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Aktuelle Positionen zu Begrifflichkeiten und Definitionen

3. Lese-Rechtschreib-Störung - ein Überblick

3.2 Aktuelle Positionen zu Begrifflichkeiten und Definitionen

In der aktuellen Grundschulverordnung von Berlin wird definiert, dass Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten dann vorlägen, "wenn Schülerinnen und Schüler besondere Schwierigkeiten beim Erlernen und beim Gebrauch der Schriftsprache und des Lesens haben, die nicht ursächlich auf zu geringe Kenntnisse der deutschen Sprache oder festgestellten oder vermuteten sonderpädagogischen Förderbedarf in den Förderschwerpunkten "Lernen" oder

"Geistige Entwicklung" zurückzuführen sind, erheblich vom übrigen Leistungsvermögen abweichen und durch allgemeine Förderung nicht behoben werden können" (Grundschulver-ordnung vom 19. Januar 2005).

Im Prinzip folgt man damit der Definition in der ICD-10 (Version 2017, 10. Revision), dem Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Die Internationale statistische

Klassi-fikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und ist weltweit anerkannt.

Die Lese- und Rechtschreibstörung wird in der ICD-10 unter F 81 aufgeführt, wo umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten genannt werden. Defi-niert wird sowohl die Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0), als auch eine isolierte Rechtschreibstörung (F 81.1). Eine isolierte Lesestörung wird nicht aufgeführt.

Die Definition arbeitet neben Inklusionskriterien auch mit Ausschlusskriterien. Eine Lese-Rechtschreib-Störung soll danach dann vorliegen, wenn eine deutliche Abwei-chung des Entwicklungsstandes in der Lesegenauigkeit, dem Leseverständnis und in manchen Fällen auch dem Rechtschreiben von dem nach dem jeweiligen Alter erwarte-ten Entwicklungsstand besteht.

Ausgeschlossen wird, dass der Entwicklungsrückstand durch eine neurologische Störung, eine Intelligenzminderung, eine Seh- oder Hörstörung oder unzureichenden Unterricht hervorgerufen wird. Eine Intelligenzminderung beginnt laut ICD-10 bei einem IQ unter 70.

Mit der Nennung von begleitenden Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich wird auch eine Sekundärsymptomatik in die Begriffsfindung einbezogen. Außerdem wird darauf verwiesen, dass einer Lese-Rechtschreib-Störung häufig Sprachentwick-lungsstörungen vorausgehen.

Wie genau eine deutliche Abweichung des Entwicklungsstandes operationalisiert werden soll, wird in den zusätzlich zur ICD-10 veröffentlichten Forschungskriterien erläutert. Die Autoren fordern für das Vorliegen einer Lese-Rechtschreib-Störung ein doppeltes Diskrepanzkriterium ein: Zum einen wird für die Diagnose eine Diskrepanz von mehr als zwei Standardabweichungen zwischen der Lese- oder Rechtschreibleis-tung und der Intelligenz verlangt und zum zweiten eine Diskrepanz von ebenfalls mehr als zwei Standardabweichungen zwischen der Lese-Rechtschreibleistung des Kindes im Vergleich zur Klassennorm (Dilling et al. 2016).

Die Definition von Lese-Rechtschreib-Störungen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), einem amerikanischen Klassifikationssystem der Psychiat-rie, entspricht im Prinzip der Begriffsbildung des ICD-10-Systems. Anstatt von um-schriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten wird jedoch von Lernstörungen gesprochen. Schwierigkeiten im Lesen zeigen sich laut DSM in der Wortlesegenauigkeit, der Lesegeschwindigkeit und dem Leseverständnis.

Schwierigkei-ten im Schreiben machen sich in den Bereichen Rechtschreibgenauigkeit, Grammatik und Zeichensetzung und dem schriftsprachlichen Ausdruck bemerkbar. Beim DSM sind also die möglichen beeinträchtigten Bereiche etwas genauer herausgearbeitet als bei der ICD und die Bereiche Lesen und Schreiben werden getrennt, können aber auch beide beeinträchtigt sein. Die Ausschlusskriterien sind vergleichbar mit denen der ICD.

In der 4. Fassung des DSM wurde für die Bestätigung der Diagnose gefordert, dass die Lese- oder Schreibleistungen signifikant unter dem aufgrund des Alters, der altersan-gemessenen Unterrichtung und der Intelligenz zu erwartendem Niveau liegen.

Ab der 5. Fassung, die 2013 veröffentlicht wurde, wird dieses IQ-Diskrepanzkriterium aufgegeben. Eine Beeinträchtigung soll nun immer dann vorliegen, wenn sich die individuelle Lese- oder Schreibleistung im Vergleich zur aufgrund der Klassenstufe oder dem Alter zu erwartenden Leistung um mehr als 1,5 Standardabweichungen unterscheidet. In bestimmten Ausnahmefällen könne auch eine Standardabweichung ausreichend sein um die Diagnose zu stellen. Der Verzicht auf das Diskrepanzkriterium zur Intelligenz stimmt mit der aktuellen Forschungslage (Klicpera et al. 1993a; Marx et al. 2001; Weber et al. 2002) überein, wonach sich in den veröffentlichten Studien die Gruppen von Kindern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung bei durchschnittlicher Intelligenz und Kindern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung bei allgemeiner Leis-tungsschwäche mit unterdurchschnittlicher Leistung in IQ-Tests überwiegend weder bezüglich der Therapierbarkeit noch in Hinsicht auf die Ätiologie unterscheiden. Eine Unterscheidung der Gruppen hat somit hinsichtlich der Beurteilung einer Therapie- oder Förderwürdigkeit keine Bedeutung.

