• Keine Ergebnisse gefunden

2. THEORIE

2.1 Entwicklungspsychologische Perspektive

2.1.2 Bindung

2.1.2.1 Bindung in der Kindheit

Bindung läßt sich im Sinne eines primären, universellen Motivs interpretieren. „According to Kagan (1972), the goal of a primary universal motive is to seek certainity and to resolve uncertainty in order to create an order in the diffuse stream of events“ (Friedlmeier, unver-öffentlichtes Manuskript, S. 8). Der Motivbegriff, der einen angestrebten Zielzustand bein-haltet, kann im Sinne eines hypothetischen Konstrukts verstanden werden, das Aussagen darüber erlaubt, unter welchen Bedingungen ein Motiv aktualisiert wird, und welche Wirkungen dies mit sich bringt (Heckhausen, 1980).

So beschreibt Bowlby (1969, 1988) Bindung als angeborenes, grundlegendes Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit, Nähe und Schutz, das sich je nach Alters- bzw. Entwicklungsstand auf Verhaltensebene durch Schreien, Anklammern oder aktive Bewegung auf seine primäre Bezugsperson hin äußert. Dem Bindungssystem ist das Explorationssystem komplementär zugeordnet. Ungestörtes Explorationsverhalten zeigen Kinder dann, wenn sie sich sicher fühlen und die Bezugsperson erreichbar wissen (Bowlby, 1984). Das Bindungs-verhaltenssystem wird durch unerwartete Situationen oder bei drohender Unsicherheit aktiviert und ist auf die Bindungsperson, meist die Mutter, hin ausgerichtet, die dem Kind gegenüber entsprechendes Fürsorgeverhalten zeigt. Ist die Nähe zur Bindungsperson hergestellt und Schutz und Hilfe verfügbar, wird das Bindungsverhalten beendet (Bowlby, 1984). Die Funktion des Bindungsverhaltenssystems trägt aus evolutionsbiologischer Sicht zur Sicherung des Überlebens der Nachkommenschaft bei (Bowlby, 1984).

Unter ontogenetischer Perspektive lernt das Kind, sein Bindungsverhalten an spezifische Bedingungen anzupassen, die von der Bezugsperson geschaffen werden (Ainsworth, 1969).

Ainsworth (1967) konnte im Rahmen einer Beobachtungsstudie mit ugandischen Kindern im Alter bis zu 15 Monaten verschiedene Qualitäten von Bindungsverhalten beobachten und unterschied sicher-gebundene, unsicher-gebundene und nicht-gebundene Kinder. Sicher-gebundene Kinder zeigten altersangemessenes Bindungsverhalten, wie differenziertes Lächeln oder Anklammern und verhielten sich überwiegend ruhig in Anwesenheit der Mutter. Unsicher-gebundene Kinder zeigten ebenfalls altersangemessenes Bindungs-verhalten, schrien aber häufig und tolerierten kaum eine räumliche Distanz zur Mutter.

Nicht-gebundene Kinder hingegen zeigten kein altersangemessenes Bindungsverhalten.

Diese drei Qualitäten von Bindungsverhalten wurden von Ainsworth (1978) in einer Folge-studie mit amerikanischen Kleinkindern weiter in sicher, vermeidend und unsicher-ambivalent differenziert. Zur Klassifikation der Bindungsstile wurde ein standardisiertes Verfahren, der sog. „Fremde -Situation-Test“ (Ainsworth & Wittig, 1969) entwickelt, dem die Annahme zugrunde liegt, daß durch eine Trennungsphase von der Mutter das Bindungsbedürfnis des Kindes aktiviert wird. Hierzu wird das Kind zuerst in Anwesenheit der Mutter hinsichtlich seines Explorationsverhaltens in einem ihm unbekannten Setting beobachtet. Dann verläßt die Mutter kurzzeitig den Raum, was die Aktivierung des Bindungsbedürfnisses beim Kind hervorrufen und sich im Explorationsverhalten bemerkbar machen sollte. Nach dieser Trennungsphase betritt die Mutter wieder den Raum und in der sog. Wiedervereinigungsphase wird das Bindungsverhalten des Kindes gegenüber der Mutter beobachtet.

In einer Studie von Ainsworth (1978) zeigten die als sicher klassifizierten Kinder Typ-B-Verhalten: Sie nutzten die Mutter als sichere Basis, um die ihnen unbekannte Umgebung zu explorieren. In Abwesenheit der Mutter war dieses Explorationsverhalten weniger ausge-prägt. In der Wiedervereinigungsphase suchten die Kinder zunächst Körperkontakt bei der Mutter und zeigten erneutes Explorationsverhalten, wenn das Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit wiederhergestellt war.

