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A. EINFÜHRUNG UND THEORETISCHER HINTERGRUND

4. T HEORETISCHER H INTERGRUND UND E NTWICKLUNG DER M ODELL - ORIENTIERTEN

4.1 Modellbasierte Aphasietherapie

4.1.2 Beobachtungskriterien zur funktionalen Lokalisation im Modell

Die Beschreibung der Ausfallerscheinungen der für die Sprachproduktion wichtigsten funktionalen Ebenen dient als Basis der Lokalisation aphasischer Symptome im Modell, was die Grundlage modellbasierter Therapie darstellt.

Die den Sprachverarbeitungsmodellen zugrunde liegende Hypothese besagt, dass jede Verarbeitungsstufe des Modells durch erworbene Hirnschädigung selektiv beeinträchtigt sein kann (Howard, 2000). Die individuelle funktionale Lokalisation im Modell kann mittels konvergierender Ergebnisse aus folgenden Bereichen bestimmt werden. Erstens sind die Leistungen des Patienten in verschiedenen Aufgabenstellungen, denen spezifische Verarbeitungsstufen im Modell zugeordnet sind, ein wichtiges Kriterium zur Lokalisation.

Zweitens können auch beobachtbare Effekte verschiedener psycholinguistischer Variablen, wie zum Beispiel Abstraktheit, Frequenz, Länge oder Silbenkomplexität der zu bearbeitenden Wörter Hinweise auf die funktionale Lokalisation im Modell geben. Drittens kann auch die Art der produzierten Fehler zur Klärung der Störung im Modell beitragen. Während mit Ergebnissen aus einem Bereich die Störung meist nicht lokalisiert werden kann, ist vielmehr eine Kombination der Beobachtungen aus den drei Bereichen Aufgaben, Effekte und Fehler notwendig. So kann beispielsweise der Fehlertyp phonematische Paraphasien beim Nachsprechen durch Störung der verschiedensten am Nachsprechen beteiligten Ebenen verursacht sein. Erst die Kombination mit den Leistungen in anderen Aufgaben oder dem Auftreten möglicher Effekte lässt eine genauere Lokalisation im Modell zu.

Zur detaillierteren Beschreibung der genannten Beobachtungskriterien werden lediglich Störungen der am mündlichen Benennen beteiligten, wichtigsten linguistischen Ebenen (semantisches System, phonologisches Ausgangslexikon und phonologischer Output Buffer) sowie die Störung der Verbindung zwischen semantischem System und phonologischem Ausgangslexikon (Zugriffstörung zum phonologischen Ausgangslexikon) dargestellt. Diese sind im Allgemeinen die Hauptursache für Störungen der verbal-expressiven Verarbeitung und somit von besonderer Relevanz, da deren Therapie den Schwerpunkt des modellbasierten Ansatzes innerhalb der MOAT bildet.

Störung des semantischen Systems

Aufgaben: Da das Modell ein einziges semantisches System annimmt, treten bei den Patienten Schwierigkeiten sowohl bei expressiven als auch bei rezeptiven Aufgabenstellungen auf (Kotten, 1997). Während nicht-sprachliche konzeptuelle Repräsentationen ungestört sind, was sich in einer intakten Leistung im Pyramids and Palm Trees Test2 (Howard & Patterson, 1992) zeigt, sind die lexikalisch semantischen Repräsentationen betroffen, die mit einem gestörten Sprachverständnis einhergehen. Nachsprechen und lautes Lesen können bei einer isolierten Störung des semantischen Systems ungestört funktionieren, da diese Leistungen auch ohne Beteiligung des semantischen Systems möglich sind.

Effekte: Für ihre Benennleistung ist vor allem die Konkretheit oder Abbildbarkeit der Zielitems ausschlaggebend (Nickels & Howard, 1994; Nickels, 1995). Je konkreter und besser abbildbar die Begriffe sind, desto besser ist die Benennleistung. Diese bessere Benennleistung kann sich sowohl in einer erhöhten Anzahl korrekter Antworten als auch in einer verkürzten Benennzeit bei konkreten und gut abbildbaren Items äußern. Die Länge der Wörter hat hingegen keinen Einfluss auf die Benennleistung. Die gestörten beziehungsweise unterspezifizierten lexikalisch-semantischen Repräsentationen dieser Patientengruppe zeigen sich in der Beobachtung, dass die Patienten auf phonematischen Hilfestellungen häufig mit einer semantischen Paraphasie (insbesondere mit einem koordiniertem Mitglied der gleichen semantischen Kategorie) reagieren. Dies kann dadurch erklärt werden, dass durch mangelnde semantische Differenzierung ein Wort mit demselben Anlaut durch den Cue über die kritische Schwelle gehoben wird. So könnte beispielsweise die Reaktion auf das Bild einer Birne nach dem Cue „B“, Banane sein.

