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Die Bedeutung des hebräischen Textes bei der Auslegung des Alten Testaments

TEIL 3 DIE INSPIRATION ALS DIE GRUNDLAGE DES GÖTTLICHEN WESENS

3.2 Jesus Christus als scopus der Bibel

3.2.3 Die Bedeutung des hebräischen Textes bei der Auslegung des Alten Testaments

Ich wähle, um Calvins Auslegungsmethode des Alten Testaments zu illustrieren, einerseits seine Interpretation von Texten aus, die im Neuen Testament zitiert werden (Ps 40,7-9; Hebr 10,5; Jes 64,4; I Kor 2,9; Jes 9,1-2; Mt 4,15), und andererseits seine Auslegung als

„messianisch“ geltender Texte (Ps 72,1; Ps 88,4; Gen 3,15).

Calvin geht im Kommentar zu Ps 40,8 davon aus, dass der Verfasser des Hebräerbriefes in Hebr 10,5484 den Psalmentext anders interpretiert als er ursprünglich gemeint war. Erstens: Der Apostel schränkt scheinbar nur auf Christus ein, was David von allen Erwählten aussagt. Zweitens: Der Hebräerbrief handelt von der Abschaffung der Opfer des Gesetzes, während David nur zum Ausdruck bringt, dass die Opfer dem Herrn im Vergleich mit dem wahren Gottesdienst nicht angenehm sind. Drittens: Die unterschiedliche Interpretation liegt an der unangemessenen griechischen Übersetzung des hebräischen Textes.

475 OS III, 328, 30ff.; II, 7, 2; Nam priore quidem significat frustra doceri iustitiam praeceptis, donec eam Christus et gratuita imputatione et spiritu regenerationis conferat. Quare merito Christum vocat complementum Legis, vel fidem.

476 OS III, 328, 1f.; II, 7, 2; Atque hic obiter notandum est, regnum quod tandem erectum fuit in familia Davidis, esse Legis partem […].

477 CO 49, 9; Röm 1,2; Iam quia fabulosa est saepe antiquitas, adiungit testes, et eos quidem classicos, ad suspicionem omnem eximendam; nempe Dei Prophetas.

478 CO 47, 124; Joh 5,38; legis animam.

479 CO 49, 198f.; Röm 10,6; Ergo non legem solam designat, sed totam in genere Dei doctrinam, quae evangelium sub se comprehendit.

480 OS III, 423, 13f.; II, 11, 1; Hac ratione nihil impedient quominus eaedem maneant veteris ac novi Testamenti promissiones, atque idem ipsarum promissionum fundamentum, Christus.

481 OS III, 405, 28f.; II, 10, 3; Clarissime ergo demonstrat Apostolus ad futuram vitam praecipue spectasse testamentum Vetus, quum sub eo dicit Evangelii promissiones contineri.

482 CO 47, 124; Joh 5,38; Nam lex sine Christo inanis est nec quidquam habet solidi.

483 CO 47, 125; Joh 5,39; Quomodo enim sine Christo vitam lex conferet, qui solus eam vivificat? Caeterum docemur hoc loco, ex scripturis petendam esse Christi notitiam.

484 Hebr 10,5; Darum spricht er, als er in die Welt kommt: »Schlachtopfer und Opfergabe hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereitet […] «.

Der Apostel liest hier statt: „die Ohren hast du mir aufgetan“ – „den Leib hast du mir bereitet“485. Calvin legt also (auch gegenüber dem griechischen Text der LXX) ausgesprochenen Wert auf den hebräischen Text und bekundet damit sein Interesse am eigentlichen Sinn des alttestamentlichen Textes.

Dieses Interesse zeigt sich auch in seinen Kommentar zu Jes 64,4 und I Kor 2,9486. Calvin bemängelt, dass Paulus nicht den hebräischen Text als Quelle verwendet und dadurch den Wortlaut des Textes Jes 64,4 verändert. In vergleichbarer Weise wird kritisiert, wie Matthäus (Mt 4,15-16)487 Jes 9,1-2 versteht. „Matthäus (4,15f), der unsere Stelle zitiert, scheint ihr einen fremden Sinn unterzulegen. Denn er sieht unsere Weissagung erfüllt, als Christus an der Meeresküste predigte“488: „Der Prophet redet freilich nur von dem Untergang des Volkes; aber in demselben wird uns wie in einem Spiegel die Lage des ganzen Menschengeschlechtes vorgehalten, vor der Erlösung durch Christi Gnade“489.

