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Beantwortung der Fragestellung und Diskussion der Ergebnisse

Es folgt nun die Beantwortung der Fragestellung. Im Anschluss werden die Ergebnisse mit der kürzlich erschienenen Studie „Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen“ (Häfeli & Schel-lenberg, 2009) und der Arbeit von Eber (1996) verglichen.

8.1 Beantwortung der Fragestellung und deren Schlussfolgerung

Welche ausbildungsbezogenen Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen haben blinde und hochgradig sehbehinderte Musikstudierende an einer Fachhochschule?

Zur Fragestellung finden sich bereits detaillierte konkrete Antworten in Kapitel 5 und 7. Zusammengefasst kann aus der Betrachtung der 112 wichtigen Kriterien folgendes ergänzt werden:

8.1.1 Bedürfnisse

Die Kontextfaktoren haben ein grosses Gewicht: „Never change a winning team“ – oder andersherum: Es braucht funktionierende Teamarbeit bei den Schlüsselstellen: Den unterrichtenden verantwortlichen Per-sonen und blinden Musikstudierenden (symbolisch Dirigent und Solist, Kapitel 5.2.3.3). Es braucht einen kleinen, stärkenden und ermöglichenden Rahmen, wie Schulleitung, Familie, Mitstudierende (symbolisch das Orchester), der das Team-Werken nicht verhindert oder gar zerschlägt und der die Entfaltung der Lernenden fördert (Kapitel 7.1.3). Es braucht zudem einen „Durchführungsort mit Angeboten und Optio-nen“, welcher minimale Anforderungen erfüllen kann, wie aktives Partizipieren beim Lernen und Üben ermöglichen. Ein Ort, der die Offenheit und Toleranz hat, notwendige Hilfsmittel und allenfalls unterstüt-zende Massnahmen oder Begleitung zulassen oder einfordern zu können (Kapitel 5.2.3.1).

8.1.2 Möglichkeiten

Die Ressourcen und die Schlüsselfunktionen sehgeschädigter Musikstudierender sind das Wahrnehmen, das Hören, das Gedächtnis und die Merkfähigkeit, die Motivation, der Wille, der Fleiss, die Reife, das En-gagement, die Selbständigkeit, das positive Bewältigungsverhalten, das Ausdrucksvermögen, die Auf-merksamkeit, das Bewusstsein, die Konzentration, das auditive Lernen, der Mut, die Musikalität und die Hochbegabung in Teilbereichen (Kapitel 7.1.1 / 7.1.2). Individuell betrachtet kann sich die Ausprägung dieser Ressourcen von Person zu Person unterscheiden, es können weitere Stärken und Kompetenzen dazu kommen. Wenn jedoch der Wille entwickelt werden kann, zielgerichtet und mutig diese vorhande-nen Anlagen, Fähigkeiten, Ressourcen oder Energien zu nutzen und zu entwickeln, kann ein Musikstudi-um aufgenommen werden. Das ausgewogene Zusammenspiel der Funktionen der Orientierung, des Muskelsinns und der Bewegung kann dabei eine gute Ausgangslage für eine Klavier- oder Orgelausbil-dung bilden (Kapitel 7.1.5). Die individuelle Entwicklung hängt schliesslich vom Ergebnis des Zusam-menwirkens und Interagierens der Kriterien und Einflusssysteme ab.

8.1.3 Grenzen

Grundlegende Voraussetzungen, welche alle, also auch sehende Musikstudierende betreffen, müssen ebenso bei blinden Musikstudierenden erfüllt sein, wie musikalische Begabung oder gute mentale, moti-vationale und motorische Fähigkeiten. Auch wenn die Matura heute nicht mehr verlangt wird, müssen Studierende „reif“ sein, blinde vielleicht noch mehr als sehende Mitstudierende, um in anspruchsvollen Herausforderungen eigenständig zu entscheiden, zu handeln oder positive Bewältigungsstrategien an-wenden zu können. Verschiedene behinderungsspezifische Einschränkungen gibt es bei der Wahl der Studienrichtung, bedingt durch das Fehlen von Voraussetzungen oder kompensatorischen Strategien (wie „Raumempfinden und Muskelsinn“, Kapitel 5.2.1.6, bei Tasteninstrumenten). Kann die Behinderung nicht überwunden werden, zum Beispiel beim Lesen oder der Verwendung von Hilfsmitteln (Kapitel 7.1.4) oder wenn obengenannte Bedürfnisse der blinden Musikstudierenden nicht erfüllt werden können, mani-festieren sich die Grenzen.

