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ÜBERSICHT ÜBER DIE ÄLTEREN UND NEUEREN BEITRÄGE ZUR TEKTONIK, ZU DEN

Im Dokument Lux IN TENEBRIS (Seite 7-12)

1. DIALOG STATT EINLEITUNG

1.1 ÜBERSICHT ÜBER DIE ÄLTEREN UND NEUEREN BEITRÄGE ZUR TEKTONIK, ZU DEN

Gesamtdeutungen von Grimmelshausens Roman. Kritische Bemerkungen.

I.

1.1. Es gehört heutzutage bereits zur Forschungsgeschichte, Grimmelshausens Simplicissimus in die Ahnenreihe der deutschen Bildungs- oder Entwicklungsromane zu stellen. Begriffe wie ,Bildung' und ,Entwicklung' wären dann berechtigt und sinnvoll eingesetzt, "wenn man bei Simplicius' Lebensweg von einer Entfaltung eingeborener Anlagen, von einem kontinuierlichen, organischen Reifeprozeß auch über Krisen hinweg und von einer harmonischen Ausbildung der geistigen Anlagen zu einer Gesamtpersönlichkeit sprechen könnte" (Meid 1984: 137). Der Held müsste nachweislich eine unverwechselbare Identität besitzen. Der Gedanke der organischen Entwicklung des Helden wird des Weiteren dadurch abgeschwächt, dass im

4 Roman selbst von Belehrung die Rede ist. Diese erfolgt während des Wald lebens, als der Einsiedei Simplicius die christlichen Grundwahrheiten vermittelt. Über diese Lehre kommt die Hauptfigur nicht mehr hinaus. Kategorien wie Zielstrebigkeit, Kontinuität oder organische Entwicklung kennzeichnen daher den Lebensweg selber nicht, er ist vielmehr einem ständigen Auf und Ab vergleichbar, ist zu erfassen mit einer Entfernung von oder reuiger Rückkehr zu den christlichen Lebensmaximen (vgl. Meid 1984: 137f).

1.2. Eine weitere, ihrem Wesen nach eher implizite Voraussetzung des modernen Entwicklungsgedankens ist die veränderte Geschichtsauffassung. Das Individuum bildet eine Voraussetzung für den Entwicklungsbegriff, für die Darstellung eines Individuums, d.h. einer Gestalt in ihrer einmaligen Bedeutung, wird wiederum eine organische Geschichtsauffassung vorausgesetzt, wie sie aber erst seit dem 18. Jahrhundert vorliegt. "Das 17. Jahrhundert kennt noch kein organisches Entwicklungs- und Geschichtsdenken, die traditionellen heilsgeschichtlichen Auffassungen von Geschichte bleiben weitgehend verbindlich [ ... ]" (Meid 1984: 138). Die Geschichte wird "als Ansammlung von exemplarischen Fällen begriffen und so 'I von den Dichtern verwertet. [ ... ] Die historischen Exempel dienen zur Veranschaulichung und Bekräftigung von Normen einer unbefragt gültigen Ordnung, zugleich liefern sie Maßstäbe für verantwortliches Handeln. Daraus erhält Geschichte ihren Sinn. Für individuelles Schicksal oder ein historisches Entwicklungsprinzip ist in einer derartigen Geschichtsauffassung kein Platz [ ... ]"

(ebd.).

11.

Einen weiteren Forschungsstrang bilden religiös-allegorisch fundierte Untersuchungen des Simplicissimus. Vor der Überbewertung eines solchen Zugangs sei gewarnt. Man hat das Werk zum Beispiel als Bekehrungsroman bezeichnet, "wenngleich damit die komplexe Struktur des Romans doch recht vereinfacht wird. Denn diese widersetzt sich der Reduktion auf eine eindeutig religiös-allegorische Interpretation, wie sie sich z.B. aus Rötzers Vergleich mit den verdeutschten Pikaroromanen zu ergeben scheint" (Meid 1984: 101f).