Der Vorrang der hebräischen Texte und damit auch das Ernstnehmen der historischen Kontexte dieser Texte stehen bei Calvin gegen eine allzu direkte und einseitige christologische Interpretation des Alten Testaments. Das zeigt sich exemplarisch an seiner Auslegung von Gen 3,15, einer in der Geschichte der Kirche immer wieder christologisch interpretierten Stelle: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen“490. Calvin problematisiert hier diejenige Auslegung des Wortes „dieselbe“ (ipsa) im lateinischen Text, welche das auf die Mutter Jesu Christi bezieht.

Er bezeichnet ein solches Missverständnis als „ein Beispiel der Unwissenheit und Gedankenlosigkeit“491. Seiner Ansicht nach geht dieses Missverständnis auf sprachliches Unvermögen zurück. Die „Gelehrten der katholischen Kirche“ halten die hebräische und griechische Handschrift nicht für die Textquelle, und sie vergleichen zum Verständnis des Textes nicht die lateinischen Lesarten.492 Ohne philologische Kompetenz ist demnach eine sachgerechte Auslegung alttestamentlicher Texte nicht möglich. Darüber hinaus ist der Wortsinn streng zu beachten. Calvin lehnt es darum ab, den Begriff „Samen“ auf eine einzige Person, Jesus, zu beziehen.493 „Same“ ist vielmehr als Sammelbegriff für

485 Vgl. CO 31, 412; Ps 40,8; Restat scrupulus unus: quia videtur Apostolus in Epistola ad Heb. 10, 5, violenter locum hunc torquere, dum ad Christum solum restringit quod praedicatur de omnibus electis, et praecise contendit abrogata esse legis sacrificia, quae tantum per comparationem negat David Deo grata esse: et graeci interpretis potius quam prophetae verba recitans, plus colligit quam Davidi propositum fuerit docere.

486 I Kor 2,9; sondern wie geschrieben steht: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.«

487 Mt 4,15f.; »Land Sebulon und Land Naftali, gegen den See hin, jenseits des Jordan, Galiläa der Nationen:

Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen, und denen, die im Land und Schatten des Todes saßen, ist Licht aufgegangen.«

488 CO 36, 189; Jes 9,2; Matthaeus hunc locum citans (4, 15. 16), videtur ipsum in alienum sensum torquere. Ait enim impletum esse hoc vaticinium, quum Christus circa oram maritimam concionaretur.

489 CO 45, 146; Mt 4,13; De gentis quidem excidio sermo habetur apud prophetam, sed quasi in speculo describitur conditio humani generis, donec Christi gratia liberetur. W. Kolfhaus, Auslegung, Bd. 8, 148.

490 Vgl. Calvin übersetzt die Bibelstelle Gen 3,15 folgendermaßen: Et inimicitias ponam inter te et inter mulierem, et inter semen tuum et semen eius: ipsum vulnerabit te in capite, et tu vulnerabis ipsum in calcaneo:

CO 23, 52; Gen 3,15.

491 CO 23, 71; Gen 3,15; Locus hic nimis luculento documento est quanta fuerit in papatu doctorum omnium et inscitia et socordia et incuria.

492 Vgl. CO 23, 71; Gen 3,15; Qui hebraicos vel graecos codices consuleret, nemo inter eos fuit, vel qui saltem latina inter se exemplaria conferret.

493 Vgl. CO 23, 71; Gen 3,15; Communi igitur errore vitiosissima lectio recepta fuit. Deinde inventa est scrilega expositio, dum sanctae Christi matri aptarunt quod de semine dictum erat. In verbis quidem Mosis nulla est ambiguitas: de sensu vero mihi non convenit cum aliis. Nam semen pro Christo sine controversia accipiunt: ac si dictum foret, exoriturum ex mulieris semine aliquem qui serpentis caput vulneraret. Eorum sententiam libenter meo suffragio approbarem, nisi quod verbum seminis nimis violenter ab illis torqueri video. Quis enim concedet nomen collectivum de uno tantum homine accipi?

„Menschengeschlecht“ oder für die „Nachkommen im allgemeinen“494 zu verstehen. Der Bezug zur christologischen Auslegung dieses Textes wird dann so hergestellt, dass die Nachkommen Adams den Kampf gegen den Teufel nicht gewinnen können495 und dass sich deshalb der Horizont zu Christi Sieg über ihn auftut. Wo sich dieser Bezug aber nur mit Willkür gegen den Textsinn herstellen lässt, lehnt Calvin ihn ab.

In seinem Kommentar zu Ps 72,1496 verteidigt Calvin z. B. die Juden, die diese Bibelstelle nicht christologisch verstehen: „Den Psalm aber kurzweg auf Christi Königtum zu beziehen, ist eine Gewaltsamkeit. Wir sollen den Juden nicht Berechtigung zu dem Vorwurf geben, als wollten wir alles ohne weiteres dahin verdrehen, daß es auf Christus zielt“497. Auch im Kommentar zu Ps 88,6498 lehnt Calvin die christologische Auslegung Augustins ab: „Denn Augustins Auslegung, der Freie unter den Toten sei Christus, der kraft seines besonderen Vorrechtes den Sieg über den Tod erlangte, so dass derselbe nicht über ihn herrschen durfte, ist zu künstlich und trifft die Meinung des Psalmisten nicht“499.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu belegen, wie wichtig für Calvins Auslegung des Alten Testaments die Erfassung der historisch und philologisch genauen Textgestalt war.

Die oben dargestellte heilsgeschichtliche Periodisierung des Zeugnisses des Alten Testaments ermöglichte es ihm, die Texte in ihrem Eigensinn ernst zu nehmen und sie nicht willkürlich christologisch zu überfremden. Sein Verständnis der Bibel als Dokumentation fortwährend deutlicher werdender Offenbarung führte zur Akzeptanz von Schriftstellen, die zeigen, wie sich Gott in einer bestimmten historischen Situation offenbart hat, ohne das christologische Ziel dieser Offenbarung zu erkennen zu geben. Der christliche Ausleger des Alten Testaments kennt dieses Ziel allerdings, so dass für ihn der Horizont für die christologische Interpretation des Alten Testaments offen bleibt.

3.3 Zusammenfassung und Bewertung

Es lässt sich zusammenfassen: Erstens: Calvin versteht die geschriebene Bibel und die Natur als Mittel für die Erkenntnis Gottes, wobei das Wort Gottes als Mitteilung der Offenbarung die sachliche Priorität hat. Entscheidend ist das Hören des Wortes Gottes, das durch die dynamische Beziehung von Gott auf den Menschen ermöglicht wird. Zweitens: Die spezielle Offenbarung in der geschriebenen Bibel kann demnach effektiver als die allgemeine Offenbarung in der Natur zur Erkenntnis des Heils hinleiten und vor allem das Hemmnis der Sündhaftigkeit der Menschen überwinden. Calvin hat, wenn er das Verhältnis zwischen dem Wort und den Werken Gottes erörtert, bei der Verwendung des Begriffes „Wort Gottes“ nicht die schriftliche Form der Bibel, sondern den lebendigen Zuspruch des Wortes im Blick, der Glauben durch Hören begründet. Dieser Zuspruch kulminiert in der Mitteilung der speziellen Offenbarung als „doctrina“ des Heils in Jesus Christus, ist aber auch schon in der Heilsgeschichte zu vernehmen, die auf Christus hinführt. Denn das Alte Testament ist in Calvins Sicht ein geschichtlich-dynamisch sich entwickelnder Zeugnis vom Heil mit einer

494 CO 23, 71; Gen 3,15; Generaliter ergo semen interpretor de posteris.

495 Vgl. CO 23, 71; Gen 3,15; Sed quum experientia doceat, multum abesse quin supra diabolum victores emergant omnes filii Adae, ad caput unum venire necesse est, ut reperiamus ad quos pertineat victoria.

496 Ps 72,1: Gott, gib dem König deine Rechtssprüche und deine Gerechtigkeit dem Königssohn.

497 CO 31, 664; Ps 72,1; Qui simpliciter vaticinium esse volunt de regno Christi, videntur nimis violenter torquere verba. Deinde semper cavendum est ne Iudaeis obstrependi detur occasio, ac si nobis propositum esset sophistice ad Christum trahere quae directe in eum non competunt. K. Müller, Auslegung, Bd. 4, 685.

498 Ps 88,5f.: Ich bin gerechnet zu denen, die in die Grube hinabfahren. Ich bin wie ein Mann, der keine Kraft hat, unter die Toten hingestreckt, wie Erschlagene, die im Grab liegen, derer du nicht mehr gedenkst. Denn sie sind von deiner Hand abgeschnitten.

499 CO 31, 806f.; Ps 88,6; Primo se liberum esse dicit inter mortuos, quod inutilis esset ad omnia vitae munera, et quasi a mundo alienatus. Illa enim Augustini argutia nihil ad prophetae mentem, Christum vocari liberum inter mortuos, quia singulari privilegio victoriam adeptus est, ne mors in eum dominaretur. H. Grob, Auslegung, Bd.

5, 151.

dazu gehörenden Auslegungsgeschichte. Unter dem Walten der Vorsehung Gottes führen die Verheißungen des Heils im Sinne „heilsgeschichtlich sich entwickelnde Lehre“ zu seiner Erfüllung in Christus hin. Für sich und als solche aber können die alttestamentlichen Zeugnisse nicht als Mitteilung dieser Erfüllung verstanden werden. Calvin legt deshalb auf den sensus literaris des Alten Testaments, der es verbietet, die doctrina direkt mit dem Heil in Jesus Christus zu identifizieren, großen Wert.