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2. Schriftelemente in Bildern westlicher Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

2.5 Primitivismus als Alternative:

2.5.1 Anselm Kiefer (geb. 1945)

Anselm Kiefer wurde am 8. März 1945 in Donaueschingen geboren. 1966 begann er nach einem abgebrochenen Jura- und Romanistikstudium das Studium der Malerei in Freiburg. Kurz nach Beginn seines neuen Studiums besuchte er das Kloster La Tourette und lebte drei Wochen bei den Mönchen, um zu erfahren, wie „abstrakte fromme Ideen ein konkretes materielles Aussehen“321 erhielten. Das war für ihn eine geistig wirkungsvolle Erfahrung. 1969 setzte er sein Studium an der Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe fort. Von 1970 bis 1972 studierte Kiefer bei Josef Beuys in Düsseldorf, den er „seinen Lehrer im weitesten Sinne des Wortes“322 nannte.

Für Beuys war die Kunst der Gipfel der menschlichen Kultur im weitesten Sinne. Er konnte Mythen und Symbole aus verschiedenen Kulturen verarbeiten, aus denen er zusammen mit seinen Erfahrungen als Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg neue Metaphern schuf. Ebenso unbegrenzt wie seine Offenheit gegenüber künstlerischen Themen war die für Techniken und Materialien. Vor allem schulte Kiefer bei Beuys seinen Ehrgeiz und sein Sendungsbewusstsein, „das heißt, den Wunsch, große Bereiche der menschlichen Geschichte innerhalb der Grenzen seiner Kunst zu erfassen“323. Im Gegensatz zu Beuys hat Kiefer keine eigene Weltanschauung, aus deren Warte er die Gesellschaft herausfordert, sich und ihre Probleme zu verstehen. Kiefers Bilder leben aus ihrer Mehrdeutigkeit. In Kiefers Werk bewirken „erst die Metaphern und Beschriftungen, die meist als Fremdkörper beispielsweise auf Landschaften aufgebracht sind, die Individualität und Deutbarkeit der einzelnen Bilder“ 324. Beuys regte Kiefer an, die Auseinadersetzung mit der deutschen Geschichte und Mythologie zum Zentrum

319 vgl. Stangos, 1983, S. 267.

320 vgl. Wheeler, 1991, S. 253.

321 Rosenthal, 1987, S. 10.

322 Rosenthal, 1987, S. 12.

323 Rosenthal, 1987, S. 13.

324 Selzer, 2001, S. 201.

seiner Arbeit zu machen.

Obwohl Kiefer häufig Themen aus der deutschen Geschichte und Mythologie aufgreift, ist er kein „moderner Historienmaler (…), denn er hat wenig Interesse an der wörtlichen Aufzeichnung einer Erzählung“325.

Vielen seiner Bilder schreibt Kiefer den Titel ein oder gibt ihnen Beischriften, die auf ihren Inhalt Bezug nehmen. Die Themen von Kiefers Bildern regen zu kulturellen Debatten an. Seine Beschäftigung mit den deutschen Sagen, Richard Wagners Opern oder mit einer dem heroischen Realismus nationalsozialistischer Künstler wurde von vielen Kritikern abgelehnt. Kiefer wäre allerdings missverstanden, würde man ihm Sympathien für den Nationalsozialismus unterstellen. Eher geht er davon aus, dass man das, was man bekämpfen will, erst einmal an sich heranlassen muss. „In einem System gesehen versucht Kiefers Kunst, uns mit Hilfe des Mythos durch den Vorhof jüngster Geschichte zu führen, hin zu Fragen des Seins. Mit anderen Worten: Der einzige Weg zu einer geistigen Vision führt durch die Welt326.”

Trotz der Fülle an gedanklich-künstlerischen Motiven und Einzelheiten ist ein roter Faden in seinen Werken nicht schwer zu verfolgen. In seiner Arbeit Märkische Heide ,1974 (Abb. 67), malt Kiefer eine Landschaft. Das Geländeprofil ist leicht wellig.

