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Auswahl der Daten

Im Dokument Prinzipien kohärenter Kommunikation (Seite 107-112)

Die einzelnen Operationen dauerten zwischen zwei und acht Stunden. Das Operationsteam war unterschiedlich stark besetzt. Die beobachtete chirurgische Abteilung war von überschaubarer Größe, so dass zwar nicht immer dieselben Teams zusammen arbeiteten, aber sich dennoch alle Teammitglieder auch schon aus früheren Operationen und dem Stationsalltag kannten. Allerdings ist auf keiner Aufnahme ein Team zweimal in exakt der gleichen Zusammensetzung vertreten. Aus der Gesamtheit der Daten wurden schließlich acht OPs isoliert, die aufgrund der technischen Qualität der Aufnahme und der Vorkommnisse während der OP den Anforderungen an diese Arbeit genügen. Ausgeschlossen wurden beispielsweise Operationen, bei denen die Gespräche wegen zu hoher Nebengeräusche nur schlecht hörbar waren oder solche, an denen Teammitglieder mit nicht deutscher Herkunftssprache teilnahmen. In den letztgenannten Fällen kann unter anderem nicht ausgeschlossen werden, dass die Äußerungen nicht die Konzeptualisierung des Sachverhalts durch den Sprecher, sondern lernersprachliche Besonderheiten reflektieren. Aufgrund der extremen Länge mancher Tumoroperationen umfasst das vorliegende Sample immer noch eine Zeitdauer von über 27 Stunden. Da innerhalb dieser 27 Stunden natürlich nicht durchgängig analysefähiges Material anfiel, wurde das Gesamtsample mit der Gewährsperson nach Situationen mit unterschiedlichen Belastungsfaktoren kategorisiert. Das führte zu einem Sample von ca. neun Stunden Dauer. Aus diesem Sample wurden typische Fälle als Fallstudien ausgewählt und analysiert. Zu Analysezwecken wurden die Sequenzen transkribiert. Dabei folgt die Transkription weitgehend der Standardorthographie. Allerdings werden gesprochen-sprachliche Besonderheiten wie Reduktionen oder Assimilierungen notiert. Weitere Merkmale der Gespräche wie Pausen, auffällige Intonationsverläufe, Besonderheiten beim Sprecherwechsel etc. wurden in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) nach Selting, Auer, Barden et al. (1998) und unter Verwendung der Transkriptionssoftware CLAN aus dem CHILDES-Projekt (MacWhinney 2000) notiert. Die Transkriptionskonventionen sind im Anhang aufgeführt. Im Einzelnen wurden die folgenden Operationen in die Analyse einbezogen:

a) II/02/99/A,B: diagnostische Laparotomie, abdominale Resektion, Dauer: 4:51 Stunden Die diagnostische Laparotomie wird durchgeführt, um Erkenntnisse über einen Tumor zu gewinnen, die mit nicht-invasiven Methoden wie Ultraschall oder Computertomographie oder mit minimal invasiven Methoden wie Biopsien nicht gewonnen werden können. In diesem Fall geht es zusätzlich darum, den schon bekannten Teiltumor aus dem Bauchraum zu entfernen. An dieser Operation waren folgende Personen beteiligt: ein Operateur, ein Assistent (dieser wird im Verlauf der OP abgelöst), ein Arzt im Praktikum (AiP), eine Instrumentierschwester und ein Springer. Diese Operation erwies sich als vor allem physisch anstrengend.

b) II/05/99: Lungenresektion, Dauer: 2:10 Stunden

Bei der Lungenresektion werden die von einem Tumor befallenen Lungensegmente entfernt. Diese Operation verlief unkompliziert. Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer.

c) II/06/99/A,B: erweiterte Gastrektomie, Dauer: 4:56 Stunden

Bei dieser Operation werden tumorbefallene Teile des Magens und des Darms entfernt. In diesem Fall wurde zusätzlich Lymphgewebe entnommen, um die Ausbreitung der

Tumorzellen im Körper zu bestimmen. Die Operation verlief langwieriger als erwartet.

Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer. Außerdem kommen zwischenzeitlich zwei Chirurgen konsultierend hinzu.

d) II/10/00: Hemihepatektomie, Dauer: 1:20 Stunden

Bei dieser Art von Operation werden tumorbefallene Teile der Leber entfernt. Allerdings erwies sich der Patient wegen unerwartet fortgeschrittener Metastasierung als inoperabel.

Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer.

e) II/11/00: Lymphadenektomie, Dauer: 2:29 Stunden

Bei dieser Art von Operation werden Blut- und Lymphgefäße in der Leiste freigelegt und teilweise reseziert. Außerdem wurde in diesem Fall eine Perfusion gelegt, durch die Chemotherapeutika unmittelbar an das befallene Gewebe abgegeben werden. Die OP verlief unkompliziert. Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer.

f) II/12/00: Resektion links gluteal, Dauer: 2:13 Stunden

Bei dieser Art von Operation werden Teile der Gesäßmuskulatur wegen Tumorbefalls entfernt. Die Operation war physisch anstrengend, aber weitgehend unkompliziert.

Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer.

g) II/13/00/A,B,C: abdominoanale Resektion, coloanale Anastomose, Dauer: 6 Stunden h) Bei dieser Art von Operation wird ein tief liegender Darmtumor entfernt. Diese Operation

war sehr aufwendig, da sowohl vom Bauchraum aus als auch vom Rektum her operiert

werden musste. In die Auswertung konnte nur etwa die erste Hälfte der Operation einbezogen werden, da in der zweiten Hälfte ein zweites Team für die rektale Operation hinzukam, dessen Leiter nicht Deutsch als Herkunftssprache sprach. Um auszuschließen, dass die Sprachkompetenz Einfluss auf die Gesprächsstrukturen nimmt, wurde auf Daten von Sprechern mit nicht deutscher Herkunftssprache generell verzichtet. Dies führte auch zum Ausschluss einer weiteren kompletten OP. An dieser OP waren im ersten Team beteiligt: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer.

i) II/14/00/A, B: malignes fibröses Histiozytom des rechten proximalen Oberschenkels, ILP TNF und Melphalan, iliacal, Dauer: 3:12 Stunden

Bei dieser Art von Operation wird eine tumorbefallene Extremität vom Blutkreislauf des Körpers abgetrennt und isoliert versorgt. Für die Dauer der Isolation wird die Extremität mit hochdosierten Chemotherapeutika versorgt, um das Tumorgewebe abzutöten. In diesem Fall scheiterte die Operation, weil die erforderliche vollständige Trennung der Blutgefäße nicht möglich war. Beteiligt waren: ein Operateur, ein Assistent, ein AiP, eine Instrumentierschwester und ein Springer sowie ein Nuklearmediziner.

Die Zeitangaben in der obigen Darstellung beziehen sich auf den Zeitraum zwischen dem ersten Schnitt – dem eigentlichen Operationsbeginn – und der Naht der obersten Hautschichten. Der generelle Ablauf einer OP zwischen diesen Zeitpunkten sieht folgendermaßen aus: Nach dem ersten Schnitt erfolgt die Freilegung des eigentlichen Operationsgebietes. Dann folgt in mehreren Schritten die Mobilisierung des Tumors bzw. des zu entfernenden Gewebes und schließlich die eigentliche Resektion. Anschließend erfolgt die Wundversorgung gegebenenfalls mit Vorkehrungen für die weitere Therapie. Der Operationsverlauf wird im Kapitel 5 genauer geschildert, um die unterschiedlichen Belastungsfaktoren zu klären.

4.3 ZUSAMMENFASSUNG

In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass die ausgewählten Daten eine angemessene Grundlage für die anschließenden Analysen bilden. Die wesentlichen Schlagworte waren ökologische Validität, Situationsvielfalt und Vergleichbarkeit unter einander und mit anderen Studien. Unter diesen Gesichtspunkten wurden für die Analysen im nächsten Kapitel Ausschnitte aus den oben aufgeführten Operationsaufnahmen ausgewählt, die im Sinne einer Fallstudie exemplarisch für bestimmte Situationen im Arbeitsfeld OP sind. Außerdem lassen sich an den gewählten Beispielen charakteristische Merkmale der Funktionsweise des dialogischen Quaestio-Modells zeigen. Studien wie beispielsweise Grommes und Grote (2001) oder Grote, Zala-Mezö und Grommes (2003; 2004) zeigen darüber hinaus, dass die

Anwendung des dialogischen Quaestio-Modells nicht auf die hier präsentierten exemplarischen Daten beschränkt ist.