Hinsichtlich einer konventionell religiösen Weltdeutung des Romangeschehens ist aber auch aus einem anderen Grund Vorsicht geboten. Dieser besteht in der Einbettung des exemplarischen Lebenslaufs des Simplicius Simplicissimus in einen konkreten geschichtlichen und geographischen Kontext: "Durch den Erzähler und seinen Helden geraten Elemente außerliterarischer, ,erlebter' Realität in den Roman, die im Widerspruch zur konventionell religiösen Weltdeutung stehen." Die allegorische Weitsicht ist nicht mehr selbstverständlich, die tatsächliche Welt geht nicht mehr bruchlos in der religiösen Weltdeutung auf. Unhaltbar sei daher die Vorstellung, dass "Simplicius' Leben ein letztlich mittelalterlich-christliches Weltbild illustriere und die Weitabsage das folgerichtige Resultat dieses Lebens sei" (Meid 1984: beide Zit. 139).

5

Die folgende Argumentation bezieht sich auf den kompositionellen Aufbau des Romans, vornehmlich auf die Frage der Tektonik.

111.

111.1. Der diesbezügliche Abschnitt wird bei Meid mit diesen Worten eröffnet:

Grimmelshausens Simplicissimus ist ein umfangreicher, vielschichtiger Roman, auf den verschiedene literarische Formen und Traditionen eingewirkt haben. Es stellt sich daher die Frage, ob seine Komplexität in einem übergeordneten Kompositionsprinzip aufgehoben und wie das Problem der epischen Integration gelöst wird. Darauf gab und gibt es verschiedene Antworten. Problematisch wird es dort, wo mit der Erwartung künstlerischer ,Einheit' und ,Stimmigkeit' Denkformen der Goethezeit auf das 17. Jahrhundert projiziert werden. In diese Gefahr läuft die Interpretation des Werkes als Bildungs- bzw.

Entwicklungsroman, wobei in der Tat unangemessene Kriterien an den Roman herangetragen werden [ ... ].

(Meid 1984: 139f)

Hierher gehört Scholtes 1 These, der Aufbau des Simplicissimus Teutsch sei am fünfaktigen klassischen Drama orientiert (vgl. Abb. 1 im Anhang). Scholtes Entwurf blieb die Antwort auf die Frage schuldig, wie Grimmelshausen dazu kommen konnte, die Tektonik der fünf ersten Bücher durch das Anhängen der Continuatio zu zerstören.

Friedrich Gundolf2 hingegen gliederte den Roman in Tumbheit, Narrheit, Sünde, Strafe und Buße, jedoch unter Ausklammerung der nichtnarrativen Textpartien.

"Die Auffassung, daß ein von Tumbheit zu Buße führender Lebensbogen die Grundstruktur des Romans bilde, liegt auch noch dem differenzierten Aufbauschema Alts zugrunde. Dieser geht nicht mehr von der Entwicklung eines Charakters aus, sondern spricht von einer

"Typenfolge", die Simplicius durchmacht (vgl. Abb. 2). Ale sieht im Unterschied zu Scholte "die Übergänge von einem Entwicklungsstadium zum anderen jeweils in der Mitte der fünf Bücher des Romans. Gleich bleibt aber das Bemühen, einen kunstvollen symmetrischen Aufbau des Romans aufzuzeigen, ein Strukturschema, das einen Lebensbogen mit Aufstieg und Fall nachzeichnet" (Meid 1984: 141). Derartige Konstruktionen werden nichtsdestoweniger Grimmelshausens Roman nicht gerecht.

111.2. Dem Roman nicht gerecht wird allerdings auch die extreme Gegenposition - der Simplicissimus als parataktische Reihung von "Kalendergeschichten" (Domagalla4) oder als Zusammenfügung von literarischen Formen ohne gemeinsame Eigenart (Lugowski\

"wenngleich sie auf ein entscheidendes Problem aufmerksam macht: die Integration verschiedener literarischer Formen und Traditionen zu einem Romanganzen" (Meid 1984: 141).