2 Im Pyramids and Palm Trees Test müssen die Patienten zu einen Stimulus (zum Beispiel „Pyramide“) ein anderes Item aus einer Auswahlmenge von zwei Items („Palme“ oder „Nadelbaum“) zuordnen, was rein konzeptuelles im Gegensatz zu lexikalisch-semantischem Wissen testet und deshalb bei Patienten mit Defiziten im semantischen System unbeeinträchtigt ist.

Fehlerarten: Auch ohne Anlauthilfe produzieren die Patienten häufig semantische Paraphasien im Wortabruf, insbesondere wenn viele gemeinsame Merkmale von Zielitem und semantischem Ablenker zeitgleich aktiviert werden, nicht aber das entscheidende Merkmal des Zielworts. Ebenso können auch Wortfindungsblockaden auftreten, wenn insgesamt zu wenige Merkmale aktiviert wurden.

Diskonnektionsstörung zwischen semantischem System und phonologischem Ausgangslexikon

Aufgaben: Das Sprachverständnis ist bei einer Störung auf dieser Ebene unbeeinträchtigt, so dass von einer ungestörten Funktion des semantischen Systems auszugehen ist. Ebenso arbeitet auch das phonologische Ausgangslexikon korrekt (fehlerfreies Lesen irregulärer Wörter), so dass Probleme lediglich beim mündlichen Benennen auftreten, nicht jedoch beim schriftlichen Benennen, dem Nachsprechen oder dem lauten Lesen.

Effekte: Die Leistungen eines Patienten beim mehrmaligen Benennen des gleichen Items können sehr schwanken, was darauf schließen lässt, dass solche Unterbrechungen nicht dauerhaft sein müssen. Die Benennleistung wird durch korrekte Anlauthilfe nicht verbessert, da durch die Diskonnektionsstörung keine semantischen Aktivierung weitergeleitet wird, die man auf Ebene des phonologischen Ausgangslexikons mit Hilfe des Cues über die kritische Schwelle heben könnte.

Fehlerarten: Es treten in erster Linie Umschreibungen des gesuchten Wortes auf, da die semantischen Merkmale trotz unzugänglicher Wortform korrekt aktiviert werden können.

Störung des phonologischen Ausgangslexikons

Auf Ebene des phonologischen Ausgangslexikons muss zwischen einem erhöhten Aktivierungslevel von Wörtern und einer Störung in der Aktivierung von Wortformen unterschieden werden. Diese zwei Störungsformen unterscheiden sich zum Beispiel in der Wirkungsweise der Anlauthilfe, so dass zumindest an dieser Stelle kurz auf Unterschiede eingegangen wird.

Aufgaben: Aufgaben zum Bereich Sprachverständnis bereiten keine Probleme, da die semantische lexikalische Ebene intakt ist. Nachsprechen und lautes Lesen sind ebenfalls nicht betroffen, zumindest in den Fällen, in denen einerseits die Verarbeitungsprozesse auf einer sublexikalischen Ebene stattfinden können und somit das phonologische Eingangslexikon umgangen werden kann (Franklin et al. 2002, Nettleton & Lesser, 1991) und in denen

andererseits nur der Aktivierungslevel erhöht ist. Schwierigkeiten treten somit in erster Linie beim mündlichen Benennen auf.

Effekte: Eine Störung des phonologischen Ausgangslexikon ist vor allem mit dem Auftreten von Frequenzeffekten verbunden (Franklin et al., 2002). Dass heißt, je seltener ein Wort in einer Sprache vorkommt, desto schwieriger ist es korrekt zu benennen und desto länger sind seine Benennzeiten. Die Konkretheit oder Länge der Items wirkt sich hingegen nicht auf die Benennleistung aus. Im Umgang mit der Anlauthilfe zeigen Patienten mit einem erhöhten Aktivierungslevel von Wörtern einen großen Nutzen von der korrekten Anlauthilfe. Da die Informationen aus dem semantischen System zwar an das phonologische Eingangslexikon weitergeleitet wurden, dort aber durch den erhöhten Aktivierungslevel nicht verarbeitet werden können, hilft der korrekte Anlaut über den kritischen Aktivierungslevel hinweg. Im Gegensatz dazu zeigen Patienten mit einer Störung in der Aktivierung von Wortformen meist keinen Nutzen von der Anlauthilfe, da deren Wortformen entweder nicht mehr aktiviert werden können oder vollständig verloren sind (Kotten, 1997).