Schließlich ist noch auf eine Einschränkung hinsichtlich der Analyse der OP-Daten im Rahmen dieser Arbeit hinzuweisen. Die Auswertung der Daten zum Zwecke der hier vorgestellten Untersuchung erfolgt rein qualitativ. Es geht darum, die Prinzipien der Kohärenzherstellung im Gespräch vor dem Hintergrund ihrer Konsequenzen für die Äußerungsorganisation sichtbar zu machen und zudem zu zeigen, inwieweit Situationsveränderungen diesen Prozess beeinflussen. Es gibt aber – noch – keine plausible Grundlage, von der aus man beispielsweise argumentieren könnte, dass die Häufigkeit des Vorkommens eines bestimmten Quaestiobewegungstyps ein Gespräch in einer messbaren Größenordnung kohärenter erscheinen lässt als bei einer alternativen Häufigkeitsverteilung.

Daher wird auf eine quantitative Auswertung der Daten an dieser Stelle verzichtet.

Im folgenden Kapitel wird die Datenanalyse vorgestellt. Dabei wird zum Teil noch einmal auf die Themen dieses Kapitels einzugehen sein. Darüber hinaus werden die Besonderheiten der Daten, die hier zunächst überblicksartig skizziert wurden, an den jeweils für die Analyse relevanten Stellen ausführlicher diskutiert.

5 Die Quaestio im Gespräch – Analyse exemplarischer Fälle

Über das im vierten Kapitel zur Auswahl gerade von Gesprächsdaten aus dem Operationssaal Gesagte hinaus ist festzuhalten, dass es sich einerseits zwar um ganz natürliche Interaktionsdaten handelt, dass sie aber andererseits – zumindest potentiell – Eigenschaften aufweisen, die in Alltagsgesprächen ohne einen spezifischen institutionellen Hintergrund nicht zu finden sind. Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den hier untersuchten Daten aus institutioneller Kommunikation und Daten aus Alltagskommunikation zu verdeutlichen, sei noch einmal auf das Eingangsbeispiel hingewiesen – hier wiederholt als (5-1).

(5-1)

Er – Was machst du denn hier?

Sie – Ich bin seit gestern wieder da.

Er – Ach. Und wo?

Vergleicht man damit Beispiel (5-2) aus den Operationssaaldaten, so fällt zunächst auf, dass die Verstehensaufgabe für die Operateure prima facie einfacher ist als für die Akteure im ersten Beispiel, da sie ja das Operationsfeld vor Augen haben.

(5-2)

ast – weißt du welche ich mein?

aip – ja ich hab s jetzt hier cop – kommt das von da:?

aip – das kommt von hIer.

(aus II1200b, MD 95:56-95:58)

Anders als in Alltagskommunikation handelt es sich hier aber um Kommunikation, die nicht primär der Pflege sozialer Beziehungen dient, sondern zur Verständigung über Probleme, von deren Bewältigung der Ausgang der Operation und damit auch der Therapieerfolg für den Patienten abhängen kann. Dadurch und durch den Zeitdruck kommen Stressfaktoren ins Spiel, die die kognitive Kapazität der Beteiligten einschränken können.

Außerdem sind die obigen Beispiele zwar nicht ohne Inferenzziehung interpretierbar, aber sie sind dennoch grammatisch wohlgeformt. Beispiel (5-3) zeigt aber, dass in den Operationssaaldaten durchaus abweichende Strukturen zu beobachten sind.

(5-3)

a) cop – und jetzt hier ist nichts mehr. he?

b) cop – tu da finger weg.

(aus II1200b, a) MD 106:07, b) MD 111:15)

Im Folgenden wird dargestellt, welche Besonderheiten die Daten im Einzelnen aufweisen und was das für die Analyse bedeutet. Anschließend werden Fallbeispiele aus den Operationssaaldaten mit Hilfe des DQ-Modells analysiert. Dabei zeigt sich, dass auf diese Weise das Zustandekommen von Kohärenz in diesen Dialogsequenzen sinnvoll beschreibbar ist. Als Ergebnis der Analyse wird ein neuer Rahmen für die Erfassung der Bedingungen von Kohärenz im Dialog vorgestellt.

Im Dokument Prinzipien kohärenter Kommunikation (Seite 107-112)