Die sprunghafte Augenbewegung in Leserichtung wird als Sakkade bzw. progressive Sakkade bezeich-net. Augenbewegungen entgegen der Leserichtung, die sogenannten Regressionen bzw.

regressiven Sakkaden, werden zur Überprüfung des Gelesenen eingesetzt, wenn es zu Unstimmigkeiten kommt. Solche Rücksprünge erfolgen aber auch jeweils an den Zeile-nenden, um zum Anfang der nächsten Zeile zu gelangen (Radach et al. 2012, 186).

Die Blicksprünge werden außerdem unterteilt in Intra- und Interwortsakkaden. Bei den Intrawortsakkaden kommt es durch einen Blicksprung zu einer weiteren Fixation von Buchstaben innerhalb des gleichen Wortes, während bei Interwortsakkaden der Blick-sprung zur Fixation eines anderen Wortes führt (Radach et al. 2012, 186).

Um Blickbewegungen beim Lesen von Texten aufzeichnen zu können, kommen Eyetra-cker zum Einsatz. Diese Geräte bestehen aus einem Bildschirm mit Kameras, Lichtquel-len und einer Bildverarbeitungssoftware. Für die genaue Aufzeichnung des Blickziels benötigt der Eyetracker Informationen über die exakte Stellung der Pupille und des Kopfes sowie Daten zur Umgebung (Blake 2013, 371). Durch eine Kalibrierung kann der Eyetracker anhand der Augenposition und der Reflexion der Lichtquellen auf der Hornhaut auf die individuelle Physiologie jeder Person eingestellt werden. Kalibrierun-gen erfolKalibrierun-gen meist über das NachverfolKalibrierun-gen eines Punktes, der sich über den Bildschirm bewegt (Blake 2013, 372). Zur Aufzeichnung der Blickbewegungen wird den Probanden nach der Kalibrierung auf dem Bildschirm ein Text präsentiert, der vorgelesen werden soll. Die aufgenommenen Daten können anschließend am Computer weiterverarbeitet

werden (Blake 2013, 372 f.). Für die Auswertung ist zum Beispiel der fixierte Buchstabe, die Anzahl der Sakkaden und Regressionen, die Sprungweite der Sakkaden oder die Dauer der Fixationen interessant (Radach et al. 2012, 186).

Je nach Schwierigkeitsgrad des gelesenen Textes und nach angewendeter Lesetechnik (eingehendes Rezipieren oder Überfliegen) können diese Parameter bei einem Leser schwanken (Weiland et al. 2016, 206; Trauzettel-Klosinski et al. 2010, 686), so dass es schwierig ist die Ergebnisse von Studien im Hinblick auf die Ausprägung von Blickbe-wegungsparametern zu vergleichen, wenn unterschiedliches Wortmaterial benutzt wurde. Eine Vergleichbarkeit wird auch durch die unterschiedlich verwendeten Ebenen (Wort, Satz, Text) erschwert. Ebenso können die Blickbewegungen vom Lesemodus beeinflusst werden. Auch Blickzeiten zwischen lautem und leisem Lesen können unterschiedlich ausfallen (Trauzettel-Klosinski et al. 2010, 686; Radach et al. 2012, 190).

Die Blickbewegungen können sich beim Lesen auch je nach Sprachstruktur (Regularität der Graphem-Phonem-Korrespondenz, Silbenstruktur, Satzstruktur) unterscheiden (Hutzler & Wimmer 2004, 240). Dies macht eine Vergleichbarkeit zwischen verschiede-nen Sprachen sehr schwer. Daher beschränkt sich im Folgenden die Betrachtung aktuel-ler Forschungsergebnisse zur Entwicklung von Blickbewegungsparametern bei Kindern auf Untersuchungen im deutschsprachigen Raum.

Eine Betrachtung der Blickbewegungsparameter im Längsschnitt könnte darüber Aufschluss geben, wie sich die Blickbewegungen bei guten Lesern mit ihrer mehr und mehr automatisierten Lesetechnik während der Grundschulzeit verändern. Auch ein Vergleich zwischen guten und schlechten Lesern über einen längeren Zeitraum in Bezug auf die Entwicklung von Blickbewegungen kann für die Diagnostik einer Lese-störung wichtige Hinweise geben.

Die Anzahl an veröffentlichten Längsschnittuntersuchungen in Bezug auf die Entwick-lung des Blickverhaltens von Kindern beim Lesen ist derzeit noch sehr gering. Dabei sind einige Studien momentan in der Durchführungsphase wie zum Beispiel in Berlin die Längsschnittuntersuchung zu Blickbewegungen am Institut für Rehabilitationswis-senschaften der Humboldt Universität oder die Aufzeichnung von Blickbewegungen im Längsschnitt von Grundschülern der Max-Planck-Forschungsgruppe Reading Educati-on and Development (REaD).

Veröffentlicht ist für den deutschsprachigen Raum erst eine Längsschnittstudie zur Veränderung von Blickbewegungen während des Leseerwerbs. Die Forschungsgruppe

untersuchte leseunauffällige Grundschüler am Ende der zweiten und der vierten Klasse (Huestegge et al. 2009, 2949). Die Lesegeschwindigkeit stieg in diesem Zeitraum von 66 Wörtern pro Minute auf 103 Wörter pro Minute (Huestegge et al. 2009, 2951). Insgesamt zeigte sich, dass die mittlere Anzahl an Fixationen pro Satz im Laufe der Grundschul-zeit zurückging. Die durchschnittliche Fixationsdauer sank ebenfalls ab (von 358 ms pro Fixation auf 297 ms). Es konnte auch beobachtet werden, dass die durchschnittliche Sakkadenamplitude anstieg. In der zweiten Klasse machten die Schüler durchschnitt-lich nach 5,27 Buchstaben eine Fixation, in der vierten Klasse nach 6,31 Buchstaben. Die mittlere Amplitude von Regressionen blieb dagegen gleich. Auch der prozentuale Anteil an regressiven Sakkaden unterschied sich nicht signifikant zwischen den zwei Zeitpunkten (Huestegge et al. 2009, 2951). Viele Autoren gehen davon aus, dass die veränderten Blickbewegungen auf eine im Laufe der Grundschulzeit zunehmende ganzheitlich-lexikalische Wortverarbeitung zurückgehen (vgl. Radach et al. 2012).

