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4.4 Das visuelle System der M¨ annchen von P. icarus

4.4.5 Bedeutung f¨ ur das Verhalten

R¨aumliche Aspekte

Es wurde, ohne experimentelle Belege, in der lepidopterologischen Literatur zuweilen an-genommen, daß Bl¨aulinge aufgrund eines schlechten r¨aumlichen Aufl¨osungsverm¨ogens die sehr kleinen Fleckenmuster auf den Fl¨ugelunterseiten, wie sie beiP. icarus und sehr vie-len weiteren Arten der Lycaenidae zu finden sind, nicht aufl¨osen k¨onnen und daß diese Flecken deshalb

”unsichtbar“ f¨ur die Artgenossen w¨aren. Mit den Ergebnissen dieser Ar-beit kann nun berechnet werden, ob die Flecken auf den Fl¨ugelunterseiten von Artgenossen zumindest grunds¨atzlich aufgel¨ost werden k¨onnen und ab welcher Mindestentfernung dies m¨oglich ist. Die optischen Voraussetzungen, ein Musterelement zu sehen, sind sicher dann gegeben, wenn das Sehfeld eines Ommatidiums ganz von diesem Element ausgef¨ullt wird und das Sehfeld von angrenzenden Ommatidien ganz vom benachbarten Musterelement.

Dazu sollen exemplarisch die von weißen Ringen umgebenen schwarzen Flecken der Fl¨ ugel-unterseite betrachtet werden. Ein schwarzer Fleck kann also dann sicher aufgel¨ost werden, wenn er ganz das Sehfeld eines Ommatidiums ausf¨ullt und umgebende Ommatidien auf den umschließenden weißen Saum projizieren. Die Entfernung x, unter der ein solcher Fleck noch aufgel¨ost werden kann, berechnet sich als

x= c

tan ∆Φ (4.4)

mit c als dem Durchmesser des schwarzen Flecks. Wenn c etwa (0,25 mm bis) 0,5 mm betr¨agt und als kleinster gefundener Wert ∆Φ = 0,7 eingesetzt wird, so k¨onnen die schwarzen Flecken ab (20 mm bis) 41 mm Entfernung aufgel¨ost werden. Aber auch wenn f¨ur ∆Φ der deutlich gr¨oßere Wert von 1,0 angenommen wird, der in einem großen Au-genbereich erreicht oder unterschritten wird, so errechnen sich immer noch (14 mm bis) 29 mm. Nun war ∆Φ aber richtungsabh¨angig, und die hier eingesetzten kleinen Werte wurden nur f¨ur ∆Φε, also in vertikaler Richtung gefunden. So kann es durchaus sein, daß die mehr oder weniger runden Flecken auch nur in einer Richtung aufgel¨ost werden k¨onnen. Die Fl¨ugelflecken bei P. icarus sind zumeist mehr oder weniger rund, was be-deutet, daß sie unabh¨angig von der Orientierung des Fl¨ugels (wenn auch nur in einer Richtung) trotzdem aufgel¨ost werden. Bei der sehr variablen Orientierung im Raum der auf der Vegetation balancierenden Weibchen kann dies durchaus bedeutsam sein.

Das Ph¨anomen der richtungsabh¨angig unterschiedlichen Winkelaufl¨osung der Augen ist f¨ur den menschlichen Beobachter, der nicht diesen Einschr¨ankungen des Aufl¨ osungs-verm¨ogens unterliegt, sicherlich nur schwer vorstellbar. Bei anderen Tieren mit leistungsf¨ a-higen Linsenaugen, also vor allem Cephalopoden und anderen Vertebraten, ist es allerdings sogar recht verbreitet. Bei diesen Tieren wird es durch nicht kreisrunde, meist schlitz- oder w-f¨ormige Pupillen verursacht und ist dadurch sofort zu erkennen. Gerade r¨auberische Vertebraten weisen oft senkrechte, schlitzf¨ormige Pupillen auf, und bei ihnen ist daher (zumindest theoretisch und bei exakter Akkomodation) das Aufl¨osungsverm¨ogen in senk-rechter Richtung gr¨oßer als in horizontaler (Rudolf Schwind, Klaus Lunau, pers¨onliche Mitteilungen). Von gr¨oßerer biologischer Bedeutung ist bei diesen Tieren aber wohl, daß die Tiefensch¨arfe f¨ur vertikale Konturen gr¨oßer ist als f¨ur horizontale und damit eine ra-sche Erfassung von (Beute-)Objekten auch ohne exakte Akkomodation erm¨oglicht wird.