Durch die Landschaft hindurch führt ein Weg. Dieser beginnt am unteren Ende des Bildes und geht auf einem Fluchtpunkt am Horizont zu. Es ist als ob sich der Weg in den Himmel hineinbohre, so dass die Schnittstelle zwischen Weg und Himmel hellblau ist. Der Weg wurde in unterschiedlichen Farbintensitäten in den Farben weiß, blau und grün gemalt. Beiderseits des Weges kann man Vegetation vermuten, auch wenn sie bis auf einige Strukturen an den Wegrändern, die Gräser oder Sträucher darstellen könnten, wenig differenziert dargestellt ist. Bis auf drei kahle Birken im Vordergrund am rechten Wegesrand erscheint die ganze Vegetation überwiegend als grün-braune Masse. Die Landschaft erweckt dadurch den Eindruck, verbrannt und ohne Leben zu sein. Der Künstler benutzt dafür dunkle Farbtöne (schwarz, grün und gelb). Der Himmel nimmt ein Fünftel des Bildes ein. Er macht einen wolkenverhangenen Eindruck. Die kalten Farben, die am Boden benutzt worden sind, werden am Himmel wiederholt. Durch diese ausschließliche Verwendung kalter Farben, die miteinander harmonieren, wird der Eindruck, den die tote Landschaft auf den Betrachter macht, verstärkt. Wie bei vielen

325 Rosenthal, 1987, S. 10.

326 Hutchinson, John, Kiefers Welt, in: Anselm Kiefer. Ausst.kat. Stuttgart 1980, o. S., zitiert nach: Selzer, S.

200.

Bildern Kiefers wird auch hier durch die Farbwahl eine düstere Stimmung erzeugt. Auf dem unteren Drittel des Weges schrieb Kiefer mit schwarzer Farbe „Märkische Heide“.

Der Titel weckt Assoziationen an das gleichnamige Lied327: 1.

Märkische Heide, Märkischer Sand

Sind des Märkers Freude, Sind sein Heimatland.

Sind des Märkers Freude, Sind sein Heimatland.

Steige hoch, du deutscher Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

2.

Uralte Eichen,

Dunkler Buchenhain, Grünende Birken Stehen am Wiesenrain.

Grünende Birken Stehen am Wiesenrain.

Steige hoch...

Dieses Lied war ein beliebtes Soldatenlied und ruft damit auch Erinnerungen an viele blutige Schlachten in Brandenburg, zuletzt am Ende des Zweiten Weltkrieges, hervor.

Kiefer stellt seine Landschaften keineswegs romantisch-verklärend dar, Sehnsucht ist ihm fremd. In seinem unerbittlichen Realismus nimmt er eine „kalte, sogar distanzierte Haltung“328 gegenüber einer deutschen Landschaft ein. Das Motiv der Birken taucht auch in Kiefers Gemälde auf, wenngleich sie bei ihm gerade nicht grünend sind.

Kiefer konfrontiert seine Betrachter, die nach jahrzehntelanger Vorherrschaft der

327 Text und Melodie (1923): Gustav Büchsenschütz (1902-1996), in: Frisch gesungen! Singbuch A für die unteren und mittleren Klassen der höheren Knabenschulen, für Knabenmittelschulen und verwandte Lehranstalten Bd. 1, 80. Aufl., Hannover 1938, S. 116.

328 vgl. Rosenthal, 1987, S. 35.

Abstraktion, bei der „the medium the message“ ist, mit einer Bildsprache, die nur deuten kann, wer über die entsprechenden kulturellen Hintergrundinformationen verfügt. Indem Kiefer Schrift in seine Bilder einschreibt, lässt er die Betrachter jedoch nicht ganz allein. „Um die Bedeutung von Kiefers Bildern zu enträtseln, ist es erforderlich, die Aussagen des Künstlers und die Muster der Bilder mit einer Analyse des Charakters seines Werkes und den Worten, die auf die Oberfläche geschrieben sind, zusammenzubringen. Dieser Zugang ist besonders für die Kunst angebracht, die vom Anfang seiner Karriere bis 1980 datiert, als sein Ehrgeiz größtenteils auf den Inhalt konzentriert zu sein schien“329.

„Kiefer bietet Kunst als theoretisches Gegengift für den Terror der menschlichen Geschichte und des Scheiterns der mythischen Gestalten an. Sie diente Beuys in einer ähnlichen Funktion, der sich vorstellte, dass sie enorme stärkende Energie habe: ,Nur Kunst ist fähig, die repressiven Effekte eines vergreisten Gesellschaftssystems zu zerstören, das fortfährt, entlang dem Abgrund zu taumeln’ . Früher im Jahrhundert hatte auch Wassily Kandinsky vorausgesagt, dass Kunst tatsächlich Menschen von einer verdorbenen Gesellschaft wegführen würde. Die idealistische Auffassung ist, dass, während Kunst dem Reich der Männer und Frauen angehört, sie auf einer höheren Ebene als die bloße Geschichte zu existieren scheint und die erhabensten und positivsten Bestrebungen der Menschheit darstellt“330.

In Die Ordnung der Engel, 1983-84 (Abb. 68), malt Kiefer eine Felsenlandschaft in verschiedenen Schwarz- und Brauntönen, die fast bis an den oberen Bildrand reicht.

Über der Landschaft erstreckt sich ein grauer Himmel, in dessen Mitte eine helle Fläche erscheint. An dieser Stelle stößt eine Bergspitze, auf die die Felsenlandschaft zuläuft, in den Himmel. Auf die linke Seite des Himmels hat Kiefer mit dunkelgrauer Farbe

„Dionysius Aeropagita“ geschrieben, auf die rechte „die Ordnung der Engel“.

Dionysius, „einer aus dem Rat“, wie Luther das griechische Αρεοπαγιτης übersetzt, war einer der wenigen Männer, die nach der Predigt des Paulus in Athen den christlichen Glauben annahmen (Apg 17,34). In der kirchlichen Tradition wurde er der erste Bischof von Athen. Wahrscheinlich im 5. Jahrhundert in Syrien entstand eine Schrift „Über die himmlische Hierarchie“, die diesem Dionysius zugeschrieben wurde. Ausgehend vom Bibelvers Gen 1,1 „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, wird in dieser Schrift

329 Rosenthal, 1987, S. 10.

330 Rosenthal, 1987, S. 56.

ausgesagt, dass mit „Erde“ das natürliche Universum, mit „Himmel“ die Welt der Engel gemeint sei. Die öde Felsenlandschaft könnte sich dann auf den Zustand der Erde beim Beginn der Schöpfung beziehen, von der ausgesagt wird, dass sie „wüst und leer“ gewesen sei (Gen 1,2). Da nach dem Schöpfungsbericht von Gen 1 die Erde am Anfang von einer Chaosflut bedeckt war, spielt die Felsenlandschaft eher auf Gen 2,5 an, wonach am Beginn der Schöpfung der Erdboden eine trockene Wüste war. Die helle Fläche am Himmel, an den die Bergspitze stößt, erinnert an die Gotteserscheinung auf dem Berg Sinai, von der es heißt, dass sich „ein Donnern und Blitzen und eine dichte Wolke auf dem Berge“ erhoben (Ex 19,16). Das Bild beschriebt den Augenblick, in dem „Gott eine himmlische Hierarchie anordnete“331. Durch hellgraue Linien, die vom Himmel ausgehen, sind neun einzelne Felsen, die das Wesen der Engel symbolisieren, da der Fels „in vielen Traditionen als heilig betrachtet wird“332 mit ihm verbunden, entsprechend den Ordnungen in der himmlischen Hierarchie. In absteigender Ordnung von Gott sind es: Seraphim, Cherubim, Throne, Herrschaften, Mächte, Gewalten, Fürstentümer, Erzengel und Engel. Am Ende der Linien, wo sie den Himmel berühren, steht der Name der Ordnung auf einem Schild, bei den Felsen im Vordergrund ihre Ordnungszahl in römischen Ziffern. Dabei ändert Kiefer die traditionelle Rangordnung der Engel. Mit I. bezeichnet er die Throne, mit II. die Cherubim, mit III. die Seraphim, mit IV. die Mächte, mit V. die Herrschaften, mit VI. die Gewalten, mit VII. die Fürstentümer, mit VIII. die Erzengel und mit IX. die Engel. Es fällt im Bild auf, dass die erste Ordnung ganz rechts beginnt und nach links hin absteigen. Allerdings hat Kiefer nicht den Engeln, also der neunten Ordnung, den Platz ganz links gegeben, sondern den Erzengeln, also der achten Ordnung. Die Engel haben ihren Platz an der zweiten Stelle links. Weiter fällt auf, dass die Felsen, welche jeweils eine Engelsordnung symbolisieren, im halbrund im Vordergrund angeordnet sind. Lediglich die Felsen für die sechste und siebente Ordnung befinden sich tiefer im Raum. Wie üblich in den Bildern Kiefers, sind Zahlen wichtig; in diesem Fall zählen sie die himmlischen Kategorien auf und ordnen sie. Die Seraphim und Cherubim werden außerdem durch Schlangen dargestellt. Das hat vermutlich damit zu tun, dass die Cherubim nach Gen 3,24 den Weg zum Baum des Lebens bewachen, während im Gilgamesch-Epos der Baum des Lebens durch eine Schlange bewacht wird. Weiterhin sind die geflügelten Seraphim (hebr. Sing. saraph) in Jes 6,2 semantisch von Schlangenarten abgeleitet, wie dem „feurigen fliegenden Drachen“ in Jes 14,29 (hebr.

331 Rosenthal, 1987, S. 137.

332 ebd.

saraph meÞopheph) oder den „feurigen Schlangen“ in Num 21,6 (hebr. seraphim ha-naÌaš). Auch die eherne Schlange die Mose in Num 21,8 anfertigen soll, wird als saraph bezeichnet.

Beim genauen Lesen fällt auf, dass Kiefer den Namen Dionysius Areopagita in Aeropagita umgewandelt hat. „In diesem Fall ist es die ausdrückliche Absicht des Spiels, eines der [vier] Elemente hervorzuheben (…). Erstens leben Engel in der Luft.

Zweitens ist „Aero“ ein Spiel mit den französischen Worten aérer, was „die Luft bewegen“ oder „lüften“ bedeutet, und aérien, „luftartig“, „himmlisch“ oder „in der Luft lebend“; ebenso erinnert es an Worte, die mit aéro- anfangen und sich auf Flugzeuge beziehen“333.

Durch seine Kunst fordert Kiefer den Betrachter auf, sich mit seiner Kultur und Geschichte auseinanderzusetzen. Mit Hilfe der Kunst soll der Schmerz über die Entzauberung der Welt abgemildert werden. Auch den schlimmsten Themen kann man sich durch die Kunst annähern, ohne abgeschreckt zu werden. Letztlich illustriert sie die Frage: „Kann sie oder kann sie nicht die Probleme des Lebens lösen?“ 334. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Rosenthal das Werk Kiefers nicht metaphysisch überfrachtet. In einem ZEIT-Interview anlässlich seines 60. Geburtstages antwortete Kiefer auf die Frage nach dem Sinn des Lebens – die beantwortet werden muß, bevor man nach den Problemen des Lebens fragt -: „Den gibt es für mich nicht. Ich halte das Leben aus, indem ich in einem kleinen Bereich eine Ordnung herstelle. Ordnung ist nicht der richtige Begriff. Indem ich in meiner künstlerischen Tätigkeit einen Zusammenhang herstelle. Sonst würde ich nicht leben“335. Kiefer selbst misst seiner Arbeit also erheblich weniger Gewicht bei, als Rosenthal dies tut.