Die als unsicher-ambivalent klassifizierten Kinder zeigten Typ-C-Verhalten: Ihr Explorationsverhalten war weniger ausgeprägt und sie suchten häufiger die Nähe der Mutter auf. In Abwesenheit der Mutter zeigten sie kaum Explorationsverhalten und ließen sich in der Wiedervereinigungsphase schwer beruhigen bzw. drückten der Mutter gegenüber Ärger oder Ablehnung aus (Ainsworth, 1978).

Unsicher-vermeidende Kinder mit Typ-A-Verhalten explorierten in Anwesenheit der Mutter die Umgebung. Allerdings suchten sie im Vergleich zu sicher oder ambivalent gebundenen Kinder die Mutter nicht in dem Ausmaß als sichere Basis auf. In Abwesenheit der Mutter zeigten sie scheinbar weiterhin ungestörtes Explorationsverhalten, das aber durch psycho-physiologische Stressreaktionen gekennzeichnet war (vgl. Spangler & Grossmann, 1993). In der Wiedervereinigungsphase wandten sich die Kinder von der Mutter ab und zeigten vermeidendes Verhalten (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978).

Grossmann und Grossmann (1996) untersuchten deutsche Kinder (N = 92), im Alter von 12 bis 15 Monaten. Als sicher gebunden wurden 45%, als vermeidend gebunden 41% und als ambivalent gebunden 10% der Kinder eingeschätzt.

Main und Solomon (1986) differenzieren einen weiteren Typ von Bindungsqualität, nämlich desorganisiertes bzw. desorientiertes Verhalten, das mit Grimassieren, Erstarren u.ä. einher-geht. Diese Kinder befinden sich scheinbar in einem inneren Konflikt, zu dem sie kein adäquates Verhaltensprogramm haben. Ihr Verhalten ist kennzeichnend für eine besonders unsichere Bindung und läßt sich oft im Zusammenhang mit Mißhandlung und traumatischen Erfahrungen beobachten.

Generell läßt sich die Frage stellen, durch welche Variablen die Bindungsqualität maßgeb-lich beeinflußt wird. Ainsworth (1978) nahm einen Zusammenhang zwischen der Qualität des Bindungsverhaltens und der Verfügbarkeit und Sensibilität der Mutter an. Dieser Zu-sammenhang wurde von Grossmann und Grossmann (1989) empirisch überprüft. Das von den Autoren formulierte Konzept der Responsivität ermöglicht eine differenzierte Beschreibung der Variablen, die seitens der Mutter wirksam werden. Responsivität umfaßt neben der erforderlichen Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind eine angemessene und prompte Reaktion auf dessen Signale. Mütter sicher gebundener Kinder zeigten eine ausgeprägtere Verfügbarkeit und reagierten responsiver, d.h. angemessener und prompter auf die Bedürfnisse ihrer Kinder. Mütter vermeidender Kinder reagierten mit größerer Wahrscheinlichkeit zurückweisend und lösten so im Kind eine Reaktion aus, die als Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt interpretiert wurde: Bei drohender Unsicherheit suchten die Kinder Kontakt zur Mutter. Die Intensität des Bindungsverhaltens wurde aber durch die Zurückweisung weiter verstärkt, so daß das damit verbundene erhöhte Arousal nur durch vermeidendes Verhalten reduziert werden konnte. Mütter ambivalent gebundener Kinder zeigten kein zurückweisendes Verhalten ihren Kindern gegenüber, reagierten aber

auch nicht so responsiv wie Mütter sicher gebundener Kinder. Dieses Verhalten läßt sich deswegen am ehesten als inkonsistent beschreiben (Grossmann & Grossmann, 1989).