1 Jan Hendrik Scholte: Zonagri Diseurs Von Waarsagern. Ein Beitrag zu unserer Kenntnis von Grimmelshausens ..,4rbeitslA,leise in seinem E\vig'"värtienden Calender mit besonderer Berücksichtigung des Eingüngs des

Abentheuerlichen Simplicissimus. Amsterdam 1921.

2 Friedrich Gundolf: "Grimmelshausen und der Simplicissimus" (1923). In: Der Simplieissimusdiehter und sein Werk. Hg.v. Günther Weydt. Darmstadt 1969. S. 111-132.

3 Johannes Alt: Grimmelshausen und der Simplieissimus. München 1936.

4 Leo Domagalla: Der Kalendermann Grimmelshausen und sein Simplicissimus. Diss. Kiel 1942.

5 Clemens Lugowski: "Literarische Formen und lebendiger Gehalt im Simplieissimus." In: Der Simplicissimusdiehter und sein Werk. Hg.v. Günther Weydt. Darmstadt 1969. S. 161-178.

6 Fest steht, dass alle Deutungen des Romans gescheitert sind, denen es um ein ganzheitliches Schema ging. Das andere Extrem jedoch, wie z.B. die von Lugowski vertretene Auffassung, es seien gerade die Widersprüche, die den Roman konstituieren, ihn als satirisches Bild einer widerspruchsvollen Welt auszeichnen, lasse die übergreifende Form der Autobio-graphie außer Betracht. Meid konstatiert daher, dass der Simplicissimus als satirischer (bzw.

niedriger) Roman eine "verkehrte" Welt abbilde:

Wenn eine ,organische' Gestalt oder die konstruktive Geschlossenheit des höfischen Romans als Maßstäbe für den Simplicissimus gelten, kann das Ergebnis nur negativ sein. Dabei widersetzt sich der Simplicissimus als satirischer Roman gerade den ideologischen Postulaten des höfischen Romans (und damit auch seiner Form) und versteht sich als Spiegel einer aus den Fugen geratenen Welt. (ebd.: 142)

Trotz der bunten Formenvielfalt ist das Werk keine bloße Ansammlung literarischer Versatzstücke. Die keineswegs widerspruchsfreie Einheit des Werkes besteht in der Form der fiktiven Autobiographie, welche die Integration von verschiedenen literarischen Formen und scheinbar isolierten Erzähleinheiten ermöglicht. Die Vorstellung, dass einzelne Teil.e ohne Schaden aus dem Werk herausgenommen werden könnten, trifft nach Meids Ansicht daher nur bedingt zu; andererseits wird mit der Forderung einer strikten Interdependenz aller Teile eine Auffassung an den Simplicissimus herangetragen, die ihm nicht angemessen sei (vgl. ebd.).

IV.

Es sollen jetzt außer der Suche nach verborgenen Strukturen die folgenreichen, auf der christlich-mittelalterlichen Bedeutungslehre und auf dem astrologischen Systemdenken beruhenden Versuche einer spirituellen Gesamtdeutung ausführlicher erörtert werden. Gegen alle lassen sich "methodische Einwände" geltend machen. Vorausgeschickt sei, dass die hierher gehörende von Streller formulierte "Theorie der Zahlenkomposition Episode blieb [ ... ]"

(Meid 1984: 143).

IV.1. Gegen den naheliegenden Hinweis auf das Verständnis der Welt als mundus symbolicus, d.h. als Sinnbild einer (unsichtbaren) göttlichen Ordnung, die es zu erkennen und auszulegen gilt, ist einzuwenden, dass diese Sicht im 17. Jahrhundert nicht mehr ungebrochen existiere.

