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Antisemitismus im Rechtsextremismus

Im Dokument Lagebild. Antisemitismus 2020/21 (Seite 25-28)

I. Grundsätzliches zum Antisemitismus im Rechtsextremismus

Innerhalb des deutschsprachigen rechtsnationalistischen Spektrums spielt Antisemitismus bereits seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle: Mit der Konstituierung der nationalis-tischen und völkischen polinationalis-tischen Bewegungen ging sowohl ein Bedeutungszuwachs von Antisemitismus als auch eine Veränderung der antisemitischen Begründungs- und Argu-mentationsmuster einher.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Antisemitismus in der Regel religiös und ökonomisch bezie-hungsweise sozial begründet worden. Hass gegen Jüdinnen und Juden resultierte vorwiegend aus ihrer besonderen und in weiten Teilen ausgegrenzten wirtschaftlichen Stellung oder aus der dem christlichen Absolutheitsanspruch entspringenden Ablehnung und Stigmatisierung des Judentums (Antijudaismus). Dieser Wandel des Antisemitismus setzte dort ein, wo sich antijüdische Auffassungen mit den seit der Aufklärung zunehmend verbreiteten Ideen von Nationalismus und Rassismus sowie dem Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts verban-den. Antisemitismus veränderte sich zu einer überwiegend sozial, politisch und ethnisch-rassistisch begründeten Ablehnung von Jüdinnen und Juden. Die zunehmende Politisierung,

„Verwissenschaftlichung“ und Radikalisierung des Antisemitismus waren wesentliche Etap-pen auf dem Weg zur nationalsozialistischen Rassenlehre und letztlich zum Holocaust.

Für die rechtsextremistische Ideologie erfüllt Antisemitismus – damals wie heute – unter-schiedliche interne und externe Funktionen. Zu den grundlegenden internen Funktionen des Antisemitismus gehört insbesondere der Aspekt der Identitätsstiftung und der Beförde-rung eines Gemeinschaftsbewusstseins („Identitätsfunktion“). Die negative Abgrenzung von

„den Juden“ als äußeres und vor allem gemeinsames Feindbild erzeugt und stärkt die eigene Gruppenidentität. Zudem fungiert Antisemitismus als Erklärungsmuster für Ereignisse und Prozesse, die entweder nicht oder nur schwer zu durchschauen sind („Erkenntnisfunktion“).

Durch antisemitische Verschwörungserzählungen werden komplexe Sachverhalte und ano-nym ablaufende Entwicklungen auf das angebliche Wirken „der Juden“ zurückgeführt und damit greifbar gemacht. Dies dient der eigenen Orientierung in einer unübersichtlichen Welt und erzeugt dadurch zugleich ein Gefühl der Sicherheit und Bestätigung.

Die externen Funktionen bestehen zum einen im Agitationspotenzial gegen das bestehende politische System („Legitimationsfunktion“). In diesem Zuge wird sowohl die Rechtmäßig-keit der bestehenden – angeblich „jüdischen“ – Ordnung bestritten als auch die Position von rechtsextremistischen Personen und Gruppierungen als vorgeblich einzig legitime politische Repräsentation und Sprachrohr „des Volkes“ untermauert. Zum anderen dient Antisemitis-mus als Faktor, um Zustimmung und Unterstützung zu erzeugen („Mobilisierungsfunktion“),

indem versucht wird, latente antisemitische Einstellungen innerhalb der Bevölkerung anzu-sprechen und diese für eigene Zwecke zu nutzen.80

Antisemitismus ist daher aus mehreren Gründen für den Rechtsextremismus von zentraler Bedeutung und stellt einen szeneübergreifenden verbindenden Faktor dar.

II. Antisemitismus im gewaltorientierten Rechtsextremismus

Innerhalb des gewaltorientierten Rechtsextremismus ist Antisemitismus unverändert ein Ideologieelement, das die Szene entscheidend prägt. Dabei sind verschiedenste Ausprägun-gen und Argumentationsmuster festzustellen. Für einige GruppierunAusprägun-gen und Einzelperso-nen spielt Antisemitismus eine eher sekundäre oder kaum eine Rolle. Ist eine „fremden“- und islamfeindliche Ausrichtung bestimmend, kann Israel als „jüdischer Staat“ sogar als Verbün-deter im Kampf gegen eine vorgebliche „Islamisierung“ Europas dienen. Nichtsdestoweniger kann Antisemitismus im Allgemeinen aber als verbindendes Element in der Szene betrachtet werden.

Exemplarisch hierfür ist die neonazistische und gewaltorientierte Gruppe „Sturmbrigade 44“ beziehungsweise „Wolfsbrigade 44“81 zu nennen. Die Gruppierung wurde im Jahr 2016 gegründet und fir-mierte unter wechselnden Bezeichnungen. Der Zahlencode 4482 steht nach dem Verständnis der Gruppierung für die

SS-Sonderein-heit „Division Dirlewanger“, benannt nach dem Kriegsverbrecher und Oberführer der Waf-fen-SS Oskar Dirlewanger.