Bis heute bleibt strittig, ob die Intelligenz als Kriterium für eine Diagnosestellung hinzugezogen werden soll. Vor allem von pädagogischer Seite wurde scharfe Kritik am IQ-Diskrepanzkriterium geäußert (Scheerer-Neumann 2003, 40; Büchner et al. 2015, 14;

Valtin 2015, 3).

Zur Aufstellung einer Definition von Lese- und Schreib-Störungen ist auch eine 2015 in Deutschland veröffentlichte Leitlinie heranzuziehen. Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtsschreibstörung wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell-schaften (AWMF) herausgegeben und entstand in Zusammenarbeit mit Fachkräften aus der Medizin sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychothe-rapie. Interessanterweise wurden in die Erstellung der Leitlinie auch Verbände anderer Fachrichtungen (beispielsweise aus den Bereichen Sprachtherapie, Heilpädagogik und

Sonderpädagogik) einbezogen, sodass es zu einem interdisziplinären Austausch auch zwischen den konträren Positionen der Medizin und Pädagogik kommen sollte. Nach der Veröffentlichung der Leitlinie bemängelten Verbände aus den Erziehungswissen-schaften und der Deutschdidaktik jedoch, dass sich ihre Standpunkte in der Leitlinie nicht wiederspiegelten und sie distanzierten sich ein weiteres Mal eindeutig von einer medizinischen Definition.

Die Leitlinie ist aufgrund inhaltlicher Schwächen nur bedingt für eine Begriffsbildung hilfreich. Begrifflichkeiten werden in der Leitlinie häufig nur vage definiert und teilwei-se wird die aktuelle Forschungslage nicht berücksichtigt.

So wird zur Diagnosestellung einer Lese-Rechtschreib-Störung in der Leitlinie voraus-gesetzt, dass beim Auftreten von Schwierigkeiten im Lese- und Schreiberwerb Seh- oder Hörstörungen sowie neurologische, psychische oder motorische Störungen ebenso wie eine unzureichende Beschulung oder intellektuelle Einschränkungen als Ursache für die Probleme ausgeschlossen werden können (AWMF 2015, 5). Die Leitlinie lässt an dieser Stelle allerdings offen, ab wann intellektuelle Einschränkungen die Ursache für die Schwierigkeiten beim Lese- und Schreiberwerb sein können.

Außerdem wird in der Leitlinie empfohlen eine Lese-Rechtschreib-Störung dann zu diagnostizieren, wenn die Lese- und/oder Rechtschreibleistungen deutlich unter dem Niveau liegen, welches "aufgrund der Altersnorm, oder der Klassennorm oder der Intelligenz zu erwarten ist" (AWMF 2015, 24). Allein durch das "oder" kann es aber schon zu keiner einheitlichen Ermittlung der betroffenen Kinder kommen. Je nachdem ob zusätzlich die Diskrepanz zur Intelligenz zur Diagnose hinzugezogen wird, ergeben sich mehr oder weniger Betroffene als wenn nur die Altersnorm oder die Klassennorm als Kriterien berücksichtigt werden.

Die Diskrepanz soll laut Leitlinie 1,5 Standardabweichungen (SD) ausmachen und "die Leistung in den einzelnen Lernbereichen sollte mindestens unterhalb des Durchschnittsbereichs (mind. 1 SD Abweichung von Mittelwert) liegen" (AWMF 2015, 24).

Daraus ergibt sich für den Ablauf der Diagnostik folgendes Schema:

Abb. 3: Mögliche Wege der Diagnostik in der AWMF-Leitlinie

Abbildung 3 zeigt deutlich, dass sich die Arbeitsgruppen in der Leitlinie auf keine einheitliche Definition einigen konnten. Zudem kann von dem Richtwert der 1,5 Standardabweichungen abgewichen und ein Wert von 1 SD zugrundegelegt werden, wenn „die Lese- und / oder Rechtschreibschwierigkeiten durch Evidenz aus der klinischen Untersuchung und den Ergebnissen der psychometrischen Verfahren belegt werden“ (ebd.).