Dieser Einwand betrifft sowohl Versuche einer spirituellen Gesamtdeutung als auch Versuche einer Anwendung der mittelalterlichen Methode der Bibelinterpretation, d.h. der Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn, auf Grimmelshausens Werk, weil "die Voraussetzungen dieser Denkweise nicht mehr gegeben sind, denn bei Grimmelshausen ,entstammen die Allegoresen seiner eigenen Phantasie,,·6 . Damit wird eine wesentliche Bedingung der mittelalterlichen Methode der Schriftexegese außer Acht gelassen, bei der es sich nämlich nicht um eine willkürliche, mehrdeutige dichterische Setzung handelt, "sondern um ,die Enthüllung des bei der Schöpfung in der Kreatur versiegelten Sinns der Sprache Gottes, um re velatio , um eine spiritualis notificatio [ ...

l,

die aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher

6 Meid (1984: 144) zitiert an dieser Stelle Feldges (1970: 265).

7 Verkündigung vernimmt' (Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In:

Zeitschrift für deutsches Altertum 89, 1958/59, S. 9f.)". Von der Hand gewiesen wird auch Tarots Versuch, den Roman als Moralsatire auszulegen, "eine Satire, die einzig darauf gerichtet sei, am Exempel des Simplicius menschliches Fehlverhalten aufzuzeigen". Kurzum:

"Angesichts dieser Widersprüche zwischen mittelalterlich-spirituellem Weltverständnis und einer neuzeitlichen Welthaltung ist der Simplicissimus ein untaugliches Objekt für spirituelle Gesamtdeutungen" (vgl. Meid 1984: 143ff; beide Zitate: 144 u. 145).

IV.2. "Den konsequentesten Versuch, eine verborgene Struktur des Romans aufzudecken"

(ebd. 145), hat schließlich Günther Weydt unternommen, der von einem sich an den christlich-kosmischen Vorstellungen orientierenden, astrologisch-alchemistischen Denken ausgegangen ist und Grimmelshausens Ewig-währenden Calender von 1671 (bereits 1670 gedruckt) als Anleitung zur Exegese von Grimmelshausens Werk herangezogen hat. Weydts Modell steht in der Tradition der zahlreichen, einander zum Teil widersprechenden Interpretationen, denen es nicht gelungen war, die verschiedenen Aspekte des Romans einer Gesamtkonzeption unterzuordnen und ein übergreifendes Kompositionsprinzip nachzuweisen. Das Kompositionsprinzip besteht nach Weydt in einer Reihung einander ablösender und dabei sich auch überschneidender Planetenphasen (vgl. Abb. 3). Trotz der unbestrittenen Tatsache, dass im Roman astrologische Anspielungen vorkommen, fragt es sich, ob sich ihre Funktion von der zahlreicher anderer Anspielungen und Zitate unterscheidet. Der schwächste Punkt des Planetenmodells liegt in der Abgrenzung der mythologischen und astrologischen Bedeutung derartiger Erwähnungen und Anspielungen. "Denn Voraussetzung für die astrologische Interpretation ist der Nachweis, daß die astrologische und nicht die mythologische Bedeutungsschicht ausschlaggebend ist" (Meid 1984: 148f). Hinzu kommt, dass die ausdrücklich astrologischen Anspielungen nicht sehr häufig sind und in vielen Fällen gerade die mythologische Bedeutungsschicht vorherrscht. Eine stringente Widerlegung der ,Planetentheorie' ist andererseits aber auch nicht möglich, hauptsächlich wegen der Vieldeutigkeit der zahllosen Romanepisoden und -motive.

Obgleich das Konzept alle wichtigen Interpretationsansätze verbindet, d.h. Tektonik des Aufbaus, Symmetrie, Typenfolge, ,Entwicklung' (in Anführungszeichen), Zahlensymbolik usw.

und obgleich die astrologische Interpretation ebenfalls von ,weltanschaulichem Gehalt' her traditionelle Auffassungen bestätigt, nämlich dass der Roman von der Unbeständigkeit der Welt handelt und sowohl das Buch als auch der Lebenslauf des Haupthelden eine kreisförmige Struktur aufweist, führt die astrologische Interpretation auffallend von bedeutenden Aspekten des Romans hinweg - zum Beispiel von den satirischen und sozial kritischen Momenten (vgl. \ Meid 1984: 149f).

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