Durch Konvergenz der Augen kann dann sehr rasch die (Sprung-)Entfernung bestimmt werden (Rudolf Schwind, pers¨onliche Mitteilung).

Bei der Berechnung der Entfernung, in der ein M¨annchen von P. icarus noch die Fl¨ugelflecken aufl¨osen kann, nach Gleichung 4.4 wurde von dem idealisierten Fall aus-gegangen, daß ein zentrales Musterelement (im obigen Beispiel der schwarze Fleck) das Sehfeld eines Ommatidiums f¨ullt und die benachbarten Ommatidien nur auf dessen Um-gebung (den weißen Ring) projizieren. In diesem Fall ist der Kontrast (vgl. Gleichung 2.5, Seite 37) zwischen den Elementen maximal. Bei gr¨oßeren Entfernungen wird das zentrale Ommatidium immer mehr von der weißen Umgebung des schwarzen Flecks erfassen und die umgebenden Ommatidien einen immer gr¨oßeren Anteil des Umfeldes, also wohl meist von der Hintergrundf¨arbung. Dies bedeutet, daß der Kontrast zwischen dem zentralen Ommatidium und seinen Nachbarn abnimmt. Ab welcher Entfernung der Kontrast nun so klein wird, daß eine Erkennung des Musterelements nicht mehr m¨oglich ist, ist mit den derzeitigen Kenntnissen ¨uber die Sehphysiologie nicht abzusch¨atzen. F¨ur eine solche Aus-sage werden sehr viel mehr Informationen ¨uber die Physiologie der Photorezeptoren und des nachgeschalteten neuronalen Systems ben¨otigt. Zudem spielen hier auch unmittelbar Umweltfaktoren mit hinein, wie die Lichtintensit¨at.

Es kann jedoch festgestellt werden, daß die optischen Voraussetzungen daf¨ur gegeben sind, daß M¨annchen von P. icarus prinzipiell die Fl¨ugelflecken der Weibchen aus einer Entfernung aufl¨osen k¨onnen, die mindestens dem 1,5- bis 4-fachen der K¨orperl¨ange (reicht von ca. 10 mm bis 13 mm; Fl¨ugell¨ange im Mittel 15 mm) entspricht. Diese Entfernungen liegen exakt in dem Bereich, in dem M¨annchen die Weibchen bei der Balz umschwirren, wobei sie bevorzugt die Fl¨ugelunterseiten betrachten. Es sind also alle Voraussetzungen erf¨ullt, um die Fl¨ugelflecken und damit insgesamt das komplexe Muster der Fl¨ ugelunter-seiten in der Balz als Merkmal f¨ur die Partnerwahl heranzuziehen.

Im Freiland ergaben sich keine Hinweise auf eine unterschiedlich h¨aufige Anlockung von M¨annchen aus der Entfernung durch flavonoidfreie und flavonoidreiche Weibchenattrap-pen. Die M¨annchen reagierten ab Entfernungen von 15–25 cm erstmals auf die unbewegten Attrappen, indem sie diese anflogen. Diese Fernanlockung begann also in einem Bereich, in dem die M¨annchen die Fl¨ugelflecken noch nicht einzeln aufl¨osen k¨onnen und in dem diese daher nicht als Merkmal f¨ur die Entscheidung zum Anflug zur Verf¨ugung standen.

Erst als die M¨annchen sich im unmittelbaren Nahbereich der Attrappen befanden, konnte ein Verhaltensunterschied festgestellt werden. Hier interessierten sich die M¨annchen mehr f¨ur die flavonoidreichen, st¨arker UV-absorbierenden Attrappen (Kap. 3.2.2, Seite 94). In diesem Nahbereich k¨onnten nun die einzeln aufgel¨osten Fl¨ugelflecken als Merkmal f¨ur

die Unterscheidung von flavonoidfreien und flavonoidreichen Weibchenattrappen gedient haben.

Spektrale Aspekte

Wie k¨onnten die Fl¨ugelflecken nun im Nahbereich zur Partnerwahl herangezogen werden?

Wie bereits dargestellt, ist der Kontrast (Gleichung 2.5, Seite 37) zwischen benachbar-ten Objekbenachbar-ten einer der wesentlichen Faktoren bei der Unterscheidung von Objekbenachbar-ten. Nun ist der Kontrast nat¨urlich auch wellenl¨angenabh¨angig und kann deshalb bei denselben Objekten f¨ur verschiedene Photorezeptoren ganz unterschiedlich sein (vgl. auch Tab. 3.9, Seite 87). Damit w¨are theoretisch eine einfache Unterscheidungsm¨oglichkeit zwischen fla-vonoidreichen und flavonoidarmen Faltern gegeben, die ohne echtes Farbensehen (nach der Definition von Menzel 1979) auskommt. Dies kann durch einen Vergleich des von ver-schiedenen Rezeptortypen gesehenen Bildes erfolgen. So k¨onnten die Fl¨ugelflecken bzw.

