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Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten

(612) Gegenstand dieses Berichts bildet die Frage, ob das geltende bernische Staatskirchen-recht den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen entspricht und in welcher Richtung eine allfällige Weiterentwicklung gehen könnte. Eine erste Teilfrage sollte klären, ob die auf die traditionelle bernische Staatskirche zurückgehende enge Verflechtung zwischen den Lan-deskirchen und der Staatsverwaltung noch nötig ist und welche Ziele mit einer solchen Ver-flechtung verfolgt werden sollen. Oder anders gefragt: Wie stark soll sich ein zeitgemässes Staatskirchenrecht bzw. Religionsverfassungsrecht mit der Organisation und Administration der anerkannten Glaubensgemeinschaften befassen? Die enge administrative Verflechtung und die Anstellung der meisten Pfarrerinnen und Pfarrer beim Staat entspricht wohl keinem aktuellen Bedürfnis; denn sie beruht auf dem Staatskirchentum der Reformation214. Die ka-tholische Kirche war darin ohnehin immer ein wenig ein Fremdkörper, auch wenn das

211 FRIEDERICH UELI (1999): Vorbemerkungen zu Art. 126 – 129 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 5 ff., in: ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindegesetz des Kan-tons Bern, Bern.

212 www.rkz.ch (Zugriff 1.9.2014).

213 Vgl. zum Papst als Oberhaupt der Weltkirche, dem Heiligen Stuhl als Vertragspartei der Konkordate und dem Kirchenstaat als Völkerrechtssubjekt: WINZELER CHRISTOPH (2009), Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, 2. Auflage, Zürich, S. 72.

214 ISELIN-SARAUW DIETRICH (1990):Gutachten über Fragen zu den Kirchenartikeln in der neuen Staatsverfassung des Kantons Bern, Bern, S. 40: „Dass Geistliche Staatsbeamte seien, ist auch unter dem Gesichtswinkel der his-torischen Rechtstitel weder staats- noch kirchenrechtlich zwingend …“.

kirchentum ihr Wirken und ihre Entfaltung nicht behindert hat215. Mehr Autonomie der Kirchen und ein Rückzug des Staats auf eine Art Oberaufsicht wie in Zürich und Basel erscheinen denkbar. Sicher zeitgemäss sind demgegenüber die Anforderungen an die demokratische Organisation, die Transparenz und die Respektierung der staatlichen Grundwerte, die an die staatliche Anerkennung und an Finanzhilfen geknüpft werden.

Die aus Sicht der Autoren dieses Berichts am meisten interessierenden Verflechtungen sol-len im Folgenden kurz gestreift werden. Die Zusammenstellung erhebt also keinerlei An-spruch auf Vollständigkeit.

 (613) Territorialität: Müssen die Kirchgemeinden der anerkannten Landeskirchen immer territorial organisiert, also an ein bestimmtes Gemeindegebiet gebunden sein216? Wie das Beispiel der Burgergemeinden zeigt, können Gemeinden als öffentlich-rechtliche Körper-schaften auch personal statt territorial strukturiert sein. In kirchlichen Belangen gilt dies übrigens schon für gewisse französischsprachige, als Personalkörperschaft ausgebildete Kirchgemeinden217. Weil die Steuern am Wohnsitz bezahlt werden, scheint der Einzug von Kirchensteuern die Ausgestaltung der Kirchgemeinden als Gebietskörperschaften vo-rauszusetzen. Indessen wäre der Bezug der Kirchensteuern auf kantonaler Ebene und deren anschliessende Rückverteilung auf die Gemeindeebene ebenfalls möglich218. Nicht-territoriale Kirchgemeinden könnten für die Bedürfnisse der römisch-katholischen Kirche mit ihren fremdsprachigen Missionen von Interesse sein. Zu denken ist auch an die Frei-kirchen sowie an christlich-orthodoxe Gruppen. Ferner wäre es mit einer nicht-territorialen Struktur möglich, dass ein Kirchenmitglied einer Kirchgemeinde ausserhalb seines zivil-rechtlichen Wohnsitzes angehört, was heute ausgeschlossen ist219. Wer also heute mit dem Kirchenleben in seiner Gemeinde nicht einverstanden ist, dem steht rein rechtlich keine Möglichkeit offen, anderswo als vollberechtigtes Gemeindemitglied tätig zu werden und seine Steuern zu bezahlen.

 (614) Bildung, Bestand und Abgrenzung von Kirchgemeinden: Dafür ist wie bei den Einwohnergemeinden der Grosse Rat zuständig (Ausnahme: Gesamtkirchgemeinden).

Darüber hinaus garantiert Art. 108 KV den Kirchgemeinden Bestand, Gebiet und Vermö-gen. Eine Aufhebung bzw. Fusion setzt ausdrücklich das Einverständnis der

215 Siehe dazu WINZELER CHRISTOPH (2009): Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, 2. Auflage, Zürich, S. 99.

216 FRIEDERICH UELI (1999): Art. 126 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 3, in:

ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindegesetz des Kantons Bern, Bern.

217 FRIEDERICH UELI (1999): Art. 126 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 4, in:

ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindegesetz des Kantons Bern, Bern

218 In technischer Hinsicht geschieht dies heute ohnehin schon: Die kantonale Steuerverwaltung zieht die direkte Bundessteuer, die Kantons- und Gemeindesteuern sowie die Kirchensteuern ein: vgl. vorne Kapitel 4.2.

219 FRIEDERICH UELI (1999): Art. 126 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 11, in:

ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindegesetz des Kantons Bern, Bern

meinde voraus. Immerhin kann seit der Verfassungsrevision des Jahres 2012 der Grosse Rat den Zusammenschluss von Gemeinden gegen deren Willen anordnen, wenn dies überwiegende Interessen erfordern (Art. 108 Abs. 3 KV)220. Man kann sich die Frage stel-len, welches gesamtkantonale Interesse verbietet, solche im Grunde internen Strukturfra-gen den Kirchen zu überlassen. Ob Kirchgemeinden weiterbestehen oder angesichts der Mitgliederentwicklung fusioniert werden sollen, erscheint heute als Frage, die primär von den Landeskirchen und ihren Kirchgemeinden und nicht vom Kanton zu entscheiden ist.

Die Kirchgemeinden haben heute selten mehr einen direkten Bezug zu den Einwohner-gemeinden. Als Beispiel für eine solche Entwicklung sei auf Art. 130 Abs. 2 der Zürcher Kantonsverfassung verwiesen, der die Zuständigkeit für die Neubildung, den Zusammen-schluss und die Auflösung von Kirchgemeinden der landeskirchlichen Autonomie über-lässt.

 (615) Abgrenzung zwischen inneren und äusseren Angelegenheiten der Kirchen:

Für die Abgrenzung zwischen inneren und äusseren Angelegenheiten221 der Kirchen gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Wo die Grenze zwischen der Selbstorganisation und staatlich vorgegebenen Strukturen verläuft, ist nicht immer klar (vgl. Art. 3 Abs. 2 KG). Da-raus folgt, dass sich der Staat auch auf weniger Bestimmungen zu den „äusseren Ange-legenheiten“ zurückziehen könnte. So hat der kantonale Gesetzgeber die Kirchgemein-den, wiewohl sie Körperschaften nach kantonalem Gemeindegesetz sind, bereits von di-versen kantonalen Vorschriften ausgenommen222. Ein weitergehender Rückzug des Kan-tons in Richtung einer Oberaufsicht erscheint darum möglich. Als Beispiel kann wiederum Art. 130 Abs. 3 der Zürcher Kantonsverfassung dienen.

 (616) Gemeindeaufsicht: Die staatliche Aufsicht über die Kirchgemeinden umfasst selbstverständlich nur die äusseren Angelegenheiten. Dort gilt sie beispielsweise den Fi-nanzen gemäss den Detailvorschriften der Gemeindeverordnung (z.B. Rechnungsle-gungsvorschriften), sowie den Regeln über die Entscheidungsfindung und den Verant-wortlichkeiten. Parallel dazu gibt es auch eine gewisse innerkirchliche Aufsicht der deskirchen. Die Frage erscheint legitim, ob nicht mehr Aufsichtskompetenzen den Lan-deskirchen übertragen werden könnten; denn schliesslich sind die Kirchgemeinden freiwil-lige Zusammenschlüsse von Menschen gleicher Konfession, weshalb die staatliche Auf-sicht weniger eng gewoben sein kann als bei den Einwohnergemeinden.

 (617) Geistliche als Kantonsangestellte: Mit der auf historische Rechte zurückgehen-den Finanzierung eines Grossteils der Pfarrlöhne der Landeskirchen (Kapitel 4.3) ist im Kanton Bern der Umstand verknüpft, dass diese Geistlichen Angestellte des Kantons und

220 Siehe dazu im weiteren das Gesetz zur Förderung von Gemeindezusammenschlüssen vom 25. November 2004 (Gemeindefusionsgesetz, GFG) , das auch auf Kirchgemeinden anwendbar ist.

221 Siehe dazu FRIEDERICH UELI (1999): Vorbemerkungen zu Art. 126 – 129 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 3 ff., in: ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindege-setz des Kantons Bern, Bern.

222 FRIEDERICH UELI (1999): Art. 126 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern, Rz. 7, in:

ARN/FRIEDERICH/FRIEDL/MÜLLER/MÜLLER/WICHTERMANN (1999): Kommentar zum Gemeindegesetz des Kantons Bern, Bern.

nicht etwa der Kirchgemeinden sind. Als solche unterstehen sie dem kantonalen Perso-nalrecht223. Das impliziert, dass die kantonalen Behörden nicht nur eine Gemeindeaufsicht nach Gemeindegesetz unterhalten, sondern auch eine entsprechende Personalabteilung (Art. 19a KG). Was in der historischen Berner Staatskirche selbstverständlich war, wirkt heute etwas verstaubt; denn die Geistlichen sind damit neben der Aufsicht durch die Kir-che, deren Vertreter sie sind, auch noch jener des anstellenden Kantons unterworfen224. Die Notwendigkeit dieser doppelten Aufsicht leuchtet dann nicht recht ein, wenn man da-von ausgeht, dass heute die kantonalen Pfarrbesoldungen anders als zu Zeiten der Staatskirche nur noch auf historische Rechte und nicht mehr auf eine gewollte staatliche Einflussnahme auf die Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer zurückzuführen ist225. Man kann sich in der Tat heute fragen, ob die Aufnahme eines Geistlichen in den bernischen Kir-chendienst in einer Zeit, die Abschied von der alten Staatskirche genommen hat, noch zeitgemäss ist. Ihr Vorteil mag darin liegen, dass der Kanton darauf Einfluss hat, wer den gewünschten Service public erbringt und beispielsweise Pfarrpersonen ablehnen kann, die mit der hiesigen Sprache und Kultur ungenügend vertraut sind oder denen der vom Staat gewünschte Bildungsstand fehlt226. Derartige Auflagen könnte er den Kirchen aber auch machen, ohne die Pfarrpersonen selbst anzustellen. Entflechtungen erscheinen also nicht undenkbar. Sie könnten bis zum Punkt gehen, in dem die Anstellung der Pfarrperso-nen im Rahmen des geltenden Staatskirchenrechts Sache der Landeskirchen wird. Damit würde auch das ganze Personalwesen an diese übergehen, wie dies im Kanton Zürich seit kurzem der Fall ist. Die Pfarrwahl kann auch in einem solchen System immer noch bei den Kirchgemeinden liegen (vgl. Art. 125 Abs. 2 KV). Ebenso kann eine zweckmässig ausgestaltete Oberaufsicht verhindern, dass ungeeignete Geistliche den religiösen Frie-den gefährFrie-den. Natürlich hängt der Entscheid bezüglich des Verflechtungsgrades auch davon ab, wie viel Vertrauen der Staat den Landeskirchen entgegenbringt.