Weitere Schwierigkeiten bietet die zweite Parallele:
der
Thrakerkönig Lykurgos,
den die Einkerkerung als gerechte Strafe für seine Gottlosigkeit getroffen,kann
mit Antigene, dieum
einer gutenSache
Willen sterben soll, in keinerWeise
auf gleiche Stufe gestellt werden: Also auch hier dieselbe Diskrepanz hinsichtlich des eigentlichenKernpunktes
der Sache wie bei derZusammenstellung
des Frevlersund
des unschuldigen Duldersim
2. atcia. des Philoktet (vgl. p. 81).Wir müssen
hier auf jene Stellenoch
einmal zurückgreifen; nur dort werden wir den Schlüssel zurLösung
des vorliegenden Problems der Einzeldeutung finden: BeideMale
sucht der Dichternach Fällen ähnlichen Leidens
in der mythischen Vorzeit;glatt konvenierende Parallelen
waren
aber hier schwer oder gar nicht zu finden^); alsobegnügt
er sich mitdem äußeren Momente
ähnlicher Todesarten.Damit
aber wird er vor eine eigentümliche Schwierigkeit gestellt: erkann und
darf als Dichter nicht bloß die nackten Tat-sachen seinemPublikum
vorAugen
stellen; ermuß
die-selben, sollen sie
Leben
gewinnen, mit Fleischund
Blut umkleiden: eine ästhetische Forderung, die er mit der-selbenUnbekümmertheit um
dieAusdeutung im
einzelnen erfüllt wie etwaHomer
in seinen Gleichnissen. Die Kon-sequenz, die sich daraus, hier wie dort, für die wissen-schaftliche Exegese ergibt, istvollkommen
klar: jeder Versuch, Beziehungen zwischen denEinzelheiten
desChorliedes
und dem Drama
herzustellen, ist schlechtwegals eine exegetische Verirrung zu bezeichnen. Die Alten
werden
gegenüber den Phantasien derneuen
Erklärer-)mit ihrer einfachen Erklärung: Schol. 955
....
dll^a~
TiXtög rfi Tcaqad^eGEi tojv ouoicov dvovv)fiojv Ttaqa/iivd-elTai ri]v yiOQTiv auch hier wieder einmal
Recht
behalten.Nun
erhebt sichnoch
die weitere Frage:Wie kommt
es, daß gerade jetzt,
wo
Antigenezum Tode
geführt wird, also ineinem
höchst bewegten Augenblick, derChor
den Blick von derGegenwart abwendet und
sich inErinne-*) Vielleicht darf man, worauf mich Prof.
Römer
aufmerksam machte, hier auch die Raschheit, mit der der attische Theater-tlichter produzieren mußte, in Betracht ziehen.2) Vgl. Schneidewin-Nauck. Einleitung, p. 20, Wolff-Beller-maiin,
Anm.
z. d. St. und vor allem Fr. Kern a. a. O. p. 390 ff.rungen aus der Vergangenheit versenkt')?
Der Grund
dafür liegt sicherlich in der eigenartigenGebundenheit
des Sophokleischen Chores, die
ihm
über ein gewissesMaß
von Aktivität hinauszugehen nicht erlaubt, so daß seineHaltung
vielfach, wie hierdem
überlegenen Willen Kreons gegenüber, als geradezu schwächlich erscheint.Daher denn auch
das „Kalteund
Unbefriedigende"dieses Chorliedes, das
— nach unserm modernen
Gefühl wenigstens—
„die berechtigtenForderungen
desGemütes
zuwenig berücksichtigt"^).Daß
das Chorlied aufdenantiken Zuschauer anders gewirkt hat wie auf uns,muß
allerdingsangenommen
werden: die von Schneidewin(Anm.
z. d. St.)beigebrachten Parallelen (Aescbyl. Choeph. 585 ff., Ilias
V, 382 ff.)
machen
es wahrscheinlich, daßdem
Griechen dieZusammenstellung
einer Dreizahl vonmythischen
Bei-spielen bei Gelegenheiten, wie der vorliegenden, etwas ganz Geläufigeswar
(vgl. Schneidewin-Nauck,Anm.
z. d.St.).