Fl¨ugelmuster flavonoidreicher Tiere zwar im langwelligen Bereich erkennbar sein, im kurz-welligen aufgrund der flavonoidbedingt hohen Absorption aller Fl¨ugelareale aber nicht oder nur schlechter. Bei flavonoidfreien oder flavonoidarmen Tieren hingegen w¨aren die Fl¨ugelflecken auch im kurzwelligen Bereich sehr gut erkennbar. Das heißt also, daß f¨ur die Populationen der unterschiedlichen Rezeptortypen bei der Betrachtung flavonoidrei-cher Tiere deutlich unterschiedliche Fl¨ugelmuster existieren w¨urden, bei der Betrachtung flavonoidfreier Tieren hingegen nicht. Sehr sch¨on illustriert findet man dies auch durch den Vergleich der Photographien im sichtbaren und im UV-Bereich (Abb. 3.1, Seite 56;

Abb. 3.5, Seite 64; Abb. 3.6, Seite 65). Bei flavonoidreichen Tieren gleichen die UV-Photographien den Bildern im sichtbaren, bei flavonoidarmen hingegen nicht. Bei einem solchen Mechanismus ist keine direkte Auswertung der spektralen Zusammensetzung eines Punktes im Raum wie beim Farbensehen notwendig. Es m¨ußten jedoch f¨ur verschiedene Rezeptortypen Bilder von mehr oder weniger großen Raumbereichen erstellt und vergli-chen werden. Minimal m¨ußten allerdings nur drei benachbarte Ommatidien beteiligt sein, wobei das zentrale zum Beispiel einen schwarzen Fl¨ugelfleck betrachtet und die peripheren die weiße Umgebung betrachten.

Denkbar ist nat¨urlich auch eine Unterscheidung zwischen flavonoidfreien und flavo-noidreichen Tieren durch Farbensehen. Dabei w¨are eine eigene Sinnesqualit¨at

”Farbe“

vorhanden, das heißt die spektrale Zusammensetzung eines Flecks im Raum w¨urde un-abh¨angig von ihrer Intensit¨at erkannt und in diesem Verhaltenskontext ausgewertet. Zum einen k¨onnte dies anhand der r¨aumlich weiter ausgedehnten Hintergrundf¨arbung erfol-gen, anhand der r¨aumlich aufgel¨osten Fl¨ugelflecken oder anhand einer Kombination der Farben der verschiedenen Fl¨ugelbereiche, wenn diese bei gr¨oßerer Entfernung nicht mehr aufgel¨ost werden, sondern sich zu einer mittleren Farbe vermischen. Da die M¨annchen von P. icarus im Freilandverhaltensversuch nur im unmittelbaren Nahbereich zwischen den Attrappentypen unterschieden, d¨urften hier die aufgel¨osten Fl¨ugelflecken das aus-schlaggebende Signal darstellen. Die gr¨oßten Unterschiede zwischen flavonoidfreien und flavonoidreichen Tieren bestanden bei den weißen Fl¨ugelflecken. Diese k¨onnen weiß+UV oder weiß−UV sein, das heißt von deutlich unterschiedlicher Farbe f¨ur ein UV-t¨ uchti-ges, farbensehendes Insekt. Daumer (1958) pr¨agte, in Bezug auf das Farbsehsystem der Honigbiene Apis mellifera, eigene Begriffe f¨ur diese Farben: Bienenweiß (weiß und UV-reflektierend) und Bienenblaugr¨un (weiß und UV-absorbierend).