Zusätzlich kann laut Leitlinie bei einer weiteren Gruppe von Kindern eine Lese-Rechtschreib-Störung diagnostiziert werden: Kinder, die nur durch das Anwenden besonderer Strategien und Kompensation den unteren Durchschnittsbereich bei Lese- und Rechtschreibtests erreichen, können auch in die Diagnose einer Lese-Rechtschreib-Störung eingeschlossen werden (AWMF 2015, 6). Vermutlich soll so sichergestellt sein, dass diesen Kindern im Grenzbereich Förderungen nicht verschlossen bleiben. Die Leitlinie lässt jedoch offen wie diese Kinder genau diagnostiziert werden sollen und bleibt somit ein weiteres Mal vage formuliert. Die Erziehungswissenschaften kritisie-ren, dass dadurch eine viel zu große Zahl an Kindern in die LRS-Definition einge-schlossen wird (Valtin 2015, 3).

Aus welchen Gründen das Intelligenz-Kriterium hinzugezogen wird, geht nicht aus der Leitlinie hervor. Ein IQ-Diskrepanzkriterium würde nur Sinn machen, wenn man annimmt, dass es zwei Gruppen von Betroffenen gibt, die sich hinsichtlich der Symp-tome, der benötigten Interventionsmaßnahmen oder der Therapierbarkeit unterschei-den. Stattdessen werden in der Leitlinie sogar Studien angeführt, die bestätigen, dass zwischen den Gruppen von Kindern mit einer Diagnose der Lese-Rechtschreib-Störung

auf der Basis einer Alters- bzw. Klassennormdiskrepanz und Kindern mit einer Diag-nose der Lese-Rechtschreib-Störung aufgrund des IQ-Diskrepanzkriteriums keine eindeutigen Unterschiede in Bezug auf die Fehlerqualität, die genetischen Besonderhei-ten oder die Therapieerfolge erkennbar sind (AWMF 2015, 25 ff.).

Darüber hinaus unterstellt die Diskrepanzdefinition einen hohen Zusammenhang zwischen der Schriftsprachleistung und dem IQ. Denn wenn eine Lese-Rechtschreib-Störung nur dann vorliegt, wenn „die Leseleistung und / oder Rechtschreibleistung deutlich unter dem Niveau liegt, das aufgrund [...] der Intelligenz zu erwarten ist“

(AWMF 2015, 24), besagt dies, dass die Intelligenz das Potential zum Erlernen der Rechtschreibung oder zum Erreichen einer bestimmten Lesegeschwindigkeit repräsen-tiert (Deimel 2002, 122).

Scheerer-Neumann kritisiert schon 2003, dass zwischen IQ und Schriftsprachleistung aber nur ein mittlerer Zusammenhang gefunden wurde (mit einem Korrelationskoeffi-zienten zwischen r = .30 und r = .60). In Studien wurde zudem festgestellt, dass sich für die Korrelation zwischen nicht-sprachlicher Intelligenz und Lese- und Schreibfähigkei-ten ein geringerer Wert ergibt (ca. r = .30) als wenn ein IQ-Test mit Aufgaben zur sprachlichen Intelligenz bei der Berechnung herangezogen wird (ca. r = .50) (Zöllner &

Roos 2009, 56; Dummert 2014 et al., 123).

Dies bedeutet insgesamt, dass „alle Kombinationen denkbar“ (Scheerer-Neumann 2003, 41) sind: Durchschnittlich begabte Kinder können sowohl durchschnittliche als auch unterdurchschnittliche Lese- und Rechtschreibleistungen zeigen. Analog dazu existie-ren unterdurchschnittlich begabte Schüler, welche sowohl durchschnittliche als auch unterdurchschnittliche Lese- und Rechtschreibleistungen aufweisen.

Scheerer-Neumann liefert zudem ein weiteres Argument gegen die Anwendung der Diskrepanzdefinition. Die Beherrschung der Schriftsprache sei eine Schlüsselkompe-tenz für die Teilhabe an der Gesellschaft und sollte allein schon deshalb allen Kindern vermittelt werden (Scheerer-Neumann 2015, 26). Zusammenfassend existiert keine nachvollziehbare Grundlage um die Diskrepanzdefinition aufrechtzuerhalten.

Valtin veröffentlichte mit der Zustimmung der Gesellschaft für Erziehungswissenschaf-ten eine Stellungnahme zur Leitlinie und beanstandet darin ein unbegründetes Heran-ziehen der Intelligenz als Kriterium für die Diagnose. Auch sieht sie die scheinbar willkürliche Festlegung von Grenzwerten kritisch und zieht daher insgesamt das Fazit,

dass die Leitlinie für die Behandlung der betroffenen Kinder nicht hilfreich sei (Valtin 2015, 2).

Ein erklärtes Teilziel der Leitlinie, "klare, empirisch fundierte Handlungsanweisungen für eine eindeutige und objektive Diagnostik der Lese- und/oder Rechtschreibstörung" (AWMF 2015, 17) zu geben, kann daher als eindeutig verfehlt angesehen werden.

Die Leitlinie hat es nicht geschafft, die Positionen der verschiedenen Fachdisziplinen miteinander zu vereinen, stattdessen gilt weiterhin, dass die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Fachdisziplinen (insbesondere der Medizin und der Pädago-gik) über eine gemeinsame und widerspruchsfreie Definitionsfestlegung bis heute fortbesteht.