An
unsrer Stellekommt noch
das Besondere hinzu, daß dievom
Dichter als drittes Beispiel verwendete Ge-schichte vonOreithyia,
die Boreas geraubt,und
ihre TochterKleopatra
eineattische Xationalsage
war,die, wie ihre Darstellung auch in der bildenden Kunst, ja selbst
im Kunsthandwerk
^) zeigt, in weiten Kreisen des Volkes verbreitetgewesen
seinmuß. Daß
die ausführ-licheBehandlung
diesesMythus
in zwei Strophen (im Gegensatz zu den in je einer Stropheabgemachten
andern beidenMythen)
als ein lokalpatriotisches Bekenntnis des Dichters zu betrachten ist,haben
wir schon oben (p. 66) hervorgehoben. Hierkommt
es darauf an, daßzum
Teilauch wegen
dieses nationalen, außerkünstlerischenInter-1) Vgl. Th. Bergk, Griechische Litteraturgeschichte,. III (1884), p. 481.
*) Vgl. die ßoreasvase in der i\Iüucliener Sanimhmg.
Auch
Lykurgos gegeu Dionysos „war schon da'' (W. i^chmid a. a. ().p. 24).
esses, das
dem
einenMythus
anhaftete, das Chorlied für dasPublikum,
für das es zunächst gedichtet war, etwas wesentlich anderes bedeutete als für uns, für die er, mit A. Wilbraudt^) zu reden, „ohne Inhaltimd
Seele" ist.Das
einzige, was auf uns vondem
Liedenoch
lebendig wirkt, ist das rein Musikalische desselben. Mit seinem feierlichen Ernst, mit seinen schweren, wuchtigenRhyth-men
wird dieser -^gi^rog auch heute noch bei einer wür-digen Aufführung,einem
gewaltigen„Trauermarsch
auf denTod
der Heldin" vgl. p. 26) gleich, den Eindruck des großen Augenblickes eher steigern als yermindern.Überblicken wir
nun
noch einmal den zweiten Teil unsrer Untersuchung, so sehen wii-, wie innerhalb der Sophokleischen Chorlyrikneben —
nur höchst seltenan Stelle —
der gefühlsmäßigen Reaktion des Chores auf die vonihm
unmittelbar miterlebteHandlung
eine Reihe von—
teilweise sogar an sich außerkünstlerischen, jedenfalls aber nichtdramatischeu— Elementen
hervortritt, die derHandlung
gegenüber einemehr
oder weniger selbständige Rolle spielen. ^Yienahe
dieVersuchung
lag, ihnen einen unverhältnismäßig breitenRaum
zu ge-währen,kann man
leicht ausdem ungeheuren
Erfolge schließen, den derdem
„Theatralischen" auch sonst nicht ausdem Wege
gehende Euripides^) mitdem
bald „inAthen
auf allen Gassengesungenen"
3) Friedenslied aus1) a. a. Ü. p. 18.
*) Vgl. Schol. zu Oed. tyr. 2G2 und dazu Kömer. Phüol.,
LXV,
1, p. 63.^) Dieterich. Eheiu. 31us.. 46. p. 42.
—
Prof.Römer
vermutet, wie er mir persönlich mitteilte, daßChorlieder, wie das vorliegende, durch die Choreuten \"erbreitunt!; fanden, die sie, nachdem siedie-seinem „Erechtheus" uach der p. 66
Anm.
1 zitierten Nachricht des Plutarchgewann.