Neben Längsschnittstudien sind auch Untersuchungen zum Vergleich der Blickbewe-gungen von leseauffälligen und leseunauffälligen Kindern relevant.

In einer Voruntersuchung zur Längsschnittstudie der Humboldt-Universität konnten im Querschnitt signifikante Unterschiede zwischen unauffälligen und auffälligen Lesern festgestellt werden. Die leseschwachen Grundschüler benötigten beim Lesen eines Textes durchschnittlich 2,42 Fixationen pro Wort, während die leseunauffälligen Kinder nur 1,87 Fixationen pro Wort benötigten (Weiland et al. 2016, 215).

Auch die Fixationsdauer unterschied sich zwischen diesen beiden Gruppen signifikant.

Die mittlere Dauer einer Fixation betrug in der Gruppe der unauffälligen Leser 363 ms, in der Gruppe der auffälligen Leser jedoch 537 ms (Weiland et al. 2016, 216).

Die Sakkadendauer, also die Zeit der Blickbewegung zwischen zwei Fixationen, unter-schied sich zwischen den Gruppen nicht signifikant. Es konnte jedoch beobachtet werden, dass die Drittklässler mit einer Lesestörung im Vergleich zu den leseunauffälli-gen Kindern kleinere Blickbewegungssprünge machten. Die Anzahl an Buchstaben zwischen zwei Fixationen, also die Sakkadenamplitude, war signifikant geringer.

Kinder mit einer Lesestörung sprangen im Vergleich zu den Leseunauffälligen im Mittel pro Sakkade um knapp einen Buchstaben weniger im Text vor (Weiland et al. 2016, 218).

Die Unterschiede bei der Anzahl an Regressionen waren zwischen den zwei Gruppen nicht signifikant. Jedoch sprangen die leseschwachen Kinder bei Regressionen häufiger innerhalb eines Wortes zurück (Weiland et al. 2016, 219 f.).

Zusammengefasst benötigten leseschwache Kinder zum Lesen eines Textes gegenüber gleichaltrigen guten Lesern mehr Fixationspunkte und eine längere Fixationsdauer. Die Anzahl an Regressionen zur Korrektur des Gelesenen und die Sakkadendauer unter-schied sich zwischen den Gruppen nicht signifikant. Dafür zeigten die leseschwachen Kinder bei Regressionen eine signifikant höhere Anzahl an Rücksprüngen innerhalb von Wörtern.

Diese Ergebnisse für den Bereich des lauten Lesens stimmen in weiten Teilen mit einer Querschnittstudie bei etwas älteren Probanden überein. Hutzler und Wimmer unter-suchten die Blickbewegung beim stillen Lesen eines Textes von leseauffälligen und leseunauffälligen 13-Jährigen. Es zeigte sich eine signifikant höhere Anzahl an Fixatio-nen (1,53 FixatioFixatio-nen pro Wort vs. 0,83 FixatioFixatio-nen pro Wort), eine bedeutend längere Fixationsdauer (367 ms pro Fixation vs. 192 ms pro Fixation), und eine geringfügig größere Anzahl an Regressionen bei den leseauffälligen Kindern (Hutzler & Wimmer 2004, 238).

In einer weiteren Querschnittstudie (Trauzettel-Klosinski et al. 2010) wurde die Lese-leistung und die Blickbewegung von leseauffälligen und leseunauffälligen 9-Jährigen untersucht. Sie lasen am Eyetracker einen altersentsprechenden Text und einen Text, der für Leseanfänger konzipiert war.

Während die leseschwachen Kinder eine Lesegeschwindigkeit von 40 bzw. 50 Wörtern pro Minute (Text 1 vs. Text 2) zeigten, erreichten die leseunauffälligen Kinder mit 119 bzw. 136 Wörtern pro Minute eine deutlich höhere Lesegeschwindigkeit (Trauzettel-Klosinski et al. 2010, 685).

Insgesamt war in dieser Studie bei den Kindern mit einer Lesestörung die Anzahl und Dauer der Fixationen erhöht und die Sakkadenamplitude signifikant kleiner. Der prozentuale Anteil von Regressionen an der Gesamtzahl aller Sakkaden war bei den leseschwachen Grundschülern leicht erhöht (Trauzettel-Klosinski et al. 2010, 685).

Nach aktuellem Forschungsstand kann daher davon ausgegangen werden, dass es bei Kindern mit einer Lesestörung zu einer größeren Anzahl an Fixationen kommt. Als gesichert gelten zudem länger andauernde Fixationen und kürzere Sakkadenamplitu-den.

Leseschwache Kinder scheinen vermehrt über die indirekte Leseroute (Zwei-Wege-Modell) zu lesen, sodass sie die Wörter noch Buchstabe für Buchstabe verarbeiten müssen (Trauzettel-Klosinski 2010, 690). Durch eine Lesetherapie, welche auf ein

Training der ganzheitlich-lexikalischen Wortverarbeitung abzielt, könnte bei einer erfolgreichen Intervention zur Lesegeschwindigkeit also erwartet werden, dass sowohl die Länge der Blicksprünge zunimmt (größere Sakkadenamplitude) als auch die Anzahl und Dauer der Fixationen zurückgeht.