Bindung wird jedoch nicht nur auf Verhaltensebene relevant, sondern hat im Sinne eines erweiterten Konzepts Einfluß auf die gesamte sozio-emotionale Entwicklung (s. Grossmann

& Grossmann, 1991; Sroufe & Fleeson, 1986). Die Erfahrungen, die ein Kind im Zusammenhang mit der Aktivierung und Befriedigung des Bedürfnisses nach Sicherheit macht, d.h. die Reaktion der Bezugsperson auf das gezeigte Bindungsverhalten, werden mit zunehmendem Alter in Form einer kognitiven Repräsentation verinnerlicht. Bowlby (1969) bezeichnet diese Struktur als internal working model, die Überzeugungen hinsichtlich anderer und sich selbst auf der Basis abstrahierter Bindungserfahrungen beinhaltet. Das

„model of others“ beinhaltet somit Überzeugungen in Bezug auf die Verfügbarkei t und Responsivität anderer und kann auf diese Art und Weise grundlegende Einstellungen und Erwartungen hinsichtlich Beziehungen prägen (s. Blain, Thompson & Whiffen, 1993). Das

„model of self“ beinhaltet Überzeugungen hinsichtlich des eigenen Selbstwerts. Ein positives Selbstbild hängt davon ab, ob das Kind durch eine angemessene Reaktion auf seine Signale Wertschätzung erfährt (Bowlby, 1988).

Je nach Art der bindungsrelevanten Erfahrungen können qualitative Unterschiede in der Ausdifferenzierung des working models angenommen werden, so daß sich Bindung nicht nur auf Verhaltensebene beobachten, sondern auch auf kognitiver Ebene annehmen läßt. Die Ausbildung der im working model repräsentierten Überzeugungen läßt sich als „Inter -nalisierungsprozeß“ beschreib en, der eine Ausdifferenzierung des Bindungsmotivs hinsichtlich seiner Struktur und Funktion ermöglicht (Friedlmeier, unveröffentlichtes Manuskript). Das Bindungsmotiv wird im Entwicklungsverlauf zunehmend in ein Motiv-system erweitert. Zur Konzeptualisierung des MotivMotiv-systems sei auf Kornadt (1984) verwiesen, dessen allgemeine Annahmen über das Motivsystem sich auch auf das Bindungsmotiv anwenden lassen: Neben einfachen Reiz-Reaktionsverknüpfungen, vermittelt durch konkrete Bindungserfahrungen, werden zunehmend kognitive Aspekte wirksam, die weitere Zielorientierungen und Handlungen beeinflussen können. So konnten Main, Kaplan und Cassidy (1985) in Abhängigkeit qualitativ verschieden ausgeprägter working models Unterschiede in Bezug auf bindungsrelevante Emotionen, Kognitionen, Sprach- und Ge-dächtnisprozesse nachweisen.

In der bisherigen Ausführung wurde lediglich ein unidirektionaler Zusammenhang zwischen bindungsrelevanten Erfahrungen, der Ausbildung des working models und dessen Einfluß

auf weitere Handlungen, Kognitionen und Emotionen berücksichtigt. Wird das Bindungs-motiv und dessen Ausdifferenzierung in eine interaktionistische Perspektive integriert, muß der Einfluß von sozialem Feedback auf das Motivsystem berücksichtigt werden, was von Friedlmeier (unveröffentlichtes Manuskript) in Anlehnung an Valsiner (1988) als Externa-lisierungsprozeß bezeichnet wird. Das Bindungsmotiv ist somit stark mit aktuellem Interaktionsverhalten verknüpft, und wechselseitige Austauschprozesse können in spe-zifischen Situationen Veränderungen des working models bewirken: Bindungsrelevante Erfahrungen, die im Widerspruch zu den verinnerlichten Überzeugungen stehen, können nicht ohne weiteres in die bestehende Struktur integriert werden. In diesem Zusammenhang kann es zu einer Umstrukturierung des working models kommen. Diese dynamische Konzeptualisierung von Bindung, die eine Parallele zu Piagets (1972) Konzept der Assimilation und Akkommodation aufweist, läßt sich auf theoretischer Ebene dem sog.

Trait-Konstrukt von Bindung (s. Maccoby & Masters, 1970; Sroufe & Waters, 1977) gegenüberstellen, schließt aber eine Integration empirischer Belege zur Stabilität von Bindungsstilen in verschiedenen Altersabschnitten (s. Grossmann & Grossmann, 1991) nicht aus. Soziales Feedback bzw. neue bindungsrelevante Erfahrungen können ebenfalls so strukturiert sein, daß sie das bereits bestehende working model bestätigen.

Unter entwicklungspsychologischer Perspektive ist Bindung über die gesamte Lebensspanne wirksam (Bowlby, 1979). Über das Konzept des working models lassen sich Bindungsstile auch im Jugend- und Erwachsenenalter differenzieren. Da Bindung in erster Linie in der Kindheit und im Erwachsenenalter erforscht wurde, liegen wenig empirische Belege für die Erfassung der Bindungsstile im Jugendalter vor.