Sophokles hat mit echt känstlerischem.Takt dieserVersuchung,
soviel wir sehen, tapfer widerstanden.Laut
Suidas schrieb er auch XöyovTcaraXoyädriV
tisqI tov yogov, tcqoq QioTTiv xatXoiqi-Aw
ayioviCöi-ievog, ,,also eine theoretische Prosaschrifc über denChor"
V\Was
der Inhalt der verloren gegan-genen Schrift war, wissen wir nicht; vermutlich aber hat J. Burckhardt das Richtige getroffen,wenn
er dieseNach-richt in
Zusammenhang
mit derBeobachtung
bringt, daß gerade Sophokles unter den Tragikern „in derVer-wendung
des Chores den größten Takt zeigt". Jedenfalls sind dieWerke,
die uns vonihm
erhalten sind, ein lebendiges Zeugnis dafür, mitwelchem
Ernst er sich mitdem Problem,
dasdem
attischen Tragödiendichter durch die einmal historisch gegebeneVerbindung
zweier ver-schiedener Stilgattungen gestellt war, bei seiner dichte-rischen Arbeit auseinandergesetzt hat. In der—
aller-dings recht dürftigen—
Reihe der vonihm
erhaltenenDramen
ist die „Antigone" das einzige, indem
erdem
lyrischen
Element
ein auffallend reichesMaß von
Frei-heitund
Selbständigkeit derHandlung
gegenüber zu-gesteht-); in allen übrigen Stücken erscheint dieses—
von
wenigen
Einzelheiten abgesehen— dem Ganzen
desDramas
künstlerisch untergeordnet.Aristoteles behält
also mit seinem günstigen Urteil über die Gestaltungselbeu einmal gelernt, etwa bei den 8ymix)öien vortrugen; er sieht darin einen der Gründe für die Loslösung der chorisclien Lyrik
vom
Drama, wie sie uns vereinzelt beiSophokles und so häufig bei Euripides entgegentritt.») J. Burckhardt a. a. (). p. 225
Anm.
2."^) Vgl. A. Wilbrandt a. a. O. p. 10: In der .,Antigone" ergeht
er (der Chor) sich in lyrischer Freiheit, tönt sich aufs reichlichste in
Hymnen
aus, die tiur nocham
dünnsten Faden fe8tgehalten üb«-r die Handlimii' hinschweben.des Chores bei Sophokles, soweit wir dieses kontrollieren können,
im ganzen Recht.
Freilich dürfen wir angesichts dieses Resultates niemals vergessen, daß nicht allgemeine Schlagworte, wie das vondem
Meister literargeschichtlicherForschung
zufällig erhalteneund
unzähligeMale
nach-gesprochene, sondern allein ein liebevolles Eingehen auf die charakteristischen Einzelgestaltungen einen wirk-lichen Einblick in das lebendige Schaffen eines Künstlers gewährt.August
LorenzSimon Rahm,
evangelischerKon-fession,
wurde
geboren zuEgenhausen
in Mittelfranken (Bayern)am
9. Juni1882
alsSohn
des K. PfarrersSimon
Rahm und
seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau Ida, geb.Kunz. Nachdem
erim
Heimatsorte 4 Jahre lang die Volksschule besucht, trat erim September
1891 in das humanistischeGymnasium
zuAnsbach
ein, das erim
Juli1900
absolvierte. In den Jahren1900 — 1904 widmete
er sich an den Universitäten Erlangen, Berlinund München dem Studium
der klassischen Philologieund
Geschichte.Im
Herbst1903
bestand er inMünchen
den L,1904
ebendaselbst den IL Abschnitt derPrüfung
für den Unter-richt in den philologisch-historischen Fächern.Vom No-vember 1904
biszum
Juli1905 nahm
er andem am
K.Alten
Gymnasium Regensburg
abgehaltenen pädagogisch-didaktischen Seminarkurs teil. Seitdem
1. Oktober1905
ist er
am
FürstlichenGymnasium
zu Sondershausen alsOberlehrer tätig.