Die „Sturm-/Wolfsbrigade 44“, mit regionalem Schwerpunkt in Hessen, wurde vom Bundes-ministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) am 1. Dezember 2020 verboten und auf-gelöst. Der politische Antisemitismus zeigte sich unter anderem in ihren Statuten, in denen sie die Bundesrepublik Deutschland als „Judenrepublik“ tituliert. Hier heißt es: „Wir werden siegen und die Judenrepublik BRD wieder auf Kurs bringen damit man wieder Deutschland zu diesen Ländereien sagen kann.“83 Die Gruppierung nimmt eindeutig Bezug zum historischen Natio-nalsozialismus und identifiziert sich ausdrück-lich mit Adolf Hitler und seinen Zielen. In einem

„Imagefilm“ der Gruppierung heißt es zusammen mit dem Emblem der Gruppierung und einem Bild von Hitler: „Sein Wille ist unser Auftrag“.84

80 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansät-ze. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Berlin 2012, S. 20 f.

81 Die Gruppierung tritt unter verschiedenen Bezeichnungen auf. Im Folgenden „Sturm-/Wolfsbrigade 44“.

82 Die Zahl 4 entspricht hier dem vierten Buchstaben im Alphabet „D“.

83 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verbotsverfügung „Sturmbrigade/Wolfbrigade 44“, 27. Oktober 2020, S. 44.

84 Ebd., S. 70.

Neben offenem Antisemitismus nehmen auch antisemitische Verschwörungskonstrukte eine wichtige Funktion als verbindendes Element und ideologische Grundlage ein. So zeich-nen sich die gewaltbereit Agierenden der Gruppierung „Nordkreuz“ durch den Glauben an das kurz- bis mittelfristige Ende des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems aus. Als Argumentationsbasis dienen dabei wechselnde Verschwörungstheorien, die sich im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Geflüchteten oder auch der Corona-Pandemie entfalten. Ziel der Gruppierung ist die Vorbereitung auf den „Tag-X“, unter anderem durch das Anlegen von Vorräten und das Beschaffen von Waffen und Munition. Darüber hinaus wur-den Planungen bekannt, die für diesen „Tag X“ in einem Akt

gewaltsamer Selbstermächtigung mutmaßlich die Verschlep-pung und Ermordung von Geflüchteten, Politikerinnen und Politikern sowie zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Ak-teuren vorsahen. Innerhalb der Gruppierung werden vor al-lem Musliminnen und Muslime sowie tatsächliche oder ver-meintliche linke zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Politikerinnen und Politiker als Feindbilder propagiert. Darü-ber hinaus werden der Nationalsozialismus verherrlicht, anti-semitische Aussagen getätigt sowie der Holocaust verharmlost und immer wieder antisemitische

Verschwörungsvorstellun-gen ausgebreitet, denen zufolge Jüdinnen und Juden als Drahtzieher hinter bösartiVerschwörungsvorstellun-gen globa-len Eliten stünden.

Entsprechende Vorstellungen spielten auch beim Anschlag von Hanau (Hessen) eine bedeu-tende Rolle. Der rechtsextremistisch motivierte 43-jährige deutsche Täter tötete am 19. Fe-bruar 2020 zunächst neun Menschen, bevor er seine Mutter und anschließend sich selbst erschoss. Das insbesondere aus dem Bekennerschreiben des Attentäters sprechende Weltbild ist geprägt von Feindbildkonstruktionen, einer kollektivistisch-biologistischen Denkwei-se, Rassismus, „Fremden“- beziehungsweise Ausländerfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, ver-schwörungsideologischem Denken und Antisemitismus. Eine antisemitische Grundfärbung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Schreiben des Attentäters.

In seiner Vorstellung einer allumfassenden, steuernden und allmächtigen Geheimorganisa-tion zeigen sich klassische antisemitische Verschwörungsstereotype. Obwohl der Täter von Hanau das Judentum beziehungsweise Jüdinnen und Juden in seinem Bekennerschreiben nicht direkt adressiert, gehört der Staat Israel für ihn als „Inbegriff des Jüdischen“ zu jenen Staaten, die seiner Auffassung nach zu vernichten seien.

Hier finden sich Parallelen zum antisemitisch-rechtsextremistisch motivierten Anschlag von Halle (Sachsen-Anhalt) am 9. Oktober 2019. Auch hier enthüllte der Täter in seinem im

Inter-Posting der Gruppierung „Nordkreuz“

net verbreiteten „Manifest“ ein von Antisemitismus durchzogenes verschwörungsideologi-sches Weltbild.

III. Antisemitismus im rechtsextremistischen Parteienspektrum

Antisemitismus nimmt innerhalb rechtsextremistischer Parteien unverändert eine wichtige Rolle als verbindender und gleichzeitig identitätsstiftender Faktor ein. So sind antisemitische Überzeugungen und vor allem antisemitisch begründete Feindbilder und Denkmuster bei den Mitgliedern dieser Parteien fest verankert. Der tief verwurzelte Antisemitismus wird da-bei allerdings aus strategischen Überlegungen überwiegend in codierter Form transportiert und verbreitet. Klassische Themengebiete dieser Parteien wie die Agitation gegen „Massen-zuwanderung“ oder eine angebliche „Islamisierung“ Deutschlands sind vor diesem Hinter-grund häufig klar antisemitisch begründet oder bedienen antisemitisch-verschwörungs-ideologische Argumentationsmuster. In den Jahren 2020 und 2021 boten insbesondere die Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie, aber auch der wieder auflodernde Nahost-Konflikt für die rechtsextremistischen Parteien Gelegenheit, ihre antisemitischen Auffassun-gen mit politischen Alltagsthemen zu verknüpfen.

Im Dokument Lagebild. Antisemitismus 2020/21 (Seite 25-28)