Es sei noch einmal betont, daß P. icarus vermutlich nicht exakt dieselben

Photore-zeptortypen besitzt wie die den Berechnungen zugrundegelegten vonLycaena. Es k¨onnen aber zumindest Photorezeptoren mit einer ¨ahnlichen spektralen Lage vermutet werden, insbesondere im UV-, Blau- und Gr¨unbereich. Grunds¨atzlich sind, trotz aller Unterschiede (Stavenga 1992), diese Photorezeptortypen phylogenetisch sehr alt, nur die Feinabstim-mung in der spektralen Lage unterscheidet sich zumeist in Anpassung an die spezifische Biologie (Kevan et al.2001). Es kann jedoch nicht unerw¨ahnt bleiben, daß bei verschiede-nen Schmetterlingen und auch anderen Insekten teilweise physiologische Besonderheiten gefunden wurden, die die spektrale Empfindlichkeit von Photorezeptoren gegen¨uber ihren Sehpigmenten deutlich ver¨anderten. Dabei handelt es sich um verschiedene Typen opti-scher Filter, die spektrale Empfindlichkeit verschm¨alern oder die Empfindlichkeitsmaxima verschieben (Miller 1979, Lunau & Kn¨uttel 1995, Arikawaet al.1999a,b, Arikawa & Sta-venga 1997), zus¨atzliche lichtsensitive Pigmente, die die spektrale Empfindlichkeit deutlich erweitern (Hamdorfet al. 1992), oder gar um die Exprimierung eines zweiten Rhodopsins in einem Rezeptor (Kitamoto et al. 1998). In den bisher an Lycaeniden vorgenommenen sehphysiologischen Untersuchungen gab es aber keine Hinweise auf solche Besonderheiten.

Es ist nicht bekannt, ob P. icarus wie Lycaena auch einen Rotrezeptor besitzt. Dies erscheint momentan aber eher fraglich (Almut Kelber, Helge Kn¨uttel, unpublizierte Da-ten). Im Kontext dieser Arbeit erwies sich der sehr langwellige Bereich des Spektrums aber als nicht maßgeblich, sondern vor allem der UV- und Violettbereich. P. icarus be-sitzt auf alle F¨alle UV-Rezeptoren, wie ich in Versuchen zur Phototaxis nachweisen konnte (unpublizierte Daten).P. icarus ist auch zu echtem Farbensehen bef¨ahigt, das zumindest die Unterscheidung von Blau und Gelb unabh¨angig von der Intensit¨at erm¨oglicht (Al-mut Kelber, Helge Kn¨uttel, unpublizierte Daten). Dies wurde aber in Versuchen beim Bl¨utenbesuch nachgewiesen und kann nicht auf die Partnerwahl verallgemeinert werden, da die F¨ahigkeit zum Farbensehen im allgemeinen sehr kontextabh¨angig ist. So ist sie bei der Honigbiene nur auf bestimmte Aspekte beim Bl¨utenbesuch beschr¨ankt, w¨ahrend das Sehsystem bei anderen Aufgaben zum r¨aumlichen Sehen, auch beim Bl¨utenbesuch, farbenblind ist (Srinivasan & Lehrer 1988, Lehrer & Bischof 1995, Giurfa et al. 1997).

Bei der Untersuchung des Farbensehens werden vor allem drei physikalische Para-meter von Farben unterschieden, die dominante Wellenl¨ange, die spektrale Reinheit und die Intensit¨at, die beim Menschen und der Honigbiene den getrennt wahrgenommenen Empfindungen Farbton, S¨attigung und Helligkeit entsprechen (Lunau 1990, 1993a). Ein weiteres wichtiges Maß f¨ur Farben und ihren Vergleich ist der Abstand zwischen Farborten in einem artspezifischen, durch die Photorezeptoren und ihre neuronale Auswertung be-dingten Farbraum (Chittkaet al. 1992, Chittka 1997). Ob eine dieser Empfindungen oder eine ganz andere Grundlage f¨ur die festgestellte Pr¨aferenz der M¨annchen vonP. icarus f¨ur flavonoidreiche, UV-absorbierende Weibchen ist, kann bislang nicht beantwortet werden.

Beim Bl¨utenbesuch werden von verschiedenen systematischen Gruppen von Bl¨ utenbesu-chern offenbar ganz unterschiedliche Parameter des von Bl¨uten angebotenen Farbreizes zur angeborenen Bl¨utenerkennung verwendet (Lunau & Maier 1995), und diese sind in einer langen evolution¨aren Geschichte begr¨undet (Lunau & Maier 1995, Chittka 1997).

Ein weiteres Farbsignal bei Bl¨aulingen soll in diesem Zusammenhang nicht unerw¨ahnt bleiben. Die Existenz einer blauen (und sehr stark UV-haltigen) Strukturf¨arbung, sowie deren Farbton, Intensit¨at, S¨attigung und evtl. auch Winkelabh¨angigkeit ist charakteri-stisch f¨ur sehr viele Arten der Lycaenidae (Hesselbarth et al. 1995) und k¨onnte unter Umst¨anden zur Arterkennung herangezogen werden.