Fehlerarten: Die Patienten reagieren beim Benennen meist mit Umschreibungen (Nettleton &

Lesser, 1991) oder Nullreaktionen, teils auch mit Äußerungen unterschiedlicher phonologischer Nähe zum Zielwort. So können die Silbenstruktur (/webelofon/ statt Telefon) oder die Phoneme des Zielworts (/teflome/ statt Telefon) so weit verändert sein, dass nur noch wenige oder einzelne Phoneme mit dem Zielwort übereinstimmen (/mits/ statt Schiff). Die Probleme der Patienten beim Benennen sind überwiegend konsistent, so dass ein und dasselbe Item immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Fehler auch konsequent fehlgebildet werden, so dass unterschiedliche Fehler bei ein und demselben Item auftreten.

Störung des phonologischen Ausgangsbuffers

Aufgaben: Eine Störung auf Ebene des phonologischen Ausgangsbuffers wirkt sich auf das Benennen ähnlich negativ aus wie auf das Nachsprechen oder das lauten Lesen und betrifft somit alle verbal expressiven Aufgaben. Im Gegensatz dazu sollten im schriftlichen Output deutlich weniger Probleme auftreten. Trotz der Störung auf Ebene des phonologischen Ausgangsbuffers haben die Patienten einen Zugriff auf die korrekten Eintragungen im phonologischen Ausgangslexikon. Dies kann durch die Tatsache nachgewiesen werden, dass Patienten auf Bildern dargestellte Homophone (Wörter unterschiedlicher Bedeutung und gleicher Wortform, zum Beispiel Kiefer) hinsichtlich ihrer Zusammengehörigkeit beurteilen können, selbst bei Items, die sie nicht benennen können. Die Patienten zeigen auch keine

Zeichen einer Störung auf der Ebene des semantischen Lexikons, das heißt, das Sprachverständnis arbeitet intakt.

Effekte: Die Patienten haben vor allem bei Items mit zunehmender Wortlänge Schwierigkeiten (Caplan et al., 1986). Darüber hinaus ist mit einer besseren Leistung für Wörter gegenüber Neologismen zu rechnen. Shallice et al. (2000) sowie Franklin et al. (2002) erklären dies durch ein Kontinuum der Symptomatik abhängig vom Schweregrad. So ist bei einer leichten Störung lediglich die Verarbeitung von Neologismen gestört, wohingegen bei einer schweren Störung auch die Verarbeitung von Wörtern beeinträchtigt sein kann und die der Neologismen entsprechend schwerer als bei einer leichten Störung. Die Benennleistungen werden durch semantische Itemcharakteristika wie Konkretheit nicht beeinflusst.

Fehlerarten: Die Fehler der Patienten sind überwiegend phonologischer Natur. Dies spricht dafür, dass die Fehler erst nach einem Zugriff zum korrekten Eintrag im phonologischen Ausgangslexikon entstehen. Die Silbenstruktur bleibt somit erhalten und die Phoneme der Paraphasien weisen eine gewisse Ähnlichkeit zum Zielphonem auf. In den meisten Fällen werden die Fehler bemerkt und können häufig auch korrigiert werden. Sind die Patienten nicht in der Lage das Zielwort zu produzieren, finden sich teils Umschreibungen. Semantische Fehler treten hingegen nicht auf.

Trotz dieser auf den ersten Blick sehr strukturiert erscheinenden Einteilung sei an dieser Stelle angemerkt, dass oben genannte vier Störungsebenen eine deutliche Vereinfachung der Problematik darstellen. So sind die Probleme vieler Patienten nicht klar nur einer gestörten Funktion im Modell zuzuordnen. Vor allem schwerer betroffene Patienten zeigen häufig Defizite auf mehreren Ebenen. Auch wenn die Zuordnung nicht immer 1:1 gelingt, kann das Ziel dieser Unterteilung (nämlich einen grober Eindruck über die funktionelle Lokalisation der Defizite der Patienten als Grundlage für therapeutische Interventionen zu gewinnen) erfüllt werden. Wie im folgenden Kapitel dargestellt wird, ist die modellbasierte Therapie bei weitem nicht so spezifisch und ausschließlich wie die häufig geforderte Lokalisation der Defizite im Modell. So wird ein Therapieansatz nicht selten zur Behandlung verschiedener Störungsebenen verwendet, wenn auch teils mit unterschiedlichem Erfolg.