8.1.4 „Yes, we can!“

Dieser Ausspruch Obamas hat Amerika vereint, mobilisiert und motiviert: ein Amerika, welches traditionell auf die grenzenlosen Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes Individuums fokussiert ist. So betrachtet kann es auch sein, dass das Bestreben von MUSA, unabhängig und keine Last zu sein, ursprünglich kulturell bedingt ist. Für MUSA in erster Priorität und auch allen blinden Schweizer Musikstudierenden wichtig ist das Verfügen über effektive Orientierungs- und Mobilitätsstrategien, im kleinen Raum einer Klaviatur, beim Lesen der Notenschrift oder beim Zurücklegen grosser Distanzen. Damit die blinden Musiksturenden effektiv am Erfolg partizipieren können, müssen sie die visuellen Einschränkungen auch in die-sem Bereich eigenverantwortlich kompensieren können (Kapitel 7).

8.1.5 Schlussfolgerung

Es ist das Zusammenwirken und Wechselwirken zahlreicher Kriterien, Schutz- und Risikofaktoren, wel-ches letztendlich das Ausmass und die Art der ausbildungsbezogenen Bedürfnisse, Möglichkeiten und

Grenzen der blinden Musikstudierenden festlegt. Tendenzen, wo und in welcher Ausprägung diese sein können, sind in dieser Arbeit strukturiert aufgeführt und erläutert. Eigenverantwortliches selbstkompeten-tes Handeln des blinden Musikstudierenden, sei es um Chancen zu nutzen, Begabungen zu entfalten oder Grenzen zu sprengen, stellt eine Grundvoraussetzung dar. Vergleicht man die Erkenntnisse dieser Arbeit mit den Erklärungen für Erfolgsphänomene von Gladwell (2009) fehlt ein wichtiger Punkt, der hier nicht erforscht worden ist: das Glück.

8.2 Diskussion der Ergebnisse

Die Studie vom EDK (Häfeli & Schellenberg, 2009) untersucht anhand von 50 Einflussfaktoren die Er-folgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen und stellt fest, dass strukturelle Einflüsse (wirtschaftliche Konjunktur, Demografie, soziale und regionale Herkunft, Geschlecht, Schulsystem und besuchte Schule) sowie die Person (Leistungsfähigkeit, Soziale Kompetenzen, Arbeitstugenden, Motiva-tion, Selbstwert und Selbstwirksamkeitserwartung) eine massgebende Rolle spielen. In dieser Arbeit werden zur Person (unter anderem) gleiche Beobachtungen gemacht (zur Leistungsfähigkeit kann ergän-zend gesagt werden, dass ausser einer Person alle befragten Musikstudierenden neben der Sehein-schränkung keine gesundheitlichen Probleme haben). Die in dieser Arbeit erhobenen strukturellen Ein-flüsse decken sich ebenso: im Geschlecht (männlich), im Schulsystem (Kontextfaktoren wie Lehrperson, Umwelt, Unterrichtsgestaltung) sowie in der sozialen Herkunft. Dabei geht es in der Studie der EDK vor allem um frühzeitige Förderung und Unterstützung. Die befragten Musikstudierenden haben alle sie för-dernde Familien oder Lebenspartnerinnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die wirtschaftliche Konjunktur den Erfolg gefährdeter Jugendlicher, welche in einem Betrieb die Lehre machen, kurzfristiger und unmittelbarer beeinflusst als blinde Musikstudierende. Das Vorhandensein finanzieller Mittel gilt aber auch für blinde Musikstudierende als tragender Umweltfaktor (gemäss Interview die „einzige gute Sache der IV“, in der Online-Befragung 21 von 36 Punkten). Die Demographie ist unwichtig: die Musikhochschu-len sind als Zentren in Grosstädten organisiert (wobei die Reise dorthin, die Zusammensetzung der Stu-dierenden sowie die Philosophie und die Strukturen der Musikhochschule sehr wirkungsvolle Faktoren sind). Auffallend an der Studie des EDK ist zudem, dass auch hier der Lehrperson überdurchschnittliche Wichtigkeit zugesprochen wird: auf der menschlichen Ebene als Bezugsperson wie auf der methodisch-didaktischen Ebene, um der Vielfalt der Jugendlichen gerecht zu werden. Obwohl die Studie des EDK ein anderes Berufsfeld und Jugendliche mit anderen Besonderheiten im Fokus hat, bestätigen sich die Er-folgsfaktoren in gemeinsamen Bereichen, so in der Bedeutung und im Inhalt der Personbezogenen Fak-toren (hier: zweitwichtigste Kategorie, EDK: eine der drei wichtigsten) und in der Kategorie Kontext.

Eine musikbezogene Fachstudie zum weiteren Vergleich: Eber (1996, S. 67) sagt, wenn man den blinden Musikstudierenden einen Vorsprung in jenen Fächern verschaffe, die erfahrungsgemäss im Studium Schwierigkeiten bereiten (z.B. Dirigieren), und wenn man zudem kompensatorische Fähigkeiten schule (musikalisches Vorstellungsvermögen, Gedächtnis, Blindenschrift), würden sich die Erfolgschancen verbessern. Diese Aussage wird durch die vorliegende Arbeit bestätigt, mit Ausnahme des Dirigierens, welches heute nicht mehr eine Notwendigkeit ist.