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1. THEORETISCHER HINTERGRUND

1.7. Emotionsregulation

1.7.2. Allgemeine und differentielle Entwicklungsverläufe

Die Affektregulation durchläuft komplexe und lang andauernde Entwicklungen. Wie be-schrieben (vgl. Kap 1.2.2) sind bereits Neugeborene auf vielfache Weise in der Lage, negative Emotionen zu regulieren. SROUFE (1995) beschreibt die Beobachtung, dass Neugeborene bei Stressoren wie einem lauten akustischen Reiz gelegentlich einschlafen als Schutz vor Über-stimulation in einer Lebensphase, in der andere Mechanismen noch nicht zur Verfügung ste-hen. Auch FIELD und PRINZ (1997) merken an, dass Bewältigungsstrategien, die zu einem späteren Zeitpunkt als unsozial betrachtet werden würden, im Säuglings- und Kleinkindalter adaptive Funktion besitzen. Als früheste aktive Strategien können Abwenden, Hilfesuchen oder Greifen nach ablenkenden Objekten aufgefasst werden (COMPAS et al., 2001; LO-SOYA et al., 1998). Im Laufe der Entwicklung wandeln sich das Auftreten dieser Verhal-tensweisen und ihre Effektivität hinsichtlich der Veränderung von emotionalen Zuständen.

Diese Entwicklung kovariiert mit der Entwicklung anderer Bereiche wie Sprache, Aufmerk-samkeit, Kognition oder Motorik. Große Entwicklungsschritte sind während des zweiten Le-bensjahres zu vermerken. Generell stehen zunehmend mehr Verhaltensweisen zur Verfügung, das Regulationsverhalten wird aktiver, flexibler, individueller und stärker willentlich beein-flussbar (PARRITZ, 1996; GIANINO & TRONICK, 1988). Hinzu kommt, dass auch die Be-zugspersonen ihr Verhalten entsprechend den wachsenden Fähigkeiten des Kindes ändern: sie zeigen zunehmend mehr Zurückhaltung und geben dem Kind weniger ungefragte Hilfestel-lung. Diese Entwicklung von dyadischer, von der Bezugsperson abhängiger, hin zur Selbstre-gulation bezeichnet SROUFE als „die allumfassende sozio-emotionale Entwicklungsaufgabe

des Vorschulalters“ (1995, S. 192). Mitbeteiligt an den Veränderungen der Emotionsregulati-on ist auch die Reifung des präfrEmotionsregulati-ontalen Kortex. Da diese erst in der späten Pubertät ab-schließt, ist bis ins Jugendalter von sich wandelnden Grundvoraussetzungen und andauernden Entwicklungen auszugehen (GOLDSMITH & DAVIDSON, 2004; DAVIDSON & RICK-MAN, 1999).

KOPP stellte bereits 1982 ein Phasenmodell zur Beschreibung der Entwicklung der Selbstre-gulationsfähigkeit auf, das in deutlicher Weise die Entwicklungsrichtung der Regulation von der dyadischen zur Selbstregulation aufzeigt. Während der ersten beiden der insgesamt fünf Stadien – "neurophysiologische" und "sensumotorische Modulation" – ist das Kind noch stark auf seine Bezugspersonen angewiesen, die es in der Emotionsregulation unterstützen. Ein großer Entwicklungsschritt ist der Übergang zur dritten Phase, die KOPP "Kontrolle" nennt.

Erst in diesem, Ende des ersten Lebensjahres beginnenden Stadium sind Kinder in der Lage, selbst Aktivitäten zu initiieren, zu verzögern oder zu beenden und willentlich angemessene Verhaltensweisen aus dem gegebenen Verhaltensrepertoire auszuwählen. Voraussetzung hier-für ist ein Bewusstsein hier-für soziale Situationen. Der Begriff "Kontrolle" soll verdeutlichen, dass es sich bei den Verhaltensweisen um ein wenig flexibles Geschehen handelt. Die beiden folgenden Phasen der "Selbstkontrolle" (ab dem zweiten Lebensjahr) und der "Selbstregulati-on" (ab dem dritten Lebensjahr) zeichnen sich durch zunehmend komplexere kognitive Ver-arbeitung der gegebenen Situationen, zunehmende Unabhängigkeit von Hilfestellungen ande-rer Personen oder Hinweisen mit Signalcharakter und wachsende Flexibilität des resultieren-den Verhaltens aus.

PARRITZ (1996) unterscheidet solche Strategien, die um das Selbst organisiert sind (z.B.

Selbstberuhigung oder Aufmerksamkeitsregulation) und solche, welche die Bezugsperson in Anspruch nehmen. Er untersuchte in einem Querschnittsdesign je 36 zwölf- und achtzehnmo-natige Kinder und fand Selbstberuhigungsverhalten und selbständige aktiv-problemorientierte Verhaltensweisen häufiger bei den älteren Kindern. Dies spricht für die Vermutung, dass sich zu Anfang des zweiten Lebensjahres ein bedeutsamer Entwicklungsschritt in Richtung Auto-nomie in der Regulation vollzieht. STIFTER und BRAUNGART (1995) untersuchten in einer Längsschnittstudie 87 bzw. 82 Kinder in Ärger auslösenden Situationen. Mit fünf Monaten wurde die standardisierte Situation "Arm-Restraint" durchgeführt. Hierfür werden die Mütter instruiert, ihr Kind sanft in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken, indem sie seitlich die Arme festhalten. Mit zehn Monaten wurde den Kindern ein Spielzeug weggenommen. Regu-lationsverhalten wurde kontinuierlich in den Kategorien Vermeidung,

Aufmerksamkeitslen-kung, Selbstberuhigung und kommunikatives Verhalten erfasst und die negative Reaktivität in 10-Sekunden-Intervallen anhand des Ausdrucksverhaltens. Anschließend wurde verglichen, welche Verhaltensweisen häufiger auftraten, wenn sich die negative Reaktivität von einem zum nächsten Beobachtungsintervall veränderte. Selbstberuhigungsverhalten war zu beiden Messzeitpunkten die am häufigsten gezeigte Regulationsstrategie. Während es bei den fünf-monatigen Kindern jedoch noch wenig zur Modulation beitragen konnte, trat es bei den zehnmonatigen übersignifikant häufig in Intervallen auf, denen sich ein verminderter Ärger-ausdruck anschloss. Die Ergebnisse belegen nicht, dass die negative Reaktivität tatsächlich durch das Regulationsverhalten gemindert wurde und weiterhin geben die Autorinnen zu be-denken, dass die Unterschiede zwischen den beiden Zeitpunkten auch auf die unterschiedli-chen Situationen zurück geführt werden können. Dennoch kann mit diesen Befunden vorsich-tig hypothetisiert werden, dass die Effektivität von Selbstberuhigungsverhalten im ersten Le-bensjahr zunimmt, zumal ROTHBART et al. (1992) ebenfalls diesen Trend fanden.

Zwar ist der Entwicklungsverlauf auf einer sehr allgemeinen Ebene recht gut beschreibbar, es bestehen aber große interindividuelle Unterschiede im Erwerb spezifischer Strategien und zu diesen differentiellen Verläufen sind noch viele Fragen offen. In Anlehnung an die Theorie ROTHBARTs wird angenommen, dass die Entwicklung der Affektregulation von der Reakti-vität eines Kindes abhängt. Um diese Hypothese zu untersuchen wurden die Entwicklungen von konkreten Regulationsstrategien und ihre Zusammenhänge zu Temperamentsvariablen, welche die Reaktivität abbilden, meist die kindliche Ängstlichkeit, in standardisierten Situati-onen und verschiedenen Altersstufen untersucht. Die Beobachtungen der Regulationsstrate-gien erfolgten meist in Anlehnung an die oben genannten Kategorien nach ROTHBART et al.

(1992, vgl. Kap. 1.3.1). Beispielhaft möchte ich die Studie von MANGELSDORF, SHAPIRO und MARZOLF (1995) zitieren. In einem Querschnittsdesign wurden sechs-, zwölf- und achtzehnmonatige Babys (je n = 25) mit einer fremden Versuchsleiterin konfrontiert. Wäh-rend sich die jüngsten vor allem durch Vermeidung der Aufmerksamkeit und Quengeln zu helfen versuchten, zeigten die beiden älteren Gruppen mehr Selbstberuhigungs-, mehr Selbst-ablenkungsverhalten, mehr aktive Vermeidung durch Vergrößern der räumlichen Distanz zu der Fremden und mehr aktives Lenken der Situation durch auffordernde Äußerungen oder Zeigegesten. Mit zunehmendem Alter stand den Kindern also ein reichhaltigeres Repertoire zur Verfügung und sie bevorzugten aktivere und von der Bezugsperson unabhängigere Me-thoden. Die per Fragebogen erfasste kindliche Ängstlichkeit gegenüber Fremden erwies sich als bedeutsamer Moderator für die Art und Weise der Emotionsregulation. Von ihren Müttern

als hoch ängstlich beschriebene Kinder zeigten signifikant häufiger und länger Blickvermei-dung und suchten stärker die Nähe zu ihren Müttern. Weiterhin zeigten diese mit zwölf Mo-naten mehr Selbstberuhigungsverhalten während sich die als wenig ängstlich beschriebenen häufiger dadurch ablenkten, indem sie andere Objekte betrachteten. Im Gegensatz zu den ängstlichen Kindern verweigerten sie also nicht gänzlich ihre Aufmerksamkeit, sondern such-ten sich aktiv einen neuen Fokus. Kritisch ist anzumerken, dass die kindliche Ängstlichkeit mittels Beschreibungen der Mutter erfasst wurde und diese auch anwesend war, als ihr Kind die fremde Person traf. So besteht die Möglichkeit, dass Mütter, die ihre Kinder als Fremden gegenüber ängstlich beschreiben bei ihnen genau dieses Verhalten hervorrufen, sich also höchstens Aussagen über die Wahrnehmung der Mutter oder die Mutter-Kind-Beziehung, nicht aber über das kindliche Temperament machen lassen. Auch wenn dieser methodische Einwand die Interpretation erschwert, bestätigt sich die Hypothese, dass die kindliche Furcht-tendenz einen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Affektregulation hat. Auch die in Ka-pitel 1.3.2 beschriebenen Befunde zu temperamentsabhängigen Aufmerksamkeitsstrategien